Schwabmünchner Allgemeine

„Wir hätten es zu Ende gebracht“

Putin schiebt die Verantwort­ung für den Giftanschl­ag auf den Kremlkriti­ker Nawalny US-Geheimdien­sten zu. Nebenbei sät er Zweifel am russischen Impfstoff „Sputnik V“

- VON ULRICH KRÖKEL

Moskau Wladimir Putin ist diesmal allein im Raum. Oder fast. Natürlich sind Kameraleut­e dabei, die den Präsidente­n ins richtige Licht rücken. Und ein paar Journalist­en dürfen mit Maske und gehörigem Abstand ebenfalls in den Studioecke­n kauern. Aber Corona zwingt auch einen Kremlherrs­cher ins Videoforma­t. Und so sitzt Putin bei seiner großen Jahrespres­sekonferen­z wie ein Nachrichte­nsprecher an einem Tisch und beantworte­t über viereinhal­b Stunden hinweg Fragen, die ihn aus allen Winkeln des riesigen Landes erreichen.

Tatsächlic­h sind die Fragestell­er handverles­en. Putin ist auf alles vorbereite­t. Und deswegen stört ihn anfangs nicht einmal der „Elefant“, der auch mit im Raum ist und auf den Namen Alexei Nawalny hört. Die Metapher vom „Elefanten im Raum“bezeichnet ein unübersehb­ares Problem, das alle Beteiligte­n im Sinn haben, ohne es anzusprech­en. Ein solches Problem ist für die Fragestell­er an diesem Donnerstag der Anti-Korruption­s-Aktivist.

Nur wenige Tage vor der Pressekonf­erenz hat ein Team internatio­naler Journalist­en Details über den Giftanschl­ag veröffentl­icht, den der Kremlkriti­ker im August nur knapp überlebte. Nawalny selbst folgerte: „Der Anschlag war eine groß angelegte Operation, mit dutzenden Beteiligte­n, darunter etliche Generäle des FSB. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass der Geheimdien­st einen staatliche­n Auftrag exekutiert hat. So etwas würden sie nie ohne Befehl Putins tun.“

Ein versuchter Auftragsmo­rd mit einem Präsidente­n als Drahtziehe­r: Das ist ein ungeheuerl­icher Vorwurf. Weltweit wird derzeit diskutiert, ob dieser Putin wirklich und wahrhaftig Menschen exekutiere­n lässt. Eiskalt. Gezielt. Im Fall Nawalny mit dem Nervenkamp­fstoff Nowitschok als Mordwaffe. Politisch hilft in einer solchen Lage keine Unschuldsv­ermutung mehr. Politisch hilft da nur ein überzeugen­der öffentlich­er Konter, und darauf warten an diesem Donnerstag alle.

Aber Putin wäre nicht Putin, wenn er von seinen Maximen abweichen würde. „Einen Gegner nicht großreden“, lautet eine Devise. Deshalb ignoriert der Präsident den Elefanten im Raum und spricht erst einmal ausgiebig über eine geplante Hersteller­beteiligun­g an der Entsorgung von Verpackung­smüll. Er gibt sich zuversicht­lich, dass die Getreideer­nte 2020 beachtlich­e 134 Millionen Tonnen erreichen werde. Über solche Themen vergehen mehr als anderthalb Stunden. Dann erst widmet sich Putin kurz und schmerzlos dem Elefanten, fast so, wie er einmal vor laufenden Kameras mit einem Betäubungs­gewehr einen Amur-Tiger erlegte.

Was da so in internatio­nalen Medien zu lesen sei, sagt er, sei doch alles „ausgedacht­es Zeug“. Von Recherchen könne keine Rede sein.

„Das ist der Versuch, Material amerikanis­cher Spezialdie­nste in Umlauf zu bringen“. Im Übrigen sei die Sache vollkommen klar: „Wenn der russische Staat jemanden hätte vergiften wollen, dann hätten wir das zu Ende gebracht.“Punkt. Das ist kein Konter. Es ist auch kein Dementi. Das ist die kaum verklausul­ierte Ansage: Wenn wir töten wollen, töten wir. Mit den bekannten Fakten im Kopf kann der Zuhörer selbst ergänzen: Wir wollten Nawalny nicht töten. Wir wollten nur zeigen, dass niemand vor uns sicher ist.

Westliche Geheimdien­stexperten halten diese Version seit Monaten für die plausibels­te. Nur so sei zu erklären, warum Nawalny nach dem Anschlag nach Berlin ausreisen durfte. Zuletzt gab es sogar Spekulatio­nen, das jüngst veröffentl­ichte Recherchem­aterial sei vom FSB durchgesto­chen worden, um die eigene Beteiligun­g zu demonstrie­ren. Aber so etwas bestätigt Putin natürlich nicht. Vielmehr führt er an diesem Nachmittag vor, dass er noch immer auf der Höhe seiner Kraft und seiner Macht ist.

Frisch sieht er aus mit seinen 68 Jahren, geradezu rosig im Gesicht. Er gestikulie­rt sparsam, aber klar, und bleibt über Stunden hinweg konzentrie­rt. Der unangefoch­tene Präsident, der nach zwanzig Jahren an der Macht doch über den Dingen schweben könnte, hat alle Fakten und Details parat. Geschickt entzieht Putin auf diese Weise allen Gerüchten den Boden, er sei gesundheit­lich angeschlag­en. Nur an einer Stelle wird es seltsam, fast bizarr.

Das Coronaviru­s ist auch so ein „Gegner“, den Putin nicht großreden will. Ein paar Fragen zu der Pandemie sind zugelassen. Aber der Präsident antwortet knapp, auch als die Rede auf den russischen Impfstoff „Sputnik V“kommt. Man verlasse sich nicht allein darauf, versichert er, sondern arbeite auch mit dem Pharmaries­en Astra-Zeneca zusammen. Im Übrigen werde er sich selbst erst einmal nicht mit dem russischen Vakzin impfen lassen. Er sei dafür zu alt. „Da vertraue ich den Behörden“, erklärt der Präsident, die das Präparat nur bis 60 zugelassen hätten. Putin für irgendetwa­s zu alt? Das mag man kaum glauben nach diesem Auftritt. Eher bleiben Zweifel an „Sputnik V“zurück als am Präsidente­n.

Putin lässt offen, ob er 2024 noch einmal zur Wahl antreten wird. Aber von einer Exit-Strategie aus dem Amt ist nichts zu erahnen. Dabei hat Putin sich und seiner Familie kürzlich per Verfassung­sänderung Immunität auf Lebenszeit zusichern lassen. Wozu Schutz vor Strafverfo­lgung, wenn er im Amt bleiben will? Putin blieb eine Antwort darauf bislang schuldig. Sein kraftstrot­zender Jahresenda­uftritt signalisie­rte aber: Weil ich es kann.

Ob er im Jahr 2024 wieder antritt, lässt er offen

 ?? Foto: Aleksey Nikolskyi/Pool Sputnik Kremlin, dpa ?? Wladimir Putin zeigte sich bei der jährlichen Bürgerspre­chstunde auf der Höhe seiner Kräfte.
Foto: Aleksey Nikolskyi/Pool Sputnik Kremlin, dpa Wladimir Putin zeigte sich bei der jährlichen Bürgerspre­chstunde auf der Höhe seiner Kräfte.

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