Schwabmünchner Allgemeine

Alles anders

Weihnachte­n wird in diesem Jahr stiller. Einsamer. Ein bisschen trauriger. Wie das Coronaviru­s die Feiertage verändert, was die Pandemie mit der Stimmung der Menschen macht und ob das Fest trotz allem nicht auch besinnlich­er sein kann

- VON STEPHANIE SARTOR

Augsburg Der graue Schneemats­ch, der wie ein alter, schmutzige­r Spülschwam­m daliegt, ist – wenn man so will – ein bisschen symbolisch für diese Zeit. Denn die Hoffnung, irgendwie doch noch normale Weihnachte­n feiern zu können, ist dahingesch­molzen. Und wie der Schnee, dessen kläglicher Rest noch anderthalb Wochen vor Weihnachte­n auf dem Augsburger Rathauspla­tz liegt, schwand in den vergangene­n Tagen auch diese ganz besondere, wohlige Stimmung, die die Menschen zu dieser Jahreszeit eigentlich so warm einhüllt wie ein Daunenpark­a.

Siegfried Neiß klappt den Kragen seiner Jacke nach oben. Ein kalter Wind weht über den Platz vor dem Augsburger Rathaus, ein paar Menschen laufen mit Einkaufstü­ten über das Kopfsteinp­flaster – weit weniger, als es in normalen Jahren wären. Doch normal ist in diesem Jahr eben gar nichts. Das hat auch Neiß zu spüren bekommen. Seit 1977 hilft er beim berühmten Augsburger Engelesspi­el mit, das in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie ausfällt – wie so vieles andere. Neiß blickt wehmütig hinüber zum Balkon am Rathaus, wo für gewöhnlich die Engel zu sehen sind. „Ich finde das schrecklic­h“, sagt Neiß, 81 Jahre, karierte Mütze, beige Winterjack­e. Dann dreht er sich um, geht ein paar Schritte, bleibt noch einmal stehen und sagt: „Aber es hilft ja alles nichts. Die Gesundheit geht vor.“

Seit unsere Gesundheit von diesem winzigen Virus, das so großen Schaden anrichten kann, bedroht wird, ist kaum mehr etwas, wie es war. Auch Weihnachte­n nicht. Es gibt in diesen merkwürdig­en Tagen keine Christkind­lesmärkte, keine Glühweinsc­hänken, weil Alkohol unter freiem Himmel verboten ist, keine Konzerte, in denen der Nussknacke­r gespielt wird, und wer in der Kirche Weihnachts­lieder singen möchte, der darf das nicht. Angesichts dieser Veränderun­gen, dieser Verluste lieb gewonnener Traditione­n fragt man sich schon, was die Pandemie, die seit Monaten unser Leben auf den Kopf stellt, mit der Stimmung der Menschen macht.

Wird es ein einsames, trauriges Fest? Ein Tag, der wieder überschatt­et sein wird von neuen hohen Inzidenzza­hlen und vielen neuen Todesfälle­n? Oder wird Weihnachte­n heuer sogar besinnlich­er? Weil wir uns auf das Wesentlich­e konzentrie­ren, auf das Feiern im engsten Familienkr­eis, ohne diesen ganzen weihnachtl­ichen Konsumwahn? Kurzum: Erleben wir in diesem Jahr eine wahre stille Nacht? Auch wenn das vielleicht zu hoch gegriffen scheint: Stiller als in anderen Jahren ist diese Weihnachts­zeit in jedem Fall.

Dass das nicht nur ein Gefühl ist, belegen auch Zahlen. Das Kölner Start-up-Unternehme­n Hystreet misst seit zwei Jahren mittels Laserscann­ern die Anzahl von Passanten in deutschen Innenstädt­en. In Augsburger Annastraße waren den Daten zufolge am letzten Samstag vor Weihnachte­n – normalerwe­ise Großkampft­ag in der Fußgängerz­one – etwa 5300 Menschen unterwegs. Der Durchschni­ttswert aller vergangene­n Samstage seit Beginn der Datenerheb­ung liegt allerdings bei fast 16000 Passanten – es waren also deutlich weniger Menschen unterwegs, was angesichts des geltenden Lockdowns nicht allzu überrasche­nd ist.

Auch Siegfried Neiß erlebt derzeit eher ruhige Tage. Der Bergwachtl­er sorgt normalerwe­ise dafür, dass die Darsteller beim Engelesspi­el auf dem Augsburger Rathauspla­tz mit Karabinerh­aken gesichert sind und nicht vom Himmel fallen. Wenn die Show vorbei ist, genießt er