Alles anders
Weihnachten wird in diesem Jahr stiller. Einsamer. Ein bisschen trauriger. Wie das Coronavirus die Feiertage verändert, was die Pandemie mit der Stimmung der Menschen macht und ob das Fest trotz allem nicht auch besinnlicher sein kann
Augsburg Der graue Schneematsch, der wie ein alter, schmutziger Spülschwamm daliegt, ist – wenn man so will – ein bisschen symbolisch für diese Zeit. Denn die Hoffnung, irgendwie doch noch normale Weihnachten feiern zu können, ist dahingeschmolzen. Und wie der Schnee, dessen kläglicher Rest noch anderthalb Wochen vor Weihnachten auf dem Augsburger Rathausplatz liegt, schwand in den vergangenen Tagen auch diese ganz besondere, wohlige Stimmung, die die Menschen zu dieser Jahreszeit eigentlich so warm einhüllt wie ein Daunenparka.
Siegfried Neiß klappt den Kragen seiner Jacke nach oben. Ein kalter Wind weht über den Platz vor dem Augsburger Rathaus, ein paar Menschen laufen mit Einkaufstüten über das Kopfsteinpflaster – weit weniger, als es in normalen Jahren wären. Doch normal ist in diesem Jahr eben gar nichts. Das hat auch Neiß zu spüren bekommen. Seit 1977 hilft er beim berühmten Augsburger Engelesspiel mit, das in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie ausfällt – wie so vieles andere. Neiß blickt wehmütig hinüber zum Balkon am Rathaus, wo für gewöhnlich die Engel zu sehen sind. „Ich finde das schrecklich“, sagt Neiß, 81 Jahre, karierte Mütze, beige Winterjacke. Dann dreht er sich um, geht ein paar Schritte, bleibt noch einmal stehen und sagt: „Aber es hilft ja alles nichts. Die Gesundheit geht vor.“
Seit unsere Gesundheit von diesem winzigen Virus, das so großen Schaden anrichten kann, bedroht wird, ist kaum mehr etwas, wie es war. Auch Weihnachten nicht. Es gibt in diesen merkwürdigen Tagen keine Christkindlesmärkte, keine Glühweinschänken, weil Alkohol unter freiem Himmel verboten ist, keine Konzerte, in denen der Nussknacker gespielt wird, und wer in der Kirche Weihnachtslieder singen möchte, der darf das nicht. Angesichts dieser Veränderungen, dieser Verluste lieb gewonnener Traditionen fragt man sich schon, was die Pandemie, die seit Monaten unser Leben auf den Kopf stellt, mit der Stimmung der Menschen macht.
Wird es ein einsames, trauriges Fest? Ein Tag, der wieder überschattet sein wird von neuen hohen Inzidenzzahlen und vielen neuen Todesfällen? Oder wird Weihnachten heuer sogar besinnlicher? Weil wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, auf das Feiern im engsten Familienkreis, ohne diesen ganzen weihnachtlichen Konsumwahn? Kurzum: Erleben wir in diesem Jahr eine wahre stille Nacht? Auch wenn das vielleicht zu hoch gegriffen scheint: Stiller als in anderen Jahren ist diese Weihnachtszeit in jedem Fall.
Dass das nicht nur ein Gefühl ist, belegen auch Zahlen. Das Kölner Start-up-Unternehmen Hystreet misst seit zwei Jahren mittels Laserscannern die Anzahl von Passanten in deutschen Innenstädten. In Augsburger Annastraße waren den Daten zufolge am letzten Samstag vor Weihnachten – normalerweise Großkampftag in der Fußgängerzone – etwa 5300 Menschen unterwegs. Der Durchschnittswert aller vergangenen Samstage seit Beginn der Datenerhebung liegt allerdings bei fast 16000 Passanten – es waren also deutlich weniger Menschen unterwegs, was angesichts des geltenden Lockdowns nicht allzu überraschend ist.
