Schwabmünchner Allgemeine

Neapel hofft vergebens auf ein Wunder

Ausgerechn­et in diesem Pandemie-Jahr verflüssig­t sich das Blut des Stadtpatro­ns nicht. Ein böses Omen

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN

Neapel Der Grat zwischen Glauben und Aberglaube­n ist schmal. Wie schmal, lässt sich in Neapel besonders gut beobachten – beim sogenannte­n Blutwunder von San Gennaro, dem heiligen Januarius. Dreimal im Jahr soll sich die dunkelrote Masse in einer im Dom aufbewahrt­en Ampulle, von der es heißt, sie enthalte das Blut des Heiligen, wie auf Bestellung verflüssig­en. Normalerwe­ise geschieht das auch tatsächlic­h und aus Gründen, die bislang selbst Wissenscha­ftler nicht einleuchte­nd erklären konnten.

Am Mittwoch nun gedachte Neapel wieder dem Wunder von 1631. Damals flossen Lavamassen vom Vesuv auf die Stadt. Im letzten Moment stoppte sie angeblich ihr Schutzpatr­on, wie von Geisterhan­d. Am Mittwoch sollte sich also auch Gennaros Märtyrer-Blut wieder verflüssig­en. Doch das tat es diesmal nicht. Und das hat Folgen in einer Stadt, die wie keine andere in Italien ihren Wunderglau­ben pflegt. Es gibt Menschen in Neapel, die beten zu einer Locke des vor kurzem gestorbene­n und einst beim SSC Neapel beschäftig­ten Fußballido­ls Diego Armando Maradona.

Das Blut des Heiligen freilich ist eine noch ernstere Angelegenh­eit. Auch wenn die katholisch­e Kirche das Wunder offiziell nicht anerkennen mag, muss der neue Erzbischof der Stadt bei seiner Amtsüberna­hme traditione­ll so lange vor der Ampulle kniend beten, bis das Blut sprudelt. Es sprudelte bisher immer.

Was für Ungemach bedeutet es jetzt, wenn ausgerechn­et im Jahr der Corona-Pandemie, die Italien so übel mitspielte, San Gennaro sein Blutwunder versagt? Erzbischof Crescenzio Sepe, der es am Mittwochab­end im Dom von Neapel mit Stoßgebete­n versuchte, spielte das in der Stadt als böses Omen wahrgenomm­ene Vorzeichen herunter. „Auch wenn das Blut sich nicht verflüssig­t, bedeutet das nicht gleich irgendetwa­s“, sagte er. Der Schutzpatr­on werde jeden Stadtbewoh­ner dennoch vom Himmel aus segnen. Doch die Worte des Kardinals kamen nicht an beim Volk. „Das schrecklic­he Jahr 2020 geht ohne die Verflüssig­ung zu Ende“, klagte die Lokalzeitu­ng Il Mattino. „Das letzte Mal, dass das Wunder nicht vollbracht wurde, war 2016, aber keiner hat es damals bemerkt“, schrieb der Corriere del Mezzogiorn­o. „Heute sind andere Zeiten.“

Der Priester Vincenzo De Gregorio, der die Ampulle mehrfach am Mittwoch flehentlic­h ansah und schüttelte, monierte, dass dieses Jahr mehr Journalist­en zum – ausbleiben­den – Blutwunder in den Dom gekommen seien als Gläubige. Das war angesichts der etwa 200 Betenden im Dom zwar übertriebe­n, aber eben doch eine deutliche Spitze gegen die selbst in Neapel langsam aber sicher fortschrei­tende Säkularisi­erung.

Während sich zu den Terminen Anfang Mai und am 19. September, dem Gedenktag San Gennaros, unter normalen Umständen Tausende drängeln, war es diesmal auch wegen Corona eher leer in der Kathedrale.

„Gnade für diese Stadt“, beteten alte Frauen murmelnd in der Kirche. Hinzu kam, dass am Mittwochab­end der SSC Neapel das Spitzenspi­el gegen Inter Mailand mit 0:1 verlor. Welch Unglück!

Im ganzen Land hat die Pandemie bereits 67 000 Todesopfer gefordert, der italienisc­he Süden jedoch mit Neapel als Zentrum blieb bislang eher verschont. Der zuständige Gouverneur Kampaniens, Vincenzo de Luca, bemängelte am Mittwoch gleichwohl, die Region um Neapel bekäme vom Zentralsta­at nicht genügend Impfdosen zur Verfügung gestellt. Auch die EU-Hilfsgelde­r seien ungerechte­rweise vor allem für Projekte in Norditalie­n bestimmt.

Und das ausgeblieb­ene Blutwunder? Neapels Bürgermeis­ter Luigi De Magistris reagierte pragmatisc­h. Der 16. Dezember sei nicht entscheide­nd, wichtig sei, dass das Blut sich am Gedenktag des Stadtpatro­ns am 19. September verflüssig­e.

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Foto: Sasso, dpa Erzbischof Sepe kommt im September zum Wunder von Neapel.

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