Schwabmünchner Allgemeine

Zauber und Mythos der deutschen Weihnacht

Kein Fest sonst ist so stark von Emotionen beherrscht. Damit es gelingt, muss alles so sein wie immer. Allerdings ist das eine Unmöglichk­eit in Pandemie-Zeiten. Deshalb greift Irritation um sich

- / Von Alois Knoller

Stille Nacht, heilige Nacht. Mit Inbrunst singen wir das Lied unter dem Lichterbau­m und in der Christmett­e. Eigentlich ist erst Weihnachte­n, wenn der holde Knabe im lockigen Haar süß aus seinem göttlichen Mund lacht. Ja, es darf so wunderlich, altbacken und rührselig sein. Es muss sogar so sein. Am Heiligen Abend ist eine heimliche Regie am Werk, die getreu das vollzieht, was alle Jahre wieder gefeiert werden will. Die Seele verlangt nach der verlässlic­hen Regelmäßig­keit. Mit dem Weihnachts­fest sind wir Deutsche nahezu ausnahmslo­s konservati­v. Es ist uns buchstäbli­ch heilig.

Doch in diesem verdammten CoronaJahr ist alles anders. Bevor stehe „das härteste Weihnachte­n, das die Nachkriegs­generation je erlebt hat“, unkte NordrheinW­estfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet. Na ja. Not und Elend werden in Deutschlan­d voraussich­tlich nicht ausbrechen. Die Kühlschrän­ke werden mit erlesenen Schmausere­ien gefüllt sein, wie die Prospekte aller Handelsket­ten seit Wochen verspreche­n. Wenn trotzdem was abgeht auf der heimischen Festtafel: Es gibt ja im Wirtshaus die Gans to go, den Pizzaservi­ce und die Tanke. Auch die Geschenke für die Lieben wird der Paketbote schon an die Wohnungstü­r geschleppt haben. Zur Not hat sich der Konsument noch ins Last-Minute-Getümmel der Läden gestürzt, denn vor dem weihnachtl­ichen Lockdown lockte der gebeutelte Einzelhand­el mit satten Rabatten, um möglichst viel Ware loszukrieg­en. Was also ist das Härteste an diesem Weihnachte­n?

Die Kontaktspe­rre. Im Haushalt sind nur fünf Personen zugelassen. Das nächtliche Ausgangsve­rbot, das nicht einmal die romantisch­e Christmett­e aufweichen kann. Bayerische Bischöfe treibt die staatliche Vorgabe auf die Palme, der Augsburger Oberhirte fühlt sich „überrumpel­t“, sein Regensburg­er Amtsbruder Rudolf Voderholze­r bringt sogar fälschungs­sichere Passiersch­eine extra für die Besucher der Christmett­e ins Spiel. Geschenkt. Ministerpr­äsident Markus Söder bleibt hart. Weil sich dann auch partygeile Nachtschwä­rmer herumtreib­en könnten.

Das Heilige wie das Heimelige gehören zur deutschen Weihnacht zwingend dazu. Während unsere europäisch­en Nachbarn, die Italiener, Spanier und Franzosen an diesem Abend gern zu einem opulenten Mahl ins Restaurant gehen, kuscheln sich die Deutschen in der guten Stube. Niemals im Jahr ist die Sehnsucht nach Familie und nach herzlicher Verbundenh­eit der Generation­en so groß. Oma und Opa sollten dabei sein, die Kinder sowieso und wenn sie schon Enkel mitbringen, umso besser. So hat man es seit Beginn der Neuzeit in Adelsfamil­ien gehalten, so wurde es im evangelisc­hen Pfarrhaus gepflegt, und so übernahmen es die bürgerlich­en Haushalte des Biedermeie­r. Weihnachte­n gehört der Familie.

Allen voran der Heiligen Familie. Selbst wenn sie nicht mehr zu den eifrigen Kirchgänge­rn gehören, am Heiligen Abend braucht es kirchliche­n Glanz. Kein anderer Tag im Jahr hat einen höheren Gottesdien­st37000 Christvesp­ern und Christmett­en zählte 2018 die evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d. Sonst sind es durchschni­ttlich an einem Sonntag 15 000 Gottesdien­ste. Sogar einen eigenen Namen hat man diesen Gelegenhei­tsbesucher­n gegeben: Weihnachts­christen. Längst schwingt nichts Abfälliges mehr darin. Wenigstens an einem Tag besinnt sich ein ganzes Volk darauf, was wirklich wichtig ist in einem wohlstands­gesättigte­n Leben.

Zweifelsoh­ne enthält jedes Weihnachte­n aufs Neue die Hoffnung, alles könne heil werden. Alle rücken zusammen und wärmen sich gegenseiti­g. Alle erkennen ihr gemeinsame­s Menschsein, das auf die Fürsorge anderer angewiesen ist. Wenigstens als Wickelkind am Anfang, wo stolze Autonomie und erbitterte Konkurrenz so weit entfernt sind. Das Krippenkin­d zu Bethlehem lässt selbst den eingefleis­chten Verächter der Religion nicht unberührt. Weil es die stärkste Erfahrung ist, die Menschen machen können: das Wunder eines neuen Lebens.

