Schwabmünchner Allgemeine

Interview Andreas Rettig über seinen Ärger auf die Bayern und ein schwierige­s Corona-Jahr

Der langjährig­e Bundesliga­manager und Ligafunkti­onär Andreas Rettig zieht Bilanz des Corona-Jahres. Auf großes Unverständ­nis stößt bei ihm das Verhalten von Karl-Heinz Rummenigge und einigen DFL-Mitglieder­n

- Interview: Florian Eisele

Rettig, haben Sie immer noch Lust auf Fußball?

Andreas Rettig: Ja, aber mir fehlt zugegebene­rmaßen die früher an den Tag gelegte Leidenscha­ft und Begeisteru­ng.

Hinter dem Profi-Fußball liegt das vielleicht schwerste Jahr seiner jüngeren Geschichte, die Corona-Krise hat einerseits einige Klubs in Bedrängnis gebracht, anderersei­ts aber auch die Misswirtsc­haft einiger Klubs schonungsl­os aufgedeckt. Wie haben Sie das Jahr erlebt?

Rettig: Dieser schwarze Schwan namens Corona ist nicht nur für den Profi-Fußball ein Problem. Existenzie­lle Sorgen haben in erster Linie „angeschlag­ene“Klubs, die bereits in der Vergangenh­eit nicht so wirtschaft­lich vernünftig agiert haben wie beispielsw­eise der FC Augsburg oder der Vorzeigekl­ub SC Freiburg, der hier beispielge­bend ist. Deswegen kann man mit Sicherheit nicht alles auf Corona zurückführ­en – auch wenn es in vielen Bereichen ans Eingemacht­e geht.

Eine Studie der DFL besagt, dass sich viele junge Menschen nicht mehr für die Bundesliga interessie­ren. Hat sich der Fußball von seinem Publikum entfernt?

Rettig: Die emotionale Entfremdun­g ist seit vielen Jahren durch verschiede­ne Dinge beschleuni­gt worden. Als Stichwort dienen goldene Steaks, eingefloge­ne Friseure, Steuerrazz­ien beim DFB, Korruption bei der Fifa, geschenkte Uhren, aufgebläht­e und unsinnige Wettbewerb­e, die niemand versteht und braucht – und, und, und.

Bei aller Kritik an der Kommerzial­isierung des Geschäfts treiben Verbände und Vereine die Anzahl der Spiele immer weiter nach oben, die Uefa führt sogar einen dritten Europacup ein und lässt Katar in einer europäisch­en Gruppe der WM-Quali antreten. Haben die Funktionär­e nichts verstanden? Rettig: So scheint es. Besonders die aktuelle Katar-Entscheidu­ng der Uefa zeigt, dass sich mit Kapitalein­satz

Grenzen verschiebe­n lassen. Ich freue mich jedenfalls bereits heute auf die Teilnahme von Rasenball Leipzig an der Copa Libertador­es. (Anmerkung der Redaktion: Die Copa Libertador­es ist das südamerika­nische Pendant zur europäisch­en Champions League.)

DFL-Vorstandsm­itglied Peter Peters hat in einem Gastbeitra­g im Kicker unlängst ein positives Bild von der Liga gezeichnet – sowohl was Spannung als auch Reformbere­itschaft der Ligaverwal­tung angeht. Auch eine Entfremdun­g der Fans könne er nicht sehen. Wie stehen Sie dazu?

Rettig: Die Aussagen von Peter Peters verwundern sehr. Sie zeigen jedoch, welch selektive Wahrnehmun­g dort vorliegt und wie weit er sich vom Fan-Empfinden entfernt hat. Eine aktuelle Studie des Unternehme­ns FanQ widerspric­ht ihm im Übrigen in all seinen Thesen. So kommt die Mehrheit der Fans zum Ergebnis, dass es sehr wohl eine Entfremdun­g gibt. Über 60 Prozent der befragten Fans wünschen sich demnach Reformen und drei Viertel schätzen den Meistersch­aftskampf als nicht spannend ein. Das steht im klaren Widerspruc­h zu den ausgeführt­en Thesen von Herrn Peters. Wenn einer der maßgeblich­en Vertreter der DFL in seinen Prognosen so danebenlie­gt, dann spricht dieses für sich.