Auch Siegfried Neiß erlebt derzeit eher ruhige Tage. Der Bergwachtler sorgt normalerweise dafür, dass die Darsteller beim Engelesspiel auf dem Augsburger Rathausplatz mit Karabinerhaken gesichert sind und nicht vom Himmel fallen. Wenn die Show vorbei ist, genießt er von oben gerne noch den Blick auf das Lichtermeer. „Für mich gehört das zu Weihnachten einfach dazu. In diesem Jahr fehlt mir das schon sehr“, sagt Neiß und blickt hinüber zum Christbaum, der auf dem großen, leeren Platz wenigstens ein bisschen Weihnachtsstimmung verbreitet. „Unsere Wohnung ist schon länger weihnachtlich geschmückt, die Stimmung ist also schon da – aber anders ist es trotzdem“, fährt der 81-Jährige fort. Dann blickt er ein wenig nachdenklich auf die Lichterkette, die um den großen Christbaum geschlungen ist, und sagt: „Vor ein paar Monaten hätte ich nie gedacht, dass es so kommen wird. Dass die Infektionszahlen wieder so steigen und dass Corona so große Auswirkungen auf Weihnachten haben wird.“
Wie groß diese Auswirkungen, die Beschränkungen für die Menschen, tatsächlich sein müssen, darüber wurde in den vergangenen Wochen in der Politik hitzig debattiert. Einige Bundesländer wie Schleswig-Holstein oder Baden-Württemberg sprachen sich früh gegen Lockerungen über die Festtage aus. Andere Länder, darunter Bayern, sperrten sich zunächst gegen scharfe Kontaktbeschränkungen zum Fest – lenkten dann aber ein. Ursprünglich war geplant, dass sich im Freistaat über die Feiertage bis zu zehn Menschen – Kinder ausgenommen – aus beliebig vielen Haushalten treffen dürfen. Diese Sonderregelung wurde angesichts der in die Höhe schnellenden Infektionszahlen wieder einkassiert. Mittlerweile gilt, dass sich die Angehörigen eines Haushalts mit maximal vier weiteren Personen verabreden dürfen. Auch hier werden Kinder unter 14 Jahren nicht mitgezählt.
Wie ernst die Lage ist und wie anders Weihnachten werden wird, machte Bayerns Ministerpräsident Söder dann Mitte Dezember in einer Regierungserklärung deutlich: „Corona ist die Katastrophe unserer Zeit. Wir müssen die Notbremse ziehen.“Die Zeit der Ausnahmen sei vorbei. Solche Worte hätte sich Angela Merkel wohl schon früher gewünscht. Die Bundeskanzlerin hatte immer und immer wieder, beinahe gebetsmühlenartig, gesagt, dass ihr die Beschlüsse der Länder nicht weit genug gehen. Am 9. Dezember schließlich mahnte sie im Bundestag erneut, die Warnungen der Wissenschaft ernst zu nehmen, härter durchzugreifen, die Kontakte massiv zu reduzieren. Sie fand dabei Worte, die für die sonst eher nüchterne Physikerin höchst ungewöhnlich sind: „Es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir dafür den Preis zahlen, dass wir Todeszahlen am Tag von 590 Menschen haben, dann ist das nicht akzeptabel aus meiner Sicht.“
Manfred Becker-Huberti hat – wie so viele andere Menschen im Land – die Debatte verfolgt. Für ihn ist die Frage, wie Weihnachten denn nun werden darf, wie die Menschen auf die Regeln reagieren und was das mit ihrer Stimmung macht, mehr als nur ein persönliches Interesse, es ist auch ein wissenschaftliches. BeckerHuberti ist Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar – und Weihnachtsforscher.