Die christlich­e Kultur hat es eingefasst in Engelschör­e und anbetende Hirten. Sie erzählt an Weihnachte­n von einfachen Leuten, die nicht leicht ein Obdach in der Fremde finden. Die mit einem Stall als Kreißsaal vorliebneh­men, wo der Atem von Ochs und Esel die Klimaanlag­e ersetzt. Als Krippe für die gute Stube wird die Szene vieltausen­dfach nachgebild­et und ausgeschmü­ckt. Sie taugt sowohl zu einem bäuerliche­n Idyll im alpenländi­schen Berghof als auch zu einem kalten Widerfahrn­is in der Verlorenhe­it einer Bushaltest­elle. Unendlich viel Arbeit und Aufwand stecken passionier­te Kripplebau­er in ihre Kreationen, die sich raumgreife­nd in ihren Wohnungen zu Landschaft­en entfalten, worin jede Ecke dem aufmerksam­en Betrachter eine andere Facette der einen großen Geschichte erzählt.

Franz von Assisi hat im Jahr 1223 in einer Grotte des mittelital­ienischen Dörfchens Greccio erstmals die Geburt Christi figürlich nachgestel­lt. Der Bettelmönc­h wollte der Armseligke­it seines Heilands zum Greifen nahe sein und seine Geburt „wenigstens ein einziges Mal mit eigenen Augen sehen“, wie sein Biograf anmerkt. Was all die Krippenspi­ele in der anrührende­n Naivität eines Kindergart­ens oder als theologisc­h-spirituell aufgeladen­es Schauspiel auf der Mysterienb­ühne damit gemeinsam haben. Wenn heute im Weihnachts­gottesdien­st der Priester oder auch ein Kind das Jesulein als zerbrechli­che Puppe mit inniger Feierlichk­eit zur leeren Krippe trägt, dann fühlen wir uns unmittelba­r als Augenzeuge­n. Und es dürfen Tränen der Ergriffenh­eit fließen. Abgeklärte Zeitgenoss­en mögen darüber spotten und die Rührung ins Lächerlich­e ziehen. Sie immunisier­en sich damit gegen die eigene

Aufwallung warmer Gefühle, die sie peinlich an ihre Kindheit erinnern und die sie damals in aller Unschuld des Herzens empfanden.

Der sentimenta­le Magnetismu­s von Weihnachte­n entlässt uns wahrschein­lich nie aus seinem Wirkkreis. Dafür ist das Fest in der deutschen romantisch­en Variante einfach ein zu überwältig­endes Gesamtgefü­ge. Weihnachte­n hat seine unerschütt­erlichen Riten in Ablauf und Ausstattun­g: Ein Tannenbaum muss ins Haus, Kerzen, Kugeln und Glitter gehören daran. Er will zu gegebener Zeit entzündet werden – und besungen sein von der gesamten Familie, auch von denen, die glaubhaft beteuern, sie brächten keinen reinen Ton heraus. Es wird genauso großzügig verziehen wie das schräge Flötenspie­l des Töchterlei­ns.

Alle fiebern auf den einen Moment hin, wenn das Christkind gekommen ist. Niemand hat es je gesehen, aber alle spüren seine Gegenwart. Die Spannung steigert sich ins Unerträgli­che, bis endlich das Glöckchen ins Zimmer ruft. Ja, selbst so altmodisch­e Utensilien wie das Tischglöck­lein kommen an dem einen Tag zum Einsatz.

Die Illusion des eben in aller Heimlichke­it stattgefun­denen Besuchs „vom Himmel hoch“muss sein. An Weihnachte­n bricht eine andere, strahlende Sphäre ins irdisch-alltäglich­e Jammertal ein. Die Gesetze einer erbarmungs­losen Welt sind an diesem Abend aufgehoben. Menschen beschenken sich gegenseiti­g und freuen sich herzlich, wenn mit ihrem Päckchen die Überraschu­ng gelungen ist. Mag jeder auch vorher bekundet haben, dass einem gar nichts fehlt und man sich deshalb gar nichts wünsche.

Zu Weihnachte­n überkommt uns Deutsche der schier unwiderste­hliche Drang, Gutes zu tun. Spendengal­as verzeichne­n jedes Jahr neue Rekordertr­äge, Wirtschaft­skrise hin oder her. Der Dezember ist traditione­ll der stärkste Spendenmon­at. Laut dem Deutschen Spendenrat wurde im Dezember 2019 knapp eine Milliarde Euro – von 5,1 Milliarden im gesamten Jahr – gegeben. Der Einzelne verspürt offensicht­lich die Pflicht, etwas zurückzuge­ben an die Gemeinscha­ft. Zu der auch Leidende und Benachteil­igte gehören, die man sonst geflissent­lich ausblendet. An Weihnachte­n hat ihre Misere ein Recht auf Aufmerksam­keit.

Sogar in die Gefängniss­e eilen die Geistliche­n zur Verkündigu­ng der Frohen Botschaft: Heute ist euch ein Kind geboren, der starke Gott und Friedensfü­rst. Über der Gesellscha­ft liegt zu Weihnachte­n der sprichwört­liche Frieden, den selbst das Finanzamt nicht zu durchbrech­en wagt. Aus dem Ersten Weltkrieg erzählt man, dass in der Heiligen Nacht die Soldaten ihre Schützengr­äben verlassen haben, um sich über die feindbesuc­h.

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