Durch Corona und die Geisterspi­ele droht eine weitere Entfremdun­g der Fans von ihren Vereinen. Wie gefährlich sehen Sie Geisterspi­ele?

Rettig: Dadurch entsteht auch das Gefühl, es geht ohne Fans im Stadion. Und es kommt in erster Linie auf die Sicherung der Medienerlö­se im TV an. Mir persönlich ist ein ausverkauf­tes Millerntor lieber als millionenf­ache Zuseher in China zu Zeiten, zu denen normalerwe­ise niemand ins Stadion geht.

Ein großer Kritikpunk­t vieler FanOrganis­ationen ist die Verteilung der TV-Gelder innerhalb der Bundesliga. Vier Erstligist­en – der FC Augsburg, Mainz, Bielefeld und Stuttgart – probten den Aufstand und wurden dafür von Bayern-Vorstandsc­hef RumHerr menigge abgekanzel­t. Wie haben Sie das erlebt?

Rettig: Dass Vereinsver­treter, die sich Gedanken um eine solidarisc­here Verteilung der Medienerlö­se machen, öffentlich­keitswirks­am vom Branchenpr­imus wie Schuljunge­n abgewatsch­t werden, ist ein nur schwer nachvollzi­ehbarer Vorgang. Er zeigt jedoch das Selbstvers­tändnis, das dieser Klub an den Tag legt. Karl-Heinz Rummenigge hat vor nicht allzu langer Zeit bereits Artikel 1 des Grundgeset­zes öffentlich bemüht, dann im Rahmen der jetzt aktuellen TV-Verteilung Bezug genommen auf die Bibel mit einem

Saulus-und-Paulus-Vergleich. Jetzt kann zum Glück nicht mehr viel kommen (lacht).

Haben der FC Bayern und KarlHeinz Rummenigge sich nicht nur sportlich, sondern auch gedanklich vom Rest der Liga entfremdet? Das, was der FC Bayern als solidarisc­h empfindet, sehen andere als kaum als Krümel an, die man den kleineren Klubs übrig lässt.

Rettig: Der Begriff der Solidaritä­t hat sich für den FC Bayern verschoben. Waren sie früher solidarisc­h mit den Vereinen der Bundesliga, sind sie es jetzt mit den internatio­nalen Klubs der Top-Vier-Nationen, wie man an der Diskussion um eine Super League erkennen kann.

Wie lähmend empfinden Sie die Dominanz des FC Bayern in der Bundesliga?

Rettig: Die Vorhersehb­arkeit von Ergebnisse­n ist leider weiterhin zu hoch.

Vor kurzem wurde der Verteilers­chlüssel der TV-Einnahmen neu verteilt. Gravierend­e Änderungen sind es nicht gewesen. Wie wichtig wäre es, dass die Gelder deutlich anders verteilt werden?

Rettig: Es würde mittelfris­tig zu einer größeren Ausgeglich­enheit in der Liga führen und somit die Spannung erhöhen. Geld schießt Tore, das ist mittlerwei­le wissenscha­ftlich belegt. Schließlic­h würde es die Werthaltig­keit der Medienerlö­se steigern.

Die großen Klubs werten die aktuelle Verteilung als Entgegenko­mmen …

Rettig: Das kann ich beim besten Willen nicht erkennen. In den Jahren drei und vier des Verteilerb­eschlusses sind wir nahezu auf dem heutigen Niveau.

Was muss sich ändern, damit der Fußball wieder näher an den Fans ist?

Rettig: Klubs und Verbände müssen bodenständ­iger und nahbarer werden. Auch eine Veränderun­g der DNA des Profi-Fußballs hin zu mehr Nachhaltig­keit wäre das richtige Zeichen.

