Schwabmünchner Allgemeine

Schicksale

Wie Solo-Selbststän­dige auf das Krisenjahr blicken

- Aufgezeich­net von Tom Kroll

Tatjana Stieglitz, 52, betreibt einen Stand auf der Augsburger Dult und zieht von Markt zu Markt:

„Erklären Sie mir das einmal: Wenn Sie auf einem Markt eine tolle Backform sehen, dann ein bisschen grübeln – kaufen oder nicht? Und Sie gehen dann erst einmal in Gedanken weiter. Nach einigen Metern stellen Sie fest, ja, die kaufe ich. Eigentlich drehen Sie dann um, kehren zu meinem Stand zurück und kaufen. Gilt das Einbahnstr­aßensystem, dann geht das nicht. Sie kommen nicht zurück, nur dann, wenn Sie noch einmal eine halbe Stunde im Kreis gelaufen sind. Unter diesen Bedingunge­n lief mein Geschäft die letzten Wochen und Monate. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich schränke mich auch ein. Ich bin Risikopati­entin. Ich kaufe nun auch verstärkt im Internet. 95 Prozent beträgt mein Umsatzausf­all.

Was ich mir wünsche, sind echte Hilfen, die ankommen. Oder Standorte, an denen ich wirklich hätte Geld verdienen können. Die Märkte wurden eingezäunt und mit Mindestbes­ucherzahle­n belegt. Oder wir bekamen Plätze, die uns nichts brachten, bei denen die Händlerzah­l reduziert war und die Stände zu weit auseinande­rgezogen wurden. Es ist ja nett gemeint, wenn die Stadt uns vor einigen Monaten einen Platz vor der City-Galerie in Augsburg stellt. Aber dort kommen die Menschen mit dem Auto direkt im Parkhaus an. Die haben gar nicht gemerkt, dass wir Marktleute vor der Tür stehen. Das war ein Draufzahlg­eschäft. Wie ich mich über Wasser halte?

Frau arbeitet, ihr Gehalt reicht zum Lebensunte­rhalt. Nicht für meine gewerblich­en Kosten im Monat. Von den geringen staatliche­n Hilfen darf ich allerdings keinen Cent für Krankenver­sicherung hernehmen, geschweige für private Zwecke. Wirklich Zählbares kam im letzten Quartal nicht zustande. Das Jahr ist gelaufen.“

Tobias Blaser, 34, produziert Videos für Firmen und fotografie­rt auf Hochzeiten:

„Eigentlich wäre ich in den letzten Monaten durch Europa geflogen, von Stadt zu Stadt, ich hätte für eine große Firma Videos produziert für ihren Messeauftr­itt. Außer dass ich für Firmen Videos produziere, fotografie­re ich Hochzeiten. Mit einer Gesellscha­ft wäre ich nach Italien geflogen. Vor Corona lief es gut, ich war zufrieden.

Während der Pandemie gab es Zeiten, da hatte ich fast keinen Cent mehr – von heute auf morgen. Ich las, dass die Politik etwas tun will. Gelder sollten bereitgest­ellt werden, ich war optimistis­ch, da ich Angst hatte, dass die Aufträge komplett ausbleiben würden. Da wäre UnterMeine stützung gut gewesen. Dann haben wir Fotografen und Filmer gemerkt: Für uns ist nichts dabei. Ich arbeite von zu Hause aus, mein Büro befindet sich in meiner Wohnung. Doch die Hilfen waren nur für die Betriebsko­sten bestimmt. Dass ich auch essen und meine Miete zahlen muss, davon will die Politik nichts wissen. Ich bin froh, dass ich Rücklagen habe, die greife ich nun an. Wissen Sie, Ich hatte noch nie das Gefühl, dass die Politik die SoloSelbst­ständigen liebt und jetzt erst recht nicht.

Mir geht es noch einigermaß­en gut. Ich kann mich über Wasser halten. Und wenn es doch nicht klappt? Ich habe Internatio­nal Management studiert. Dann müsste ich mir wohl einen normalen Job suchen und mich anstellen lassen. Wollen tue ich das natürlich nicht. Aber ich habe es in der Hinterhand. Ich habe das Gefühl, die Politik subvention­iert nur das Angestellt­enverhältn­is und die großen Unternehme­n.“

Ein Videotechn­iker und Videoprodu­zent, 42. Will unerkannt bleiben:

„Gewissheit, dass sich alles ändern würde, kam zu dem Zeitpunkt, als der Genfer Autosalon abgesagt wurde. Jetzt war allen klar: Es wird ernst. Ich habe innerhalb von zwei Tagen meine Aufträge verloren. Ich dachte, ich hätte schon alles erlebt als Selbststän­diger, doch die Pandemie war eine neue Erfahrung. Mein Steuerbera­ter hat mich dazu überredet, Hartz-IV zu beantragen. Für einen Selbststän­digen ein schwerer Schritt. Ähnlich schwer wie die Beantragun­g der bayerische­n Soforthilf­e. Hier wurde mir schnell und unkomplizi­ert geholfen, auch wenn der Hartz-IV-Antrag mit rund 500 Seiten alles andere als einfach war. Im Sommer wollte ich dann die Kredite der Landesbank und der KfW beantragen. Den KfW-Kredit lehnte meine Hausbank ab. Und auch den Kredit der Landesbank gab es nur unter hohen Hürden.

Warum es uns so schwergema­cht wird, ist mir schleierha­ft. Ab Herbst stiegen meine Umsätze wieder an, mit den Umsätzen steigen die Infektions­zahlen. Jetzt ist der zweite Shutdown Realität. Viele meiner Kollegen mussten aufgegeben. Ich halte noch durch.

Wir als Veranstalt­ungsbranch­e haben zu lange im Verborgene­n gearbeitet. Unser Motto war: Nicht auffallen, im Hintergrun­d dafür zu sorgen, dass Veranstalt­ungen stattfinde­n und das Fernsehen läuft. Wir haben viel zu wenig Lobbyarbei­t geleistet. Trotz der Wirtschaft­smacht, die Fernsehen und Veranstalt­ungsbranch­e, Kunst und Kultur besitzen. Wir haben keinen Zugang zur Politik. Inzwischen sind zwei meiner Weggefährt­en an Corona verstorben. Noch vor Weihnachte­n werden wir die Beisetzung eines Freundes aufzeichne­n.“

Hintergrun­d Dieser Text ist Teil unse‰ rer Bürgerrech­erche „Job weg – und nun?“Wir hatten in den letzten Monaten Bürger gefragt, wie sie nach dem Ver‰ lust ihres Arbeitspla­tzes in die Zukunft blicken. Das Projekt entstand aus einer Kooperatio­n unserer Redaktion mit der Deutschen Journalist­enschule in Mün‰ chen und wurde gefördert von „Netzwerk Recherche“.

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Foto: Maren Winter, stock.adobe.com Für viele Solo‰Selbststän­dige war das Jahr 2020 ein wirtschaft­licher Totalausfa­ll.

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