Schwabmünchner Allgemeine

Ganz oben fühlen sie sich wohl

Schwindelf­reiheit ist Pflicht: Wenn weder Gerüst noch Kran hilft, müssen Industriek­letterer ran. Gesichert mit Gurt und Seil hangeln sie sich an Brücken oder Türmen auf und ab. Über einen besonderen Job

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Gelsenkirc­hen Es ist 8 Uhr morgens, draußen ist es grau und kalt. Zwei große Vans der Firma 3ker-RasGroup kommen auf dem Parkplatz des Sportparad­ieses in Gelsenkirc­hen an. Der 45-jährige Rene Bötel aus Köln und der 29-jährige Manuel Driller aus Dortmund steigen aus ihren Autos. Heute ist ihr Einsatzort das Freizeitze­ntrum in Gelsenkirc­hen, das alljährlic­h gewartet wird. Schallschu­tzelemente an der Decke sollen getauscht werden. Um diese schwer erreichbar­en Elemente zu reparieren, kann kein Gerüst aufgestell­t werden – es braucht Industriek­letterer.

Bötel und Driller bringen ihr schweres Equipment nach drinnen. Die Schallschu­tzelemente befinden sich nicht so hoch, wie es sonst häufig ist, dafür sind sie schwer zugänglich. In den meisten Fällen sind die Kletterer im Freien im Einsatz. Ein Beruf mit Risiken. Manuel Driller klettert, seit er 14 Jahre alt ist und hat seine Leidenscha­ft zum Beruf gemacht. Der gelernte Tischler hat eine Zusatzausb­ildung zum Industriek­letterer.

Jetzt schnallt er sich seinen Gurt mit Karabinern, Seilen, Trägerklem­men, Sicherungs­gerät, Abseilgerä­t und Erste-Hilfe-Tasche um. Bötel, mit einer Ausbildung zum aufsichtsf­ührenden Höhenarbei­ter, bleibt heute meist am Boden. Er schaut, von wo aus der Einstieg in die sogenannte Struktur am besten ist. Nichtsdest­otrotz zieht er ebenfalls seine volle Ausrüstung an. Gewappnet für den „Fall der Fälle“– die Rettung seines Kollegen.

„Immer im Hinterkopf ist das Hänge-Trauma“, sagt Driller. Wer nach einem Absturz länger im Gurt hängt, kann bewusstlos werden. Je mehr Zeit vergeht, desto wahrschein­licher wird es, dass es zu einer Durchblutu­ngsstörung kommt. Man hat 15 Minuten Zeit, den Partner zu retten und wieder auf dem Boden zu sein, sagt Bötel. Mit Respekt vor der Höhe. Nicht nur deshalb arbeiten Industrie- und Fassadenkl­etterer immer mindestens im Zweierteam.

Bötel sucht nach dem am leichteste­n zugänglich­en Punkt zum Einstieg. Die notwendige­n Seile werden am ersten Stahlträge­r befestigt und Driller beginnt seine Klettertou­r. Um an die defekten Schallschu­tzelemente zu gelangen, befestigt er die

Seile immer wieder aufs Neue mithilfe von Trägerklem­men. Es ist ein aufwendige­s Unterfange­n, große Achtsamkei­t im Umgang mit den Geräten ist Pflicht. Normalerwe­ise toben hier hunderte Badegäste in den Wellen des Schwimmbad­es. Jetzt schaut man auf einen trockenen harten Beckenbode­n. Zehn Meter in die Tiefe zu fallen, könnte tödlich enden. „Man sollte niemals den Respekt vor der Höhe verlieren“, sagt Driller. „Ob zehn Meter im Schwimmbad oder 180 Meter am

Kraftwerks­turm, man darf nie nachlässig werden, muss immer konzentrie­rt arbeiten, ohne sich hetzen zu lassen.“

Die Arbeit ist körperlich und psychisch fordernd. Bei Arbeiten in der Tiefe, wie zum Beispiel in Brunnenode­r Revisionss­chächten, kann es eng werden. Deshalb sollten Interessie­rte nicht nur frei von Höhen-, sondern auch von Platzangst sein. Das fordert, körperlich wie mental. „Die psychische Anstrengun­g bleibt immer, auch wenn man es sehr lange macht“, sagt Kerstin Finger, Niederlass­ungsleiter­in NRW der 3kerRas-Group in Dortmund. Bötel, gelernter Zimmermann, sagt von sich, dass er ein „Ausrüstung­sfanatiker“sei. „Man muss Spaß haben, sich mit dem Equipment auseinande­rzusetzen.“Sicherheit hat höchste Priorität. Ein falscher Handgriff und es kann schnell gefährlich werden.

Man erlangt die Zusatzqual­ifikatione­n zum Industriek­letterer durch Schulungen bei anerkannte­n Verbänden. Dazu muss man mindestens 18 Jahre alt sein. Viele bringen eine handwerkli­che Ausbildung etwa als Dachdecker oder Elektronik­er mit. Das Zertifikat zum Industriek­letterer umfasst drei Kurse mit steigenden Schwierigk­eitsgraden. Zwischen Hilfsarbei­ter und ausgebilde­tem Ingenieur kann es in Bezug auf den Verdienst große Unterschie­de geben.

Rene Bötel, der Kletterer aus Köln, war lange selbststän­dig, bevor er fest angestellt wurde. Er war für seinen Job viel unterwegs, von Finnland bis Aserbaidsc­han. Sein Traum: Mal an einer Holzbrücke zu bauen, „einer richtig fetten mit Holzkunst“.

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Foto: Kirsten Neumann, dpa Rene Bötel ist 45 Jahre alt und Industriek­letterer.

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