„Es ist, als hätte sich ein Brennglas zwischen Weihnachten und die Menschen geschoben, das nun vieles sichtbar macht“, sagt Becker-Huberti im Gespräch mit unserer Redaktion. „Für die einen konzentriert sich alles auf den religiösen Aspekt, und das kann man sehr reduziert erfahren.“Für die anderen indes, für die Äußerlichkeiten wie all der Glanz, die Geschenke oder der Glühwein entscheidend sind, für die sei es schlimmer, weil sie das Gefühl hätten, dass ihnen etwas genommen wurde, erklärt er. „Aber vielleicht bekommen sie so nun einen neuen Zugang zu Weihnachten.“Dass die Corona-Pandemie den weihnachtlichen Konsumwahn allzu stark bremst, glaubt der Theologe aber nicht. „Ich bin skeptisch, dass sich viele Menschen vom Konsum abwenden werden.“
Fest steht jedenfalls: Es wird in diesem Jahr anders gefeiert – vor allem mit weniger Menschen. Um sich zu vergegenwärtigen, dass wichtige Menschen fehlen, etwa die Großeltern, die alleine feiern, um das Risiko einer Infektion zu verringern, könne man einen alten Brauch wiederbeleben, sagt Becker-Huberti: ein zusätzliches Gedeck auf dem Tisch. Traditionell soll das zum eider nen an die erinnern, die nicht da sind, aber auch bereitstehen, falls ein Bedürftiger an die Tür klopft.
Wird dieses Weihnachten denn nun automatisch besinnlicher, stiller? Schließlich fällt alles eine Nummer kleiner aus. „Ja, ich glaube, dass dieses Weihnachten stiller werden wird – möglicherweise aber auch konfliktreicher“, sagt der Weihnachtsforscher. Schon in normalen Jahren müsse die Polizei schließlich immer wieder eingreifen, weil es zu Familienstreitigkeiten kommt. „In diesem Jahr sind noch viel mehr Emotionen im Spiel, weil viele Menschen durch die Pandemie in ein tiefes Loch gefallen sind.“Es gebe eben zwei Arten von Stille, erklärt der katholische Theologe: die, die von den Menschen als positiv, besinnlich und beruhigend empfunden werde, und die, die einem aufgezwungen wird, was dann
Kein Gesang, keine Buden, keine Konzerte
Das Alleinsein kann man auch positiv nutzen
eben zu negativen Gefühlsausbrüchen führen könne.
Ein Teil der Menschen werde sich sicherlich mehr besinnen, fährt Weihnachtsforscher Becker-Huberti fort. „Der andere Teil indes wird vieles als völlig sinnlos empfinden. Den Menschen, die Sinn suchen, müssen wir einen Weg zeigen.“Denn das Alleinsein könne auch positiv genutzt werden, man könne Zugang zu anderen Dingen finden, etwa zu Texten, die man schon lange lesen wollte.
Dass diese Tage ein wenig einsamer sind als in anderen Jahren, das weiß auch Franz Mayr. Er steht im Innenhof des Klosters Maria Medingen im Landkreis Dillingen. Die Büsche und Bäume sehen an diesem Wintermorgen, an dem die Temperaturen nicht über den Gefrierpunkt klettern wollen, aus, als wären sie mit Puderzucker bestäubt. Mayr, schwarzer Anorak, dunkle Jeans, heller Mundschutz, geht vom Parkplatz in Richtung Klosterkirche, grüßt eine Schwester der Dillinger Franziskanerinnen, bleibt stehen und deutet auf eine Wiese.
„Hier findet normalerweise der Adventsmarkt statt“, sagt Mayr, der die Veranstaltung für gewöhnlich organisiert – und in diesem Jahr schweren Herzens absagen musste. „Der Markt ist sehr beliebt, pro Tag waren etwa 2000 Besucher da“, sagt Mayr. Der Mann schüttelt den Kopf, so, als würde er sich gerade vorstellen, wie es hier hätte aussehen können, wenn es keine Pandemie gäbe. Wie die vielen Lichter und Lämpchen der Buden die Klostermauern erhellen würden, Glühweindampf in die Nacht wabern würde. „Man kommt nicht so recht in Weihnachtsstimmung. Corona schwebt über allem“, sagt er dann, hält kurz inne und fügt hinzu: „Das ist in diesem Jahr einfach ein ganz anderes Fest.“
Dann dreht er sich um, geht zurück zum Parkplatz. Hinter ihm auf der Wiese liegt noch ein bisschen Schnee. Bald wird nurmehr grauer Matsch übrig sein, der auch verschwinden wird. Wie die Hoffnung auf ein normales Weihnachtsfest, die längst dahingeschmolzen ist.