Ist uns die Solidarität verloren gegangen?
Die Corona-Zahlen steigen. Doch Experten raten von voreiligen Schlüssen ab
Augsburg Es waren Bilder, die Gänsehaut-Potenzial hatten: Mütter, Väter, Kinder, Großeltern standen abends auf dem Balkon, um dem Pflegepersonal für ihren Einsatz in der Krise zu applaudieren. Das war im März. Heute, ein Dreivierteljahr später, klatscht niemand mehr, bemerkte die Virologin Sandra Ciesek in dieser Woche bei einem Auftritt in Berlin. Das RKI meldet trotz Kontaktbeschränkungen jeden Tag neue Rekordzahlen bei den CoronaNeuinfektionen und -Toten; Daten belegen, dass sich die Deutschen in den vergangenen Wochen weit weniger eingeschränkt haben als noch in der ersten Welle der Pandemie. „Es ist an einigen Stellen ein Schlendrian eingekehrt“, sagt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und fordert einen Mentalitätswandel ein. Haben wir die Solidarität verlernt in dieser Krise?
„Im Frühjahr waren die Leute vermutlich verunsicherter, heute haben sich viele ein wenig an die Krise gewöhnt – und sie können auch das Risiko besser einschätzen“, sagt Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach. „Ich sehe allerdings nicht, dass sich an der Grundhaltung der Bevölkerung groß etwas geändert hat.“Ein Indiz dafür ist die Zustimmung der Menschen zum Lockdown: Umfragen würden nach wie vor einen starken Rückhalt für die Regierung und auch für die harten Maßnahmen zeigen. Schon im Frühjahr habe sich gezeigt, dass sich die Bevölkerung regelrecht um die Regierung geschart habe. Und daran habe sich bis heute nichts geändert. „Es gibt keinen nennenswerten Ärger über die Regierungspolitik“, sagt Petersen. Noch im Herbst 2019, also vor Ausbruch der Pandemie, hat mehr als die Hälfte der Menschen in einer Allensbach-Umfrage gesagt, dass die Regierung zu schwach sei. Im April 2020 erklärten drei Viertel der Befragten: Die Regierung leistet gute Arbeit. Im November sagten dies noch zwei Drittel. „Der Zuspruch ist ein bisschen runtergegangen, der Unmut wächst an der einen oder anderen Stelle – aber wir bewegen uns nach wie vor auf einem hohen Niveau der Zustimmung“, sagt Petersen. Unruhe entstehe dann, wenn Regeln den Menschen nicht einleuchten. „Die Regierung muss durchaus aufpassen, dass sie den Bogen nicht überspannt – die Geduld ist nicht endlos, aber ich sehe im Augenblick noch kein grundsätzliches Kippen der Situation.“
Auch der Psychologe Ralph Hertwig warnt vor voreiligen Schlüssen. „Dass wir gegenwärtig das Gefühl haben, weniger solidarisch zu sein, ist vielleicht einfach nur ein fast unvermeidliches Stadium eines normalen Entwicklungsprozesses“, sagt Hertwig. Die Gesellschaft habe sich nach dem großen gemeinsamen Schock wieder in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Der eine habe mehr Wissen, der andere weniger, der eine habe die Erfahrung gemacht, dass Corona nicht mehr als ein Schnupfen sei, der andere sei auf der Intensivstation gelandet. Doch auch die Politik selbst sei an der Entwicklung nicht unbeteiligt. „Das, was manche Politiker gerade als Schlendrian bezeichnen, könnte auch eine Mischung aus Unsicherheit und einer gewissen Resignation sein“, sagt Hertwig. Die CoronaRegeln seien bisweilen verwirrend.
Um also wieder eine Stimmung des Zusammenhalts und der Solidarität zu erzeugen, sei es erforderlich, genau an dieser Stellschraube zu drehen. Und auch die aktuelle Entwicklung könnte paradoxerweise dazu beitragen. „Genau das, was wir gerade erleben – immer höhere Infektionszahlen, furchterregend steigende Todeszahlen – könnten so ein taktgebendes Schockmoment sein“, sagt Ralph Hertwig. Anders ausgedrückt: Die Angst ist es, die den Schlendrian vertreiben könnte.
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