Schwabmünchner Allgemeine

Eine Liebe, stärker als der Krieg

Marie Gaté-Stallforth findet im Schicksal der Großtante den Stoff ihres literarisc­hen Debüts. Es ist Familienpo­rträt, Zeitbild und Bekenntnis zum Pazifismus

- Noch eine kurze Empfehlung für andere … VON HANS KREBS Marie Gaté: Der Klang des Bleistif‰ tes, der zu Boden fällt.

Murr: Billige Allgemeinr­ezepte verbieten sich derzeit! Die Krise fördert Missstände ebenso zutage wie unerwartet­e kreative Energien. Wir müssen vielleicht neu erlernen, mit kritischem Augenmaß die wesentlich­en Dinge von den unwesentli­chen zu unterschei­den.

„Route des Invasions 1914–18/ 1939–40“vermerkt ein Schild im französisc­hen Ardennen-Ort Rethel. So nüchtern das klingt, so grausam ist das damit verbundene Geschehen zweier Weltkriege mit dem Vormarsch deutscher Truppen. In Rethel spielt die kleine Marie mit Jungen ihres Geburtsort­es Fußball. Die Unebenheit­en des Platzes ärgern sie – nicht ahnend, dass unter ihren Füßen deutsche Gefallene liegen. Marie, 1955 geboren, kommt als kleines Schulmädch­en in den Sommerferi­en zur Großtante Adrienne, ihrer „Tatie Nenne“, einer pensionier­ten Lehrerin im benachbart­en La Neuville. Erst viele Jahrzehnte später vertraut ihr die Hochbetagt­e, die nie anders als „Mademoisel­le“genannt werden will, die anrührende Geschichte ihrer unerfüllte­n, stets verschwieg­enen Liebe an. Es ist ihre Liebe zu dem Münchner Besatzungs­offizier Anton Baur. Unerfüllt bleibt sie, weil dieser noble Hauptmann nach drei Monaten des Weltkriegs­jahres 1916 plötzlich abkommandi­ert wird und Adrienne nach einem ergreifend­en Brief nie mehr von ihm hört.

Was ist geschehen? Darauf antwortet die von Fakt und Fabel, Wahrheit und Wahrschein­lichkeit getragene Erzählerin Marie Gaté mit einer Illusion: Als wäre es das Finale eines Films, lässt die in Gersthofen lebende Autorin den Hauptmann Baur am 25. September 1918 in einer Stellung bei Verdun aufwachen, fest entschloss­en, nach dem Totentanz so vieler Schlachten keinen Einsatz mehr zu befolgen, lieber für den Frieden als für den Krieg zu sterben: „Im Kerzenlich­t, auf eine Munitionsk­iste gebückt, sitzt er auf einem Sandsack. Wie ein Fremdkörpe­r in einer von Granattric­htern und Massengräb­ern durchzogen­en Mondlandsc­haft lässt sich ein Schmetterl­ing auf den kahlen Boden nieder. Anton taucht in Adriennes tintenfarb­ene Augen und schreibt im schönsten Französisc­h

Brief…“Der wird im Buch als Faksimile wiedergege­ben. Im Film würde er wohl mit Anton Baurs Stimme zu vernehmen sein – vielleicht unterlegt mit jener tristen Chopin-Étude, die er bei der Weihnachts­feier 1916 gespielt hat und die später Mademoisel­le Adrienne als Vinyl-Platte tröstet.

Diese Prosa besitzt cineastisc­hes Volumen. Gleich Kamerafahr­ten sichtbar wird das Schlachten an den Fronten, das Großvater Eugène ein Bein und Großvater Jules die Lebenskraf­t kostet. Hören und Sagen erfolgen in Zeit- und Perspektiv­wechseln. Rückblende­n holen Tiefenschi­chten hervor, so auf der „Route des Invasions“auch das Kriegsjahr 1870 mit der „Erscheinun­g der auf riesigen Pferden montierten Preußen“. Die Verschwist­erung mit dem Kino ist so eng, dass jedem der 25 Kapitel knappe FilmAperçu­s (zu Marcel Carné, Jean Renoir, Fellini und Godard bis Anthony Minghella und Sofia Coppola) vorangeste­llt sind.

Schon der Buchtitel ist Seh- und Hörbild. „Der Klang des Bleistifte­s, der zu Boden fällt“hat wieder mit Mademoisel­le Adrienne zu tun. Die gestrenge Lehrerin erteilt ihrer „douce Marie“auch in deren Ferienaufe­nthalten gründlich Unterricht. Sie rät, ihre Schulsache­n wie Lebewesen zu behandeln. Ein Bleistift dürfe nie zu Boden fallen, sonst breche die Mine. „Der Klang eines Bleistifts, der herunterfä­llt, bricht mir seitdem das Herz.“So heißt es im fünften Kapitel, das vom Klang des Schreibsti­fts zur Farbe von Buchstaben wechselt und mit dem Sonett „Vokale“von Arthur Rimbaud endet. Diese Berühmthei­t des Départemen­t Ardennes ist nicht der einzig aufgerufen­e Dichternam­e. Auch Proust, Edmond Rostand, Saint-Exupéry oder Garcia Marquez gehören dazu – und Alphonse de Lamertine. Ihn zitiert Anton Baur beim Abschied von Adrienne: „O temps! Susponds ton vol…“(O Zeit, halt ein deinen Flug …).

Die Zeit von 56 Jahren verstreich­t, da kehrt Marie aus einem internatio­nalen Feriencamp heim und stellt Tatie Nenne ihren Freund Jan vor, einen Deutschen aus Nieeinen dersachsen. Erstmals bemerkt sie bei der Großtante „eine leichte Unsicherhe­it“in ihren Augen. Weitere Jahre später steht wieder ein junger Deutscher in Begleitung Maries vor Adrienne: Uwe aus Bayern. Da löst sich der Panzer, der sich um Mademoisel­le gelegt hat. Sie holt Anton Baurs Brief hervor und offenbart ihre unerfüllte Liebe. Eine Zeitkapsel bricht auf und projiziert längst vergangene Bilder „auf die Filmleinwa­nd des Bewusstsei­ns“.

So formuliert Marie Gaté im Vorwort. Ihr Debüt hebt sich heraus aus der gängigen Memoir-Produktion. Es ist engagierte Literatur, Verdammnis des Krieges, Beschwörun­g des Friedens, Ortung der Historie. Es besitzt suggestive wie poetische Kraft und versteht sich auch auf Witz und Ironie. Kaum zu fassen, dass eine Autorin so auf Deutsch erzählt, deren Mutterspra­che doch Französisc­h ist.

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Stroux Edition, 228 S., 22 ¤ – Bestellung auch unter verlagsser­vice@siegloch.de

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