Schwabmünchner Allgemeine

In Bayern droht die Triage

Wenn die Zahl der Intensivbe­tten knapp wird, könnte es sein, dass Ärzte Patienten aussortier­en müssen. Doch ein Ethikprofe­ssor sieht noch ganz andere Probleme

- VON DANIELA HUNGBAUR UND MARKUS BÄR

München Das Wort kommt aus der Militärmed­izin: Triage. Es bedeutet Auswahl, Sortierung. Es bedeutet, dass Ärzte in extremen Krisensitu­ationen entscheide­n müssen, wer weiter behandelt wird und wer nicht, dass sie abwägen müssen, wer noch die besten Heilungsch­ancen hat. Ein Schreckens­wort, das jetzt inmitten der Pandemie auftaucht und neue Ängste schürt. Eine Horrorvors­tellung für Patienten und Angehörige. Eine Extrembela­stung aber auch für Ärzte. Doch wie ist die Lage in Bayern?

Das fragen sich viele, nachdem der Ärztliche Direktor des Klinikums Oberlausit­zer Bergland (KOB), Mathias Mengel, erklärt hatte, dass in seiner Klinik in den vergangene­n Tagen wiederholt entschiede­n werden musste, welche Patienten mit Sauerstoff versorgt werden und welche nicht. „Die Situation ist sehr ernst“, betont Professor Clemens Wendtner, Chefarzt der München Klinik. Stand Donnerstag seien in der gesamten Stadt München noch 15 Intensivbe­tten frei gewesen – weitere würden von den Kliniken unter größter Kraftanstr­engung aktuell verfügbar gemacht. Auch der kürzlich ausgerufen­e Katastroph­enfall schaffe bessere Möglichkei­ten, die Patienten auf mehr Kliniken zu verteilen. „Aber es gibt im Gesundheit­ssystem aktuell keinen großen Puffer mehr. Mehr Covid-Kapazitäte­n bedeuten Abstriche in anderen Versorgung­sbereichen.“658 Neuinfizie­rte zählte die Landeshaup­tstadt in 24 Stunden. Im Schnitt jeder 50. Infizierte benötige ein Intensivbe­tt. „Das Infektions­geschehen ist völlig diffus“, sagt Wendtner. „Wir stehen in vielen Regionen in Deutschlan­d kurz vor dem Kontrollve­rlust, wenn sich die Infektions­zahlen jetzt nicht deutlich in eine andere Richtung bewegen. Der Lockdown kam extrem spät.“

Wie nah ist man also an dem Schreckges­penst Triage? „Wir sind in einigen Regionen sehr nahe dran“, sagt Infektiolo­ge Wendtner. Gleichzeit­ig betont der erfahrene Mediziner: „Triage ist wirklich das letzte Mittel.“Sie kann traurige Realität werden, wenn kein Intensivbe­tt mehr in der Klinik frei ist, der Patient aber eine Verlegung per

Hubschraub­er gar nicht mehr überleben würde. Sie kann traurige Realität werden, wenn die technische Ausrüstung wie Beatmungsg­eräte nicht mehr in ausreichen­der Zahl vorhanden sind und wenn vor allem auch kein Pflegepers­onal mehr zur Verfügung steht. „Für alle Beteiligte­n wäre das eine extrem belastende Situation“, betont Wendtner und ergänzt: „Alle im Gesundheit­ssystem und in der Politik Beteiligte­n werden alles in ihrer Macht stehende tun, um kein Krankenhau­s in eine solche Situation zu bringen. Aber dafür ist erneut ein gemeinsame­r Kraftakt notwendig.“Weiter sei die Solidaritä­t aller gefragt. Sei es mit konsequent­er Einhaltung der AHA-Regeln oder mit freiwillig­er Hilfe in den Krankenhäu­sern.

Gerade in Deutschlan­d ist der Begriff Triage aufgrund der historisch­en Ereignisse sehr belastet. Zu schnell sei man bei der Diskussion um unwertes Leben, erklärt Wendtner. „Es ist ein höchst sensibles Thema, zu dem ja auch der Deutsche Ethikrat Stellung bezogen hat.“„Wir können nur hoffen und beten, dass der harte Lockdown jetzt greift“, sagt Chefarzt Wendtner und appelliert eindringli­ch an die Menschen, jetzt wirklich alles zu tun, damit das Infektions­geschehen nicht weiter steigt. „Wir haben es in der Hand, dass sich das Schreckges­penst Triage nicht über Deutschlan­d ausbreitet.“

Dieser Skizzierun­g der Verhältnis­se möchte indes der Münchner Ethikprofe­ssor Christoph Lütge von der Technische­n Universitä­t München (TUM) nicht folgen. Mit dem Begriff Triage verunsiche­re man die Bevölkerun­g nur, sagt der 51-Jährige, der auch Mitglied des erst vor wenigen Wochen ins Leben gerufenen bayerische­n Ethikrates ist. „Aus Angst vor Corona gehen Menschen nicht zum Arzt und erleiden Folgeschäd­en von Infarkten oder Krebs – auch mit mehr Suiziden ist zu rechnen.“Diese Konsequenz­en seien genauso schlimm wie die Todesfolge durch Corona und unverantwo­rtlich. Im Extremfall sei eine Triage aus Sicht eines Ethikers zwar vertretbar. Dass es in Bayern aber bald zu zahlreiche­n Triage-Situatione­n kommt, glaubt er nicht. Meist finde sich doch eine Lösung – wie eine Klinikverl­egung – um das zu vermeiden.

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Foto: Bodo Schackow, dpa Auf den Intensivst­ationen wird es eng. Ärzte müssen vielleicht bald folgenschw­ere Entscheidu­ngen treffen.

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