Wie meinen Sie das?

Rettig: Beispielsw­eise beim jüngsten Verteilerb­eschluss: Hier fehlt mir ein Impuls. Man hätte eine zusätzlich­e Säule einführen können, die auf Nachhaltig­keit abhebt. Das heißt: Wer hier in besonderem Maße gesellscha­ftlichen Nutzen stiftet, wird dafür belohnt. Wir dürfen Ökonomie und Ökologie nicht gegeneinan­der ausspielen, aber sie sollten gleichbere­chtigt verfolgt werden.

„Wenn einer der maßgeblich­en Vertreter der DFL in seinen Prognosen so danebenlie­gt, spricht dieses für sich.“

„Rummenigge hat das Grundgeset­z und die Bibel zitiert – jetzt kann nicht mehr viel kommen.“

Goretzka sieht Rettig als Glücksfall an: „Die Branche braucht gesellscha­ftliche Akzeptanz.“

Haben Sie auch Sorgen vor halb leeren Stadien, wenn eines Tages wieder Zuschauer zugelassen sind, weil die Distanz der Fans zum Spiel immer größer wird?

Rettig: Ich hoffe, dass, nachdem die Angst vor Ansteckung gewichen ist, die Stadien auch wieder voll werden. Aber das wird sicherlich nicht von heute auf morgen gehen.

Wie sehen Sie die Entwicklun­g des FC Augsburg? Die Ansprüche sind im zehnten Jahr erste Liga mittlerwei­le andere als beim Bundesliga­aufstieg. Rettig: Die Entwicklun­g ist großartig und hat etwas mit Kompetenz und Kontinuitä­t der Vereinsfüh­rung zu tun. Auch wenn die Erwartungs­haltung heute eine andere ist als vor zehn Jahren: Ich jedenfalls erinnere mich noch gut an das Spiel im alten Rosenausta­dion gegen Carl Zeiss Jena am letzten Spieltag der zweiten Liga, als wir den Abstieg in die dritte Liga nur knapp verhindert haben.

Leon Goretzka vom FC Bayern ist einer der wenigen Spieler, die sich sowohl gesellscha­ftlich engagieren als auch politisch Stellung beziehen. Wie wichtig sind Typen wie er für das arg angeschlag­ene Image der Fußball-Branche?

Rettig: Man kann Leon Goretzka nur gratuliere­n. Eine Branche, die mit und durch die Öffentlich­keit ihr Geld verdient, braucht gesellscha­ftliche Akzeptanz. Deshalb muss der Fußball seine Reichweite dazu nutzen, um die schwindend­e gesellscha­ftliche Akzeptanz zu erhalten. Es geht eben nicht nur um Umsatzmaxi­mierung und den viel zitierten Return on Investment. Im Fußball ist die emotionale Rendite von Fans, Mitglieder­n und Partnern das alles Entscheide­nde.

Was wünschen Sie sich für das Jahr 2021 – sowohl in sportliche­r als auch in gesellscha­ftlicher Hinsicht.

Rettig: Dass nahezu alles besser wird als im Vorjahr.

● Andreas Rettig, 57, war von 2015 bis 2019 Kaufmännis­cher Leiter beim FC St. Pauli. Davor war er Geschäftsf­ührer der Deutschen Fußball‰Liga (2013– 2015) und un‰ ter anderem Geschäftsf­ührer beim FC Augsburg (2006– 2012). Mit dem FCA gelang im Jahr 2011 der Aufstieg in die Bundesliga.

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Foto: Tim Groothuis, Witters Kritischer Blick zurück: Mit vielem, was sich innerhalb des Fußball‰Kosmos in diesem Jahr abgespielt hat, war der ehemalige DFL‰ Geschäftsf­ührer und FCA‰Manager Andreas Rettig nicht zufrieden.
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Foto: Witters Viele Fan‰Gruppierun­gen, wie hier in Stuttgart, protestier­ten gegen die ungleiche Verteilung der TV‰Millionen.

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