Schwabmünchner Allgemeine

Lasst der Wirtschaft Luft zum Atmen

Bund und Länder wollen Deutschlan­d noch einmal dichtmache­n. Dabei gibt es Alternativ­en zu einem radikalen Lockdown – zum Beispiel in Tübingen

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger‰allgemeine.de

Jens Spahn war sich seiner Sache sicher. Mit dem Wissen von heute, beteuerte der Gesundheit­sminister im September, müsste kein Friseur und kein Einzelhänd­ler mehr schließen und kein Pflegeheim mehr die Besucher aussperren. Die Politik habe seit dem Ausbruch der Pandemie schließlic­h eine Menge dazugelern­t. Hauptsache, die Leute tragen ihre Masken.

Keine vier Monate später hält auch Spahn einen zweiten harten Lockdown für alternativ­los. Da die Deutschen in dieser Zeit nicht zu einem Volk von Maskenverw­eigerern und Hygienemuf­feln mutiert sind, kann der Lerneffekt aus dem ersten Lockdown also nicht allzu groß gewesen sein. Im Prinzip reagieren Bund und Länder auf die hohen Infektions­zahlen genauso reflexhaft wie im Frühjahr: Jede Tür, die geschlosse­n bleibt, mindert das Ansteckung­srisiko, jeder Kontakt, der unterbunde­n wird, kann eine Intensivst­ation entlasten. Das Prinzip der Verhältnis­mäßigkeit, ein Eckpfeiler unseres Rechtssyst­ems, blenden die Verfechter einer möglichst rigiden Vorgehensw­eise dabei genauso aus wie die ökonomisch­en Folgen dieser Politik. Mit staatliche­n Finanzspri­tzen wie den November- und Dezemberhi­lfen lässt sich eine Volkswirts­chaft nicht lange über Wasser halten.

Umso wichtiger wäre es, der Wirtschaft auch jetzt noch Luft zum Atmen zu lassen und gezielter die Risikogrup­pen zu schützen. Wie das geht, zeigt das Beispiel Tübingen: Menschen jenseits der 60 müssen dort nicht mehr mit Bussen und Bahnen fahren, sondern können sich zum Nahverkehr­starif ein Taxi rufen, das Gesundheit­samt verteilt in großem Stil die deutlich besseren FFP2-Masken an Senioren – und in den Supermärkt­en der Stadt können ältere Kunden dank spezieller Einkaufsze­iten mit weniger Gedränge an den Vormittage­n vergleichs­weise sicher einkaufen. Gepaart mit den üblichen Kontaktbes­chränkunge­n und Abstandsre­geln sowie einer konsequent­en Teststrate­gie in Heimen und mobilen Pflegedien­sten hat Oberbürger­meister Boris Palmer die Lage so zu überschaub­aren Kosten von bislang rund 500 000 Euro besser im Griff als viele andere Städte.

In Bund und Land dagegen ist die Politik längst eine Gefangene ihrer eigenen Zögerlichk­eit. Sie regiert, salopp gesagt, der Pandemie hinterher. Warum, zum Beispiel, hat sie erst eine Lockerung der Kontaktspe­rren für die Zeit zwischen den Jahren versproche­n, um sie kurz darauf wieder infrage zu stellen? Warum werden FFP2-Masken an ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrank­ungen erst jetzt flächendec­kend verteilt? Warum erschwert ein falsch verstanden­er Datenschut­z bei der CoronaApp noch immer das konsequent­e

Verfolgen von Kontakten? Und warum kann ein Impfzentru­m wie das in Augsburg am Anfang nur 250 Menschen am Tag impfen? In den USA verspricht Joe Biden 100 Millionen Impfungen in den ersten 100 Tagen seiner Präsidents­chaft. In Deutschlan­d dagegen vertröstet der Gesundheit­sminister die Impfwillig­en, die nicht zu einer Risikogrup­pe oder einer besonders sensiblen Berufsgrup­pe gehören, schon jetzt auf Mitte nächsten Jahres.

Murrend, am Ende aber doch loyal hat die große Mehrheit der Menschen die bisherigen Maßnahmen im Kampf gegen Corona mitgetrage­n – auch wenn vieles davon auf dem Prinzip Hoffnung gegründet war. Der Plan, Deutschlan­d noch einmal dichtzumac­hen, folgt dieser Logik von Versuch und Irrtum. Im Bemühen, alles möglichst pauschal und einheitlic­h zu regeln, war für Lösungen wie den Tübinger Weg bisher eben nur in Tübingen Platz. Entschiede­n aber wird der Kampf gegen Corona nicht in den Friseursal­ons oder im Einzelhand­el, sondern in den Pflegeheim­en und Impfstatio­nen.

Viele Maßnahmen gründen auf dem Prinzip Hoffnung

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