„Einen Ersatz wird es nicht geben“
Beethoven 250 – das Jubiläum, dem Corona in die Quere kam Geboren wurde der Komponist im Dezember 1770 in Bonn. In der Stadt sind die Feiern weitgehend in den Rhein gefallen. Ein Gespräch mit dortigen Generalmusikdirektor Dirk Kaftan
Am 16. Dezember vor 250 Jahren wurde höchstwahrscheinlich Ludwig van Beethoven geboren. Nachweislich wurde er jedenfalls am 17. Dezember 1770 in Bonn getauft. Was muss nun der Generalmusikdirektor in Beethovens Geburtsstadt und der Chefdirigent des dortigen Beethoven Orchesters auf die Frage antworten: Welche musikalischen Feiern anlässlich des 250. Geburtstags sind denn in den Rhein gefallen?
Dirk Kaftan: So gut wie alle – von der Großveranstaltung bis hin zum High-End-Konzert. Wir konnten zwar gut starten, spielten alle Beethoven-Sinfonien an einem Tag, brachten auch am 1. Januar einen viel diskutierten „Fidelio“heraus und gaben sogar noch ein erstes Gastspiel in Wien. Aber dann war Schluss. Auch kein großes internationales Orchester zu Gast in Bonn wie geplant, keine Arbeitsphase des Bundesjugendorchesters, keine Tournee des Beethoven-Orchesters, auch nicht im Herbst durch China. Und dabei waren wir bis Ende 2020 ausverkauft!
Also keine umschlungenen Millionen. Welcher ideelle Verlust schmerzt Sie dabei am meisten? Was bedauern Sie besonders, das Sie von Beethoven nicht vermitteln konnten?
Kaftan: Das Ziel war, die Relevanz von Musik im Allgemeinen und von Beethoven im Speziellen zu zeigen. Wir wollten die Relevanz von Musik jenseits des etwas verstaubten Begriffs der Hochkultur unter Beweis stellen. Wir wollten einen Sog, ein Lebensgefühl für die Musik entfachen. Das war die Chance. Mein Verständnis und Wille waren, die eigene Stadt anzustecken.
Was kann davon 2021 nachgeholt werden? Eigentlich wäre es doch egal, ob Beethoven im Jahr vor seinem Geburtstag oder im Jahr nach seinem Geburtstag gefeiert und gespielt wird. Kaftan: Ich glaube nicht, dass man da etwas nachfeiern kann. Einen Ersatz für das Ganze wird es nicht geben, das kann nicht nachgeholt werden. Ich glaube, es ist noch gar nicht abzusehen, was in der Luft liegt, wenn der Schock Corona vorbei ist – sowie der Schock für Kulturschaffende, dass bei den Schutzanordnungen ganz allgemein die Kunst, der Breitensport und z. B. das Bordell in einem Atemzug genannt wurden. Ich glaube, es wird ein Neustart nötig sein, der länger nach vorn, länger in die Zukunft gerichtet ist. Es wird eine neue Zeit kommen, die anders zu programmieren ist. Im Übrigen gilt auch: Für das ablaufende Festjahr stellte die Beethoven-Jubiläumsgesellschaft in Bonn erhebliche Mittel zur Verfügung, von denen nur noch ein Teil abrufbar ist. Und: Wir planen ja drei Jahre im Voraus und sind dann auch gegenüber den engagierten Künstlern verpflichtet. Ein Nachholen des Jubiläums würde zu einem logistischen Puzzlespiel, bei dem immer Künstler aus Termingründen fehlen werden. Hinterherweinen hilft aber nicht. Ich konzentriere mich lieber auf neue Projekte, die den geänderten Anforderungen an uns gerecht werden.
Welchen Ersatz gab und gibt es für die Beethoven-Verluste?
Kaftan: Wir haben nach dem Sommer mit einem komplett geänderten Programm wieder angefangen, coronatauglich, vor weniger Publikum, kleinere Orchesterbesetzungen auf Abstand, jeweils vier Aufführungen – ähnlich wie in Augsburg und andernorts auch. Eine Reihe heißt: „Beethoven pur“. Das ist eine Werkschau, bei der seine einzelnen Sinfonien im Detail vorgestellt und besprochen werden, bevor sie dann als Ganzes noch einmal erklingen. Diese Reihe setzen wir fort.
Beethoven ist Ihnen natürlich schon länger ein Begriff. Aber bei der intensiven Wiederbeschäftigung mit ihm anlässlich seines 250. Geburtstags: Was waren für Sie persönlich die überraschendsten Neuerkenntnisse?
Kaftan: Das war einerseits, welches Repertoire Beethoven hier in Bonn als Bratschist der Bonner Hofkapelle rauf und runter spielte – etwa Kompositionen von Paul Wineberger und Josef Reicha –, andererseits die Erkenntnis über die nicht unbedingte Gültigkeit von Urtext-Ausgaben. In der Aufführungspraxis habe ich für mich sehr viele Feinheiten entdeckt, die nicht unbedingt in den Partituren stehen – etwa hinsichtlich Artikulation, Agogik, Tempo, Charakter, Inhalt, Kontext.
Was in Bonn aber nachgeholt wird im kommenden Herbst, ist doch die Uraufführung einer sogenannten zehnten Sinfonie Beethovens, die aufgrund von Entwürfen und Skizzen seiner Hand mit Künstlicher Intelligenz am Computer sozusagen „fertiggestellt“wird. Wie seriös ist das denn?
Kaftan: Der Arbeitskreis von Musikwissenschaftlern und Computerspezialisten ging sehr ehrgeizig an das Projekt. Es ist ein Experiment; ich weiß nicht, ob das Wort „seriös“dafür eine richtige Kategorie ist. Das Projekt ist spannend und ich bin mir sicher, dass es beweisen wird, dass der Mensch nicht überflüssig ist und dass Beethoven nicht überflüssig war. Man wird wahrscheinlich auch nicht zu dem Schluss kommen, dass Beethovens zehnte Sinfonie so und nicht anders geworden wäre.
Dirk Kaftan, 1971 in Mar burg geboren, war von 2009 bis 2014 Generalmu sikdirektor in Augsburg. In dieser Funktion wechsel te er an das Opernhaus Graz, bevor er 2017 Generalmusikdi rektor der Stadt Bonn und des Beet hoven Orchesters Bonn wurde.