In Bayern droht die Triage
Wenn die Zahl der Intensivbetten knapp wird, könnte es sein, dass Ärzte Patienten aussortieren müssen. Doch ein Ethikprofessor sieht noch ganz andere Probleme
München Das Wort kommt aus der Militärmedizin: Triage. Es bedeutet Auswahl, Sortierung. Es bedeutet, dass Ärzte in extremen Krisensituationen entscheiden müssen, wer weiter behandelt wird und wer nicht, dass sie abwägen müssen, wer noch die besten Heilungschancen hat. Ein Schreckenswort, das jetzt inmitten der Pandemie auftaucht und neue Ängste schürt. Eine Horrorvorstellung für Patienten und Angehörige. Eine Extrembelastung aber auch für Ärzte. Doch wie ist die Lage in Bayern?
Das fragen sich viele, nachdem der Ärztliche Direktor des Klinikums Oberlausitzer Bergland (KOB), Mathias Mengel, erklärt hatte, dass in seiner Klinik in den vergangenen Tagen wiederholt entschieden werden musste, welche Patienten mit Sauerstoff versorgt werden und welche nicht. „Die Situation ist sehr ernst“, betont Professor Clemens Wendtner, Chefarzt der München Klinik. Stand Donnerstag seien in der gesamten Stadt München noch 15 Intensivbetten frei gewesen – weitere würden von den Kliniken unter größter Kraftanstrengung aktuell verfügbar gemacht. Auch der kürzlich ausgerufene Katastrophenfall schaffe bessere Möglichkeiten, die Patienten auf mehr Kliniken zu verteilen. „Aber es gibt im Gesundheitssystem aktuell keinen großen Puffer mehr. Mehr Covid-Kapazitäten bedeuten Abstriche in anderen Versorgungsbereichen.“658 Neuinfizierte zählte die Landeshauptstadt in 24 Stunden. Im Schnitt jeder 50. Infizierte benötige ein Intensivbett. „Das Infektionsgeschehen ist völlig diffus“, sagt Wendtner. „Wir stehen in vielen Regionen in Deutschland kurz vor dem Kontrollverlust, wenn sich die Infektionszahlen jetzt nicht deutlich in eine andere Richtung bewegen. Der Lockdown kam extrem spät.“
Wie nah ist man also an dem Schreckgespenst Triage? „Wir sind in einigen Regionen sehr nahe dran“, sagt Infektiologe Wendtner. Gleichzeitig betont der erfahrene Mediziner: „Triage ist wirklich das letzte Mittel.“Sie kann traurige Realität werden, wenn kein Intensivbett mehr in der Klinik frei ist, der Patient aber eine Verlegung per
Hubschrauber gar nicht mehr überleben würde. Sie kann traurige Realität werden, wenn die technische Ausrüstung wie Beatmungsgeräte nicht mehr in ausreichender Zahl vorhanden sind und wenn vor allem auch kein Pflegepersonal mehr zur Verfügung steht. „Für alle Beteiligten wäre das eine extrem belastende Situation“, betont Wendtner und ergänzt: „Alle im Gesundheitssystem und in der Politik Beteiligten werden alles in ihrer Macht stehende tun, um kein Krankenhaus in eine solche Situation zu bringen. Aber dafür ist erneut ein gemeinsamer Kraftakt notwendig.“Weiter sei die Solidarität aller gefragt. Sei es mit konsequenter Einhaltung der AHA-Regeln oder mit freiwilliger Hilfe in den Krankenhäusern.
Gerade in Deutschland ist der Begriff Triage aufgrund der historischen Ereignisse sehr belastet. Zu schnell sei man bei der Diskussion um unwertes Leben, erklärt Wendtner. „Es ist ein höchst sensibles Thema, zu dem ja auch der Deutsche Ethikrat Stellung bezogen hat.“„Wir können nur hoffen und beten, dass der harte Lockdown jetzt greift“, sagt Chefarzt Wendtner und appelliert eindringlich an die Menschen, jetzt wirklich alles zu tun, damit das Infektionsgeschehen nicht weiter steigt. „Wir haben es in der Hand, dass sich das Schreckgespenst Triage nicht über Deutschland ausbreitet.“
Dieser Skizzierung der Verhältnisse möchte indes der Münchner Ethikprofessor Christoph Lütge von der Technischen Universität München (TUM) nicht folgen. Mit dem Begriff Triage verunsichere man die Bevölkerung nur, sagt der 51-Jährige, der auch Mitglied des erst vor wenigen Wochen ins Leben gerufenen bayerischen Ethikrates ist. „Aus Angst vor Corona gehen Menschen nicht zum Arzt und erleiden Folgeschäden von Infarkten oder Krebs – auch mit mehr Suiziden ist zu rechnen.“Diese Konsequenzen seien genauso schlimm wie die Todesfolge durch Corona und unverantwortlich. Im Extremfall sei eine Triage aus Sicht eines Ethikers zwar vertretbar. Dass es in Bayern aber bald zu zahlreichen Triage-Situationen kommt, glaubt er nicht. Meist finde sich doch eine Lösung – wie eine Klinikverlegung – um das zu vermeiden.