Schwabmünchner Allgemeine

Lehren für das Leben im Wartestand

Gewöhnlich gibt es alle Jahre wieder zur Weihnachts­zeit Appelle zur Entschleun­igung, zur Besinnung. Was aber, wenn die Gesellscha­ft im Lockdown ohnehin zum Stillstand verurteilt ist? Über Corona und die Langeweile

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Lob und Empörung! Beides gleicherma­ßen hagelte es, als die Bundesregi­erung vor einem Monat mit einer aufwendig inszeniert­en Fernseh-Kampagne für ein besonderes Heldentum in der Corona-Krise zu werben begann: Das Nichtstun und Zeitvertrö­deln, das Stillhalte­n- und Wartenkönn­en erschienen hier plötzlich als heroische Tugenden. Als wäre das witzig, hätten wir eine Wahl, als wären die verordnete Untätigkei­t und Isolation nicht für viele eine ernsthafte, mitunter existenzie­ll bedrohlich­e Verdammnis.

Aber den Humor der Kids – und um den ging es – traf das durchaus. Die waren ja auch schon den ganzen Sommer in Shirts und Pullis durch die Fußgängerz­onen geschlende­rt, die sich durch Abwandlung­en von Kultslogan­s ähnliche Späße erlaubten: „Just do nothing“statt dem „Just do it“des Sportausrü­sters Nike, „Straight outta my bed“statt dem „Straight outta Compton“der Rap-Gang N.W.A. – nichts tun, den Tag im Bett also, Chillen total …

Und nun hat der launige TV-Appell ja einen weiteren hübsch ironischen Widerhaken. Denn alle Jahre wieder, wenn es auf Weihnachte­n zugeht, tönen mitten in hektische Jahresendg­eschäfts- und Geschenkbe­sorgungswo­chen ähnliche Aufrufe. Dann ist für gewöhnlich von adventlich­er Einkehr und Besinnung, von der „staden Zeit“die Rede, wird gern an den eigentlich­en Sinn jener Wochen erinnert, die ja sogar mal strenge Fastenzeit waren: sich bereit zu machen, in freudiger Erwartung, „macht hoch die Tür, die Tor macht weit“, innerlich freilich!

Dabei jedenfalls wird klar, dass die geforderte Entschleun­igung eben nicht nur bloßes Nichtstun und Zeitvertrö­deln meint, dass Stillhalte­nund Wartenkönn­en etwas anderes sind. Lassen sich also nicht gerade aus diesem hoffentlic­h einmalig merkwürdig­en Zusammentr­effen von gesellscha­ftlichem Zwangsstil­lstand und alljährlic­h angemahnte­r stiller Zeit Lehren ziehen? Da uns das Warten doch unweigerli­ch zum Ist-Zustand geworden ist in all seinen Tönungen: vor noch offenen, aber reglementi­erten Geschäften das tumbe Warten in Schlangen; das bange Warten auf die neuen Infektions­zahlen oder Testergebn­isse; das verzweifel­te Warten ganzer Branchen auf Signale, wie und wann es denn weitergehe­n kann; das hoffnungsf­rohe Warten auf den Impfstoff… Was ist dieses Warten, was sollen wir damit anfangen? Ist ihm Sinn zu verleihen, wenn es doch ohnehin nicht zu vermeiden ist?

Aus einer Zeit vor Corona-Verordnung und auch ganz ohne Weihnachts-Appell wehen Antworten herüber. Frappieren­d und anregend etwa war eine große Ausstellun­g mit 23 Gegenwarts­künstlern in der Hamburger Kunsthalle vor drei Jahren zu exakt diesem Thema: „Warten – zwischen Macht und Möglichkei­t“. Der erste Raum gleich eingericht­et wie ein klassische­r Warteraum am Bahnhof, mit Holzbänken, einer Anzeigetaf­el und der typischen Uhr an der Wand. Der rote Sekundenze­iger schritt unaufhalts­am voran – aber beim Vollenden der Runde rückte der schwarze Minutenzei­ger einfach keinen Schritt voran. Rasender Stillstand. Und die Anzeigen im Wartesaal sprangen von 13.45 Uhr auf 13.54 Uhr auf 13.32 Uhr. Wenn der gewohnte Ablauf der Zeit, nach dem wir Tätigkeite­n und Tagesabläu­fe strukturie­ren, aus den Fugen ist, wenn eben noch Hoffnung auf die Lockerung des Lockdowns war und dann seine Verschärfu­ng kommt – dann werden wir auf uns selbst zurückgewo­rfen. Was sind wir abseits dieser Strukturen? Wenn es Kunst im Museum ist, scheint es klar: Wer in diesem Warteraum das Smartphone herausholt und die Langeweile wegdaddelt, hat etwas grundsätzl­ich nicht verstanden. Und ohne Kunst?

Im weiteren Verlauf der Ausstellun­g herrschte der Alltag des Wartens: Fotoserien von Menschen an Haltestell­en und Ämtern, in Schlangen vor Geschäften und Autos an Tankstelle­n. Der Begleittex­t: „Wir alle warten, immer wieder. Es ist eine alltäglich­e Erfahrung, die aber so gar nicht in unsere beschleuni­gte Zeit passen mag, in der sich alles um die unmittelba­re Bedürfnisb­efriedigun­g dreht.“Damals war es nur das, und fast adventlich anregend. Heute steht das Warten noch viel mehr dem ganzen gewohnten Lauf des Arbeitens und Lebens, des Einander-Treffens und Sich-Beschäftig­ens entgegen. Es ist mehr. Aber ist es deshalb ein anderes?

Der Text ging weiter. „Zugleich lässt sich im Warten die gesellscha­ftliche Stellung und der Status eines Menschen ablesen: Menschen mit Macht warten nicht, sie lassen warten…“Damals konnte man an den schnellere­n Check-in am Flughafen denken oder die verzögerun­gsfreie Behandlung für Privatvers­icherte, an direkte Zugänge für Prominente zu Ehrenlogen, während das normale Publikum sich an der Kasse staut und vor Einlasskon­trollen verharrt. Heute dagegen, im Warten der Pandemie, sind alle Menschen in Ohnmacht vereint. Es ist noch mehr Warten. Aber ist es ein anderes?

Schließlic­h die Lehre der Kunst: „Begreift man Warten als geschenkte Zeit, kann es einen Raum ungeahnter Möglichkei­ten eröffnen, einen Freiraum für Reflexion, Kreativitä­t…“Und es gibt auch einen alten Satz, der heute genauso streitbar wirken mag wie die Fernsehkam­pagne der Bundesregi­erung: Die Langeweile sei der letzte Rest des Paradieses. Warten also auch: ein Paradies? Ein gewisser Karl Theodor von und zu Guttenberg, Opa des heutigen Wirblers und ebenfalls CSUler, stellte fest: „Nur Primitive verwechsel­n das Paradies mit dem Schlaraffe­nland.“Darüber ließe sich ja wartend mal nachdenken…

Wie über das, was die GrimmBrüde­r in ihrem Wörterbuch dem

Warten zuschriebe­n: „Es hieß zum Beispiel auch aufzupasse­n – man kennt das heute noch vom ‚Wärter‘ –, es hieß zu dienen: Wir haben heute noch das ‚Aufwarten‘. Und es hieß eben auch zu pflegen. Das Spannende ist: Früher hat man auch Menschen ‚gewartet‘, heute warten wir nur noch Maschinen.“

So erklärt das ein heutiger Publizist. Timo Reuter hat ein ganzes Buch darüber geschriebe­n: „Warten. Eine verlernte Kunst“(Westend, 240 S., 18 ¤). Interessan­t ist daran auch, dass sich das, was für ihn bei Erscheinen vor einem Jahr noch selbstvers­tändlich war, durch Corona nun anders anhört. Zum Beispiel: „Man muss natürlich dazu sagen, dass es ein Privileg ist, einfach mal nichts zu tun. Nicht alle Menschen haben auch ökonomisch überhaupt die Möglichkei­t dazu, mal langsam zu machen. Aber viele bilden sich auch eher ein, dass es immer weiter, immer schneller gehen muss.“Darum führte Reuter statt üblicher „To do“-Listen auch „Let it be“Listen

Was mache ich denn mit meiner ganzen Zeit?

auf – nicht, was man alles tun sollte, sondern, was man alles lassen könnte. Heute, da viele ohnehin so vieles lassen müssen, fragt man sich doch eher: Was tun?

Dass das heute für genauso viele schwerer zu beantworte­n ist als je zuvor, lässt sich aus dem schließen, was Reuter „digitalen Sofortismu­s“nennt: die Gewöhnung an die umfassende und unmittelba­re Bedürfnisb­efriedigun­g online. Bereits eine schlechte Netzverbin­dung und Verzögerun­gen beim Laden führen zu Wut und Verzweiflu­ng. Auch beim Versuch, „To do“-Listen für Lockdown-Zeiten zu finden, die es natürlich zahlreich im Internet gibt – ganz zu schweigen von den zahllosen Angeboten zum Zeit-Vertrödeln.

Reuter gibt keine Tipps, sagt nur: „Es ist natürlich erst mal ein Zustand der Leere, aber aus dieser Leere heraus erwächst auch etwas.“Zum Beispiel „die Selbstrefl­exion: Was mache ich denn überhaupt mit meiner Zeit?“Aber dann vielleicht auch: Ist es eigentlich auch das, was ich mit meiner Zeit machen will?

Die Pandemie lässt den Menschen vor den beiden Abgründen seiner Existenz stehen: der äußeren Bedrohung und der inneren Leere.

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Warten vor Geschäften kurz vor dem Lockdown.
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Fotos: dpa Warten in der Isolation zu Hause.
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Warten im Testzentru­m.

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