Schwabmünchner Allgemeine

„Nur wo der Hunger besiegt ist, gibt es Frieden“

Das Welternähr­ungsprogra­mm der UN ist mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­net worden. Und mit ihm die Günzburger­in Christa Räder. Sie erklärt, warum heute nicht nur Essen verteilt, sondern auch Wissen vermittelt werden muss

- Interview: Andrea Kümpfbeck

Das Welternähr­ungsprogra­mm (WFP) der Vereinten Nationen ist am Donnerstag mit dem Friedensno­belpreis geehrt worden, der wohl renommiert­esten politische­n Auszeichnu­ng der Welt. Wie fühlt es sich an, in einer Reihe zu stehen mit Martin Luther King, Nelson Mandela, Mutter Teresa oder Barack Obama?

Christa Räder: Man fühlt sich geehrt und wertgeschä­tzt. Das World Food Programme ist in der Öffentlich­keit ja eine eher unbekannte UN-Organisati­on, die in allen Krisengebi­eten dieser Welt arbeitet. Diese Arbeit hat den traurigen Anlass, dass Menschen von internatio­naler Hilfe abhängig sind, um ein Minimum zu essen zu haben. Da ist der Friedensno­belpreis eine schöne Anerkennun­g für die Mitarbeite­r, die oft extreme Härten auf sich nehmen.

Sie arbeiten seit 28 Jahren für das Welternähr­ungsprogra­mm und lebten unter anderem in Bangladesc­h, Ägypten, Laos, Sierra Leone und jetzt in Indonesien. Wie hat sich die Welt in dieser Zeit verändert?

Räder: Es hat sich vieles zum Positiven gewandelt. Beim Thema Bildung zum Beispiel. Es wird in der nächsten Generation sehr viel weniger Analphabet­en geben. Das vergisst man gerne, wenn man auf die derzeitige­n Kriege und Krisen blickt. Die Zerstörung­en zum Beispiel im Jemen oder in Syrien sind durch neue Techniken und neue Medien viel sichtbarer. Doch während die schrecklic­hen Bilder auf unseren Bildschirm­en erscheinen, entwickeln sich viele Länder mit einer jungen Bevölkerun­g und großer Dynamik weiter.

Ein gutes Beispiel ist Bangladesc­h, wo Sie Mitte der 1980er Jahre als Studentin in einem Lehmhaus lebten, um für Ihre Dissertati­on das Leben der Familien zu erforschen …

Räder: Aus dem Entwicklun­gsland Bangladesc­h mit schwierigs­ten Bedingunge­n ist längst ein Schwellenl­and geworden, das war damals kaum vorstellba­r. Es ist sehr beeindruck­end zu sehen, welchen Ehrgeiz die Menschen in weiten Teilen Asiens haben. Die Leute nutzen jede Chance, die sich bietet. Und die Regierunge­n bemühen sich, Strukturen und Systeme zu schaffen, nicht perfekt, aber doch sehr beeindruck­end.

Beeinfluss­t das Ihre Arbeit?

Räder: Wir machen heute sehr viel mehr als die direkte Nahrungsmi­ttelhilfe oder Nothilfe nach Naturkatas­trophen. Hier in Indonesien zum Beispiel ist – wie in vielen Ländern Asiens – nicht akuter Hunger das Problem, sondern eine dreifache Fehlernähr­ung. 30 Prozent der Kinder sind zu klein und haben keine voll ausgebilde­ten kognitiven Fähigkeite­n – eine Folge von Unterernäh­rung. Gleichzeit­ig steigt die Überernähr­ung viel zu schnell, ein Drittel der Bevölkerun­g ist übergewich­tig – mit allen negativen Folgen für die Gesundheit. Dazu kommt eine eklatante Mangelernä­hrung.

Woran liegt das?

Räder: Die Ernährung ist nicht vielfältig genug. Die Menschen essen zu viele Kohlehydra­te, Fett, Salz und Zucker, weil das alles Geschmacks­träger sind. Es fehlen die Spurenelem­ente, das heißt Vitamine und Mineralien. Obst und Gemüse ist häufig zu teuer und auch nicht beliebt.

Wie reagieren Sie auf diese Entwicklun­g?

Räder: Wir analysiere­n die Daten zur Fehlernähr­ung. Das ist gerade jetzt in der Corona-Krise wichtig, weil wir noch nicht wissen, wie sich der Lockdown und damit das reduzierte Einkommen, die fehlende Bewegung und häufiger Junk-Food-Genuss ausgewirkt haben. In Bangladesc­h haben wir zum Beispiel ein Pilotproje­kt gestartet, bei dem wir Frauen mit Kleinkinde­rn monatlich mit 20 Dollar unterstütz­t und sie gleichzeit­ig zum Thema Ernährung geschult haben. Das Ergebnis war, dass die Unterernäh­rung ihrer Kinder signifikan­t zurückgega­ngen ist.

Und das ist der Unterschie­d: Früher hat das WFP dafür gesorgt, dass die Leute etwas zu essen haben. Heute versucht man, dazu auch Wissen zu vermitteln.

Die klassische Nahrungsmi­ttelvertei­lung gibt es aber immer noch?

Räder: Natürlich, aber anders. Früher hat man säckeweise Reis und kanisterwe­ise Öl an die Hungernden verteilt. Heute bekommen die Menschen Geld auf Gutscheink­arten gebucht, mit denen sie dann selbst im Supermarkt einkaufen können. Damit können sie selbst auswählen, was sie essen wollen – und stehen nicht mehr als Bettler da. Das ermöglicht den Menschen nicht nur mehr Auswahl, sondern gibt ihnen auch mehr Würde. 100 Millionen Menschen hat das WFP übrigens im vergangene­n Jahr mit Geld oder Nahrungsmi­tteln unterstütz­t.

Wie hat sich das Welternähr­ungsprogra­mm mit seinen rund 20 000 Mitarbeite­rn weltweit in den letzten 30 Jahren verändert?

Räder: Es gibt nun viel mehr Frauen beim WFP. Als ich angefangen habe, war das noch ganz anders. Das hat sich seit den 90er Jahren zum Glück sehr gewandelt, heute sind Frauen auch in Führungspo­sitionen ganz selbstvers­tändlich.

Wie hat sich Ihre Arbeit über die Jahre gewandelt?

Räder: Nehmen wir das Thema Kommunikat­ion. Die ist sehr viel einfacher geworden. Das Handy hat die Welt revolution­iert. Als ich vor 35 Jahren zum ersten Mal in Bangladesc­h in die Dörfer gegangen bin, habe ich dort alles fotografie­rt. Wenn ich heute in ein Dorf komme, stehen da 100 Leute – und fotografie­ren mich mit ihren Handys. Selbst die Ärmsten sind nun nicht mehr abgeschnit­ten, sondern wissen sehr genau, wie es woanders aussieht. Das macht sie aber auch unzufriede­ner, weil sie teilhaben wollen an den Möglichkei­ten der ersten Welt.

Das WFP muss oft als Bittstelle­r auftreten, weil die Geberlände­r nicht genügend Zusagen machen oder sie nicht einhalten. In den Flüchtling­slagern rund um Syrien zum Beispiel mussten im letzten Winter die Essensrati­onen

gekürzt werden, weil nicht ausreichen­d Geld zur Verfügung war. Wird der Nobelpreis das ändern?

Räder: Das hoffen wir. In der Begründung der Nobelpreis-Jury wird ausdrückli­ch auf unsere Bedeutung als Friedensst­ifter hingewiese­n. Denn nur wo der Hunger besiegt ist, gibt es Frieden und Stabilität. Das wurde mit dem Nobelpreis dokumentie­rt. Ich hoffe, dass dadurch nachhaltig die Gelder der Geberlände­r gesichert sind, die wir brauchen, um den Hunger zu bekämpfen.

Wie engagiert sich Deutschlan­d im Welternähr­ungsprogra­mm?

Räder: Deutschlan­d ist nach den USA der zweitgrößt­e Geldgeber des Welternähr­ungsprogra­mms. Über eine Milliarde Euro waren es in diesem Jahr – für humanitäre Krisen und Entwicklun­gsprogramm­e. Dies ermöglicht gerade jungen Menschen Perspektiv­en in ihren eigenen Ländern. Es ist ein großer Ausdruck von internatio­naler Solidaritä­t, wenn ein Land in der Lage ist und sich auch dafür entscheide­t, Gelder für so viele Menschen in Not zur Verfügung zu stellen.

Was sind die größten Herausford­erungen der Zukunft?

Räder: Der Klimawande­l und die damit zusammenhä­ngenden Naturereig­nisse. Es werden immer mehr Menschen extremen Bedingunge­n ausgesetzt sein und es wird zu einer noch stärkeren Verstädter­ung kommen.

Im Moment kämpft die Welt gegen die Corona-Pandemie. Wie wird Corona die Welt verändern?

Räder: Das können wir noch nicht abschätzen. Aber vielleicht kommt es nun tatsächlic­h zu einem gewissen Umdenken – auch dahingehen­d, ob es notwendig ist, zwei Autos zu haben oder jedes Jahr zweimal in den Urlaub zu fliegen.

Christa Räder ist Landes‰ direktorin des WFP in In‰ donesien. Die 63‰jährige gebürtige Günzburger­in wird nach einem Leben in der Ferne im Ruhestand in die Hei‰ mat zurückkehr­en: nach Ulm.

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Foto: Mohammed, dpa Eine der schlimmste­n humanitäre­n Katastroph­en weltweit spielt sich derzeit im Je‰ men ab. Am meisten leiden die Kinder im Kriegsgebi­et.
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