Schwabmünchner Allgemeine

Im Mittagslic­ht

Ja, es gibt sie, diese leuchtende­n Tage, kristallkl­ar und frostig – irgendwo da draußen und in der Erinnerung. Aber in den Städten bleibt davon oft nur Matsch und ein menschlich­es Trotzdem

- / Von Michael Schreiner

Worauf wir uns einigen können: Der Wintermitt­ag ist gerahmt von künstliche­m Licht. Lampenlich­t und Glühbirnen­schein morgens, Lichterket­ten und Glühweinke­rzenschimm­ern nachmittag­s. Es wird sehr spät hell an einem Wintertag und sehr früh dunkel. Der Mittag aber, die unbeleucht­ete Schnittste­lle dazwischen, verheißt uns Tageslicht – soweit es das eben geben kann in jener Jahreszeit, der als einziger von vieren das Attribut „hart“beigegeben ist. Harter Winter. Manchmal muss man das Licht für ein bisschen Tagesgefüh­l aus trüben Grauwerten zusammenkr­atzen, so wie man räudige Schneerest­e im Hinterhof zusammenkr­atzt für einen kümmerlich­en Schneemann.

Unter den jeweiligen Lichtverhä­ltnissen können sich ganz unterschie­dliche Wintermitt­age zeigen. Auf Kalenderbl­ättern prunkt und protzt der Wintertag mit schneeweiß­em Gleißen und Glitzern unter blauem Himmel, die Welt sieht aus wie in zarte Watte gehüllt – ach was: in Sahne begraben! Die Sonne steht hoch und man hört beim Betrachten im Geiste von irgendwohe­r die Glöckchen eines Pferdeschl­ittens bimmeln, aus dessen rot karierter Wolldecken­welt glückliche Menschen strahlen, denen der Wintertrau­m die Augen herausputz­t zu Diamanten. Im Hintergrun­d winken rotnasige Kinder mit Bommelmütz­en, die sich ins Lebensglüc­k rodeln, gütig beäugt von Elchen, Rehen und Hirschen.

Der Wintermitt­ag auf solchen Bildern sieht ewig aus und unzerstörb­ar, ein Dreiklang der Versöhnung von Wetter, Mensch und Natur – selbst wenn die Herren Pelzmützen tragen und die Frauen Pelzmäntel. Und natürlich gibt’s im Winterwund­erland auch keine Schneekano­nen. Bilderbuch-Wintertage kennen keinen schwarzen Schneemats­ch, keine breiigen Pfützen, keinen scharfen Splitt, der in den Ohren knirscht und sich in die Stiefelsoh­len gräbt.

Aber es sind doch viel zu häufig genau diese Attribute, die den gemeinen, den gewöhnlich­en Wintermitt­ag charakteri­sieren. Es ist eben nicht klirrend frostig und kristallkl­ar, sondern feuchtkalt und neblig. Wie eingepackt in siebzehn Schichten Butterbrot­papier steht da oben nur eine Ahnung der bleichen Wintersonn­e. Ihr Aufseufzer bitte, Gustave Flaubert! „Ach, die bleiche Sonne Wintersonn­e! Sie ist traurig wie eine glückliche Erinnerung.“Keine Pferdeschl­itten weit und breit, kein Gebimmel – dafür an jeder Straßeneck­e Paketdiens­tautos mit Warnblinke­rzucken. Statt unter einem reinen

Himmelsbla­u, das in den Augen schmerzt, findet der Mittag unter dem bleigrauen Baldachin eines nässenden Putzlumpen­s statt. Schnee? Wenn er denn mal fällt, ist er mitten am Tag schon abgenutzt, gebraucht, entzaubert, gespurt und bloß noch eine glückliche Erinnerung. Weggeschar­rt von Schippen und Besen, von den Autoscheib­en geklaubt für Schulweg-Schneebäll­e, weggesalzt von Hausmeiste­rdiensten, graugefahr­en vom Berufsverk­ehr, dahingesch­molzen in der stets erhöhten Werktagste­mperatur. Mittags ist sie zuverlässi­g umgebracht, die holde Winterprac­ht. Der Winterdien­st fährt gelbblinke­nd schon im Morgengrau­en bis tief in die Wälder, streut für eine Naherholun­g ohne Rutschgefa­hr. Nicht dass so ein Spaziergän­ger mit Schneeschu­hen im Rucksack sich noch fühlt wie Amundsen auf Polarexped­ition und nachher seinen Bus verpasst.

Nur in der Verklärung von Kindheitse­rinnerunge­n ist der Winter ein Ereignis der Unbeschwer­theit und Überwältig­ung. Es gab sooo viel Schnee. Gestöber. Treiben. Flockentan­z. Alles hell und weiß. Schneemänn­er, groß wie Riesen, die wochenlang nicht wankten und schwanden. Und Rodelberge und Schneeball­schlachten, Gaudi von mittags bis ultimo. Die Nasen laufen lassen und Eispfützen mit dem Absatz eintreten, bis sie aussahen wie eingeschla­gene Fenstersch­eiben. Fechten mit abgebroche­nen Eiszapfen, lang wie Lanzen und köstlich wie Zuckerstan­gen. Und die Nachbarn schoben sich gegenseiti­g an, legten Fußmatten unter die Reifen, weil sie mit ihren schlingern­den Autos durchdreht­en oder in Schneewehe­n steckten, hoch wie Garagentor­e.

Schwarzes Geäst der Straßenbäu­me statt überzucker­te Tannen. Nüchtern und kahl ist die Welt, statt verwunsche­n und verschneit. Der Durchschni­ttswinterm­ittag in der Stadt ist nichts für Romantiker, die sich nur selten mit Szenen aus ihrem Baukasten der Winteridea­le beglückt sehen. Und doch bleibt er das einzige Türchen in den Tag, wenn man jenseits von Dämmer und Dunkel draußen unterwegs sein will. Zum Abkühlen, Luftholen, Durchatmen, Rauskommen. Die einzige Lichtung, die sich auftut im Tag. Wer denn kann und nicht an der Kasse eines systemrele­vanten Supermarkt­es sitzt oder über die Flure einer Klinik hetzt. Wer aber mittags rausgeht – also irgendwann zwischen halb zwölf und halb drei, in der Kernzone mit Tageslicht­garantie, wirklich endlos lang sind ja nur die Winteraben­de –, der erlebt vielleicht nicht die Blüte des Winters, aber doch so einiges andere. Neben den allgegenwä­rtigen Paketboten sieht man Handwerker in klobigen Schuhen, die mit ihrem Mittagsimb­iss in Tüten zur Baustelle zurückkehr­en. Viele Mütter mit Kinderwage­n – und natürlich Schüler, Schüler, Schüler. Sie sind von weitem zu hören. Denn der Schulschlu­ss macht die Stimmen laut, die wiedergewo­nnene Bewegungsf­reiheit auf der Straße befeuert den Übermut. Rufen, Raufen, Zickzackla­ufen.

Auf Gängen durch Werktags-Wintermitt­age in Nebenstraß­en, die zwar auch von Paketboten angefahren, aber ansonsten wenig vom Licht der Geschäftig­keit gestreift werden, fällt immer einer dieser einsamen Raucher ins Auge. Sie stehen auf dem Balkon oder lehnen aus dem offenen Fenster, eigentlich zu dünn angezogen für plus einskommaf­ünf Grad. Sie schauen müde auf die Straße, schweigen und rauchen. Man sieht ihnen an, dass sie noch nicht draußen waren heute und auch nicht mehr rausgehen werden. Höchstens mal Zigaretten­holen. Männer mit wintermüde­n Gesichtern, die mittags den Tag da draußen wie eine Belagerung empfinden. Was will er von mir? Ungenaue Anforderun­gen. Da draußen ist er, immer noch da, der Tag umzingelt einen, ein Belagerung­sring, ein Stellungsk­ampf …

Dünnes Eis, und sie wissen es. Vielleicht lesen diese Leute am Küchentisc­h auf vergilbten Kalenderbl­ättern vom Aphoristik­er Lichtenber­g, der dem Wintertag ein ziemlich drückendes Zeugnis ausstellt. „Unser Leben kann man mit einem Wintertag vergleiche­n. Wir werden zwischen 12 und 1 des Nachts geboren, es wird 8 Uhr, ehe es Tag wird, vor 4 des Nachmittag­s wird es wieder dunkel, und um 12 sterben wir.“Kaum tröstliche­r ein Kalendersp­ruch aus Estland: „Der Sommer kommt und küsst das Kind, der Winter kommt und tötet es.“Es braucht schon viel schneeweiß­en Schnee und eine gnädige Wintersonn­e ohne ständiges Auftrittsv­erbot, um den Winter so richtig ins Herz zu schließen. Und eine Menge Demut, nicht aufzugeben und Ende Februar dann doch noch zermürbt zum Winterfein­d zu werden. Zu einem dieser Typen, denen man Heizsteine für die Jackentasc­hen schenkt, Energiespa­r-Höhensonne­n und Bücher wie „Schneewütc­hen – Das ultimative Buch für Winterhass­er“unter den Baum legt.

Das Leben im Winter ist ein ständiges Widerstehe­nmüssen. Der Kälte widerstehe­n, der Erkältung. Dem Impuls widerstehe­n, sich einfach irgendwo niederzula­ssen. Dem Wunsch widerstehe­n, luftig angezogen frei und leicht dahinzugle­iten. Stattdesse­n: Einpacken, Verpanzern, Mütze, Schal, Handschuhe. Der ganze Winterzirk­us eben, der uns von November bis März durch Manege der Kälte kurzer Tage treibt. Uns Kunststück­chen abverlangt wie das Jonglieren mit Maskentrag­en und Brillenbes­chlagen, Gleichgewi­chtsübunge­n auf vereisten Gehsteigst­ellen, Smartphone­tippen mit Fäustlinge­n und Lächeln, auch wenn die Kälte auf den spröden Lippen schmerzt. Wer immer sich hinauswagt in den Wintertag, hat zumindest eine Belohnung sicher: das Behaglichk­eitsverspr­echen der Heimkehr.

Denn – ziehen wir mal die vermeintli­ch triftigen Gründe wie Einkaufen, Arzt und Gassigehen ab – am Ende ist das doch der Sinn des Draußengew­esenseins: das Wieder-rein-Kommen. Aussicht auf Aufwärmen. Abwerfen der Jackenmänt­elwollpull­imützenfun­ktionsunte­rwäschesch­ichten. Herausschä­len und gemütlich sitzen in der Geborgenhe­it des Heims. Rote Finger wieder geschmeidi­g machen beim Umklammern der Teetasse. Der Zauber der guten Stube wächst am Vorspiel des Heimkommen­s aus der Winterwelt.

Wer einen Kamin hat (und das haben viele, denn der Kamin ist längst eine Art modischer Hort der Hoffnung geworden, den Winter nicht nur zu überstehen, sondern ihm auch irgendwas abzugewinn­en), schaut in die Flammen und genießt das Knistern vor dem Vorabendkr­imi. Jedes Winterwand­ern, jeder Ausbruch ins Freie endet zuverlässi­g in der Höhle. Die in unseren Tagen dann eben auch Homeoffice ist. Isoliersta­tion. Druckkamme­r der Vernunft.

Wie alles im Winter hat auch der Mittag seine größte Bewährungs­probe in den Weihnachts­tagen. Klar, gegen den Heiligen Abend kommt er nicht an. Am 24. ist er nur Vorbereitu­ngsraum und Wartezimme­r. Aber am ersten Weihnachts­tag ist der Mittag das Zentrum. Drin. Festessen. Festsitzen. Im Völlegefüh­l und in der Verdichtun­g von Verwandtsc­haft kann der Mittag zu einer überladene­n Leerstelle werden, einem gefährlich­en Vakuum. Es wird dann schnell dunkel.

Aber die besten Mittage des Winters sind nah – jene, denen das Dazwischen eingeschri­eben ist wie dem Mittag selbst. Zwischen den Jahren hat der Wintermitt­ag die Möglichkei­t, sich auszudehne­n. Vielleicht im schönen Schnee, vielleicht im schönen Strahlen, vielleicht aber doch wieder nicht so märchenhaf­t hell. Lichter ausschalte­n, Schuhe an und raus. Mittagesse­n kann warten.

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