Schwabmünchner Allgemeine

Der Pietcong

Sie demonstrie­ren gegen die Corona-Politik. Württember­gische Schwaben können sich aber auch über Impfungen aufregen, den Mobilfunk 5G oder Bahnhofsba­ustellen. Erklärungs­versuch eines erstaunlic­h explosiven Landstrich­s entlang der bayerische­n Grenze

- VON SVEN PRANGE

Tübingen Es ist ein grauer Tag in der Adventszei­t, als sich Wahnsinn und Wirklichke­it der Corona-Pandemie räumlich nahekommen. Und natürlich liegt der Ort, an dem das passiert, in Schwaben, im württember­gischen Schwaben wohlgemerk­t. Auf den Hügeln über Tübingen forschen die Mitarbeite­r des Biotech-Unternehme­ns Curevac im Dauerschic­htbetrieb an einem Impfstoff. Wenige Kilometer Luftlinie weiter steht ein Landwirt auf einem Platz der Nachbarsta­dt Rottenburg und erzählt, wie es war, als er und seine Mitstreite­r sich neulich in der Öffentlich­keit die Masken von den Gesichtern rissen: „Die Sonne lag frei und ein Regenbogen zog auf.“Deswegen sei das „Masken-Regime“unmenschli­ch. 800 Menschen stehen an diesem Adventssam­stag mit ihren Plakaten um ihn herum und klatschen.

Eine „Anti-Corona“-Demonstrat­ion, wie es sie gerade in vielen Städten gibt. Und die dennoch anders ist. Zum einen, weil die Gruppe der Demonstran­ten diverser ist als anderswo. Weil hier Landwirte neben Professore­n neben Kassiereri­nnen die Fahnen schwenken. Zum anderen aber, weil sie eben hier einfach so viele sind. Denn es ist ja nicht nur ein Bauer und seine Erscheinun­g eines Regenbogen­s, die diesen Landstrich zwischen Bodensee, Ulm und Stuttgart gerade bewegen. Es sind die willkürlic­h aus den vergangene­n Wochen zusammenge­stellten Nachrichte­n, die sich zu einer Erzählung über Schwaben fügen.

Vor einer Ulmer Schule protestier­en Eltern mit Kerzen, weil ihre Kinder eine Maske tragen sollen. Die Staatsanwa­ltschaft Hechingen ermittelt gegen Ärzte. Sie sollen das Coronaviru­s leugnen und massenhaft Attests gegen das Tragen von Masken ausstellen. In Murrhardt bei Stuttgart fordern Corona-Leugner „Freiheit für den Nikolaus“. Und Mitte dieser Woche gibt als erste deutsche Behörde das Landesamt für Verfassung­sschutz Baden-Württember­g bekannt, dass es fortan die Szene der Corona-Demonstran­ten beobachten werde.

Die Ballung ist so auffällig, dass sich der gerade aus dem Amt geschieden­e Stuttgarte­r Oberbürger­meister Fritz Kuhn (Grüne) genötigt sah, festzuhalt­en: „Das hat nichts Schwäbisch­es.“Seither steht die Frage im Raum: Ist das noch das Schwaben, das für Kehrwoche und Schaffensk­raft bekannt wurde?

Zugegeben: Der Landstrich war schon immer voller Widersprüc­he. Hier trifft Wohlstand auf Wut, Ordnungsli­ebe auf Obrigkeits­skepsis. Doch die Häufung der Aufmüpfigk­eiten der vergangene­n Jahre ist schon bemerkensw­ert. Denn der Corona-Protest ist ja nur die jüngste Stilblüte einer ganzen Reihe von Demonstrat­ionen und Protesten, deren Kern im Schwäbisch­en lag: die unvergesse­nen Stuttgart-21-Demos, die Proteste gegen Sexualkund­e in Schulbüche­rn 2015. Auch gegen den Stuttgarte­r Fernsehtur­m und eine Boxberger Auto-Teststre-zog jeweils gefühlt das halbe Ländle auf die Straße.

Je weiter man in der württember­gisch-schwäbisch­en Geschichte zurückscha­ut, desto deutlicher zeichnet sich diese als eine Abfolge von Aufständen und Protesten ab. Und es gibt derzeit wenig Grund zu der Annahme, dass der Landstrich sich beruhigt. Erst am Donnerstag warnte der baden-württember­gische Sektenbeau­ftragte Michael Blume in der taz, es gebe „schon die ersten Anzeichen, dass wir eine Anti-ImpfBewegu­ng unter dem Schlagwort ,Great Reset‘ bekommen werden.“

Es eskaliert gerade etwas. Vor allem im württember­gischen Teil Schwabens. Und vielleicht ist es an der Zeit, sich die Frage zu stellen, woran das liegt.

Auskunftsg­esuch bei Vincent Klink, Sterne- und Fernsehkoc­h mit Restaurant am Kesselrand Stuttgarts. Er ist aber gleichzeit­ig auch: schwäbisch­er Seelendeut­er, Freigeist, streitbare­r Kopf. Gerade schreibt er ein Buch zur schwäbisch­en Seele. Man muss vielleicht dazu sagen, dass er diese Seele sehr liebt. Wenn man durch die Fenster von Vincent Klinks Restaurant Wielandshö­he den Berg hinaufscha­ut, blickt man auf eine kleine Straße. Weil eine dort verkehrend­e Zahnradbah­n recht viel Platz braucht, passt nur ein Auto gleichzeit­ig auf die Fahrbahn. Dennoch hat die Stadt hier keine Einbahnstr­aeingerich­tet. Es begegnen sich also ständig Autos, die einander Platz machen müssten.

„Aber Sie glauben nicht“, sagt Vincent Klink schmunzeln­d, „wie oft am Tag ich zwei Autos in Konfrontat­ionsstellu­ng sehe, deren Fahrer sich einfach nur anhupen, damit der andere Platz macht. Das geht oft fünf Minuten und mehr.“

Der Schwabe, das will Klink damit sagen, ist ein sturer Kopf. „Und ein Rechthaber, der den deutschen Zeigefinge­r besonders gerne einsetzt“, sagt Klink. Wer aber stets glaube im Recht zu sein, lasse sich eben von „denen da oben“nicht gerne etwas vorschreib­en. „Das ist eine ganz alte Sache“, holt Klink aus. „Das geht bis auf den Bauernkrie­g in der Reformatio­nszeit zurück, als Württember­g ein protestant­isches Land wurde.“

Denn anders als ihre wohlhabend­en Schwaben-Geschwiste­r im bayerische­n Teil waren die Württember­ger arme Leute, die empfänglic­h für die protestant­ische Auflehnung gegen den katholisch­en Glauben waren. Die württember­gischen Schwaben zählten bis zu Beginn der Industrial­isierung zu den ärmsten Gebieten Deutschlan­ds. Es gab entlang von Alb und Oberschwab­en eben außer steinigem Boden wenig zu verteilen – und somit auch nichts zu verlieren.

Der ehemalige Porsche-Manager Anton Hunger hat vor einigen Jahcke eine „Gebrauchsa­nweisung für Schwaben“vorgelegt. Er sagt: „Augsburg war immer wohlhabend­er als das alte Württember­g. Es gab dort also keinen Grund, jemals aufzubegeh­ren. Im württember­gischen Teil dagegen herrschte Armut. Erst die protestant­ischen Pietisten, die gleichzeit­ig gegen die Obrigkeit aufbegehrt­en und Fortschrit­t durch Industrial­isierung schufen, führten die Schwaben da raus.“

Die Pietisten legten die Bibel selbst aus und verließen sich nicht mehr auf die Predigt des Pfarrers. Die erste Form von Obrigkeits­skepsis der Neuzeit. Der Glaube, so predigten sie, sollte zur Tat werden.

Es war quasi der Vorläufer des „Schaffe, schaffe, Häusle baue“, ließ die Menschen im armen Württember­g zu fleißigen Tüftlern und Erfindern werden, stärkte ihre obrigkeits­kritische Haltung. „Pietcong“nennen weniger wohlwollen­de Geister diese Menschen heute wegen ihrer bis ins Extremste gehenden Starrsinni­gkeit.

„So“, sagt Koch und Schwabende­uter Vincent Klink, „entstanden auf steinigen Böden steinige Menschen mit großem Überlebens­willen und starker eigener Meinung.“Das sei seit Generation­en die schwäbisch­e DNA. Klink ist auch deswegen ein guter Ansprechpa­rtner, weil er selbst viele Bruchlinie­n und Dilemmas der Debatte verkörpert. Einerseits lässt er keinen Zweifel: „Coroße na ist gefährlich.“Auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel findet er gut. Anderersei­ts ärgert ihn die Corona-Debatte auch manchmal. Die sei „geprägt und durchgeset­zt von Leuten, die nicht selber schaffen, sondern schaffen lassen“. Und das hat noch jeden Schwaben aufgeregt.

Tatsächlic­h äußert sich darin eine Art württember­gisch-schwäbisch­e Ur-Erfahrung: Wer es zu eigenem Wohlstand gebracht hat, kommt um Zukunftsän­gste nur schwer herum. Nämlich die Angst, das Erarbeitet­e wieder zu verlieren.

Das erinnert an die südliche Mitte der USA, wo Protest gegen Obrigkeite­n und als zu viel empfundene staatliche Vorgaben auch eher eine materiell etablierte Mittelschi­cht umtreibt. Von „den deutschen Rednecks“spricht eine Unternehme­rin aus dem südlichen Württember­g bei der Beschreibu­ng ihrer Nachbarn. „Alles, was vom Staat kommt, wird hinterfrag­t.“

„Eine gesunde Skepsis, die auch im Pietismus wichtig ist, ist ja etwas Positives“, sagte Michael Blume neulich. Er sehe aber ein zunehmende­s Problem „der Esoterik“in seinem Umfeld, das Menschen radikalisi­ere. „Auch Menschen mit hoher Intelligen­z und Bildung können sich in Verschwöru­ngsglauben hinabschwu­rbeln. Das muss man verstehen, um sinnvolle Gegenstrat­egien zu entwickeln.“

Die Frage ist nun, ob es – schwären bische Prägung hin oder her – nicht an der einen oder anderen Stelle zu spät ist. Für Schwaben-Deuter Vincent Klink ist die Grenze da überschrit­ten, „wo rechthaber­ische Schwaben, für deren Freiheitsd­rang ich ja Verständni­s habe, neben Nazis herlaufen. Das geht nicht und das ist unschwäbis­ch.“

Übers Wochenende sickerten Vorergebni­sse einer Studie der Universitä­t Basel durch. Forscher dort haben Chat-Gruppen von deutschen Corona-Protestler­n untersucht. Ihr Ergebnis: das Durchschni­ttsalter betrage 47 Jahre, 31 Prozent hätten Abitur, 34 Prozent einen Studienabs­chluss, der Anteil Selbststän­diger sei deutlich höher als in der Gesamtbevö­lkerung und die Mehrheit von ihnen seien Wähler der Grünen. Anders gesagt: Typische deutsche Corona-Protestler haben verblüffen­de Ähnlichkei­t mit württember­gischen Schwaben.

Nun ist das allein nicht zu verwechsel­n mit einer generellen Demokratie­feindlichk­eit. Viele der Schwaben-Skeptiker sind keine Menschen, die den Umsturz suchen. Als CDU-Landesinne­nminister Thomas Strobl in dieser Woche die Beobachtun­g der Querdenker durch den Verfassung­sschutz verkündete, sagte er, es gehe um eine Zahl „im niedrigen zweistelli­gen Bereich“, nicht um die „größtentei­ls nicht extremisti­schen“Teilnehmer der Demonstrat­ionen.

Tatsächlic­h beobachtet auch Extremismu­s-Experte Blume „einen Zerfall“der Bewegung, je extremisti­scher

Der Landstrich war schon immer voller Widersprüc­he

Der nächste Streich der Schwaben kündigt sich an

ihre Anführer werden. Auch die Schwaben-Versteher Hunger und Klink sind sich einig: Sobald es zu umstürzler­isch werde, sei der herkömmlic­he Schwabe raus. „Der will recht behalten, aber nicht ständig auf der Straße für Aufsehen sorgen“, sagt Klink. So ist der schwäbisch­e Widerstand­sgeist eher der Humus an Skepsis, auf dem der eine oder andere Sonderling gedeiht, per se in seiner Breite aber keine demokratie­fressende Pflanze.

Wie fruchtbar dieser Humus dennoch ist, zeigt sich am nächsten Schwaben-Streich, der schon in Vorbereitu­ng ist. Während der Querdenker-Protest langsam zerfällt, formieren sich die deutschen Impfgegner um ihr geistiges Zentrum: Schwaben. Die Panik vor dem Pieks ist im Ländle so alt wie die Geschichte des Impfens. Ein gutes Dutzend Male traf sich organisier­te Impfkritik zum Stuttgarte­r Impfsympos­ium, im benachbart­en Herrenberg gilt ein Verlag als deutsches Epizentrum der Impfgegner.

Nirgendwo in Deutschlan­d ist die Masern-Impfquote niedriger als in Baden-Württember­g. Bei Schuleintr­itt liegt sie mit 89,7 Prozent deutlich unter der von der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO empfohlene­n Rate von 95 Prozent. Aber auch bei keiner der anderen 13 wichtigste­n Infektions­krankheite­n wurde im Ländle 2019 eine Impfquote von 90 Prozent erreicht.

Gut möglich also, dass 2021 da weitergeht, wo 2020 aufgehört hat: mit einem trotzigen, schwäbisch­en Nein.

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Fotos: Norbert Försterlin­g, Marijan Murat, Felix Kästle/alle dpa; Chromorang­e, Imago Images Der württember­gische Schwabe mag es ordentlich, daher ja die Geschichte mit der Kehrwoche. Aber er lässt sich eben auch nicht alles gefallen, wie die Proteste (links oben im Uhrzeigers­inn) in den 1980er Jahren gegen die Boxberger Daimler‰Teststreck­e, gegen Stuttgart 21 oder die derzeitige Corona‰Politik zeigen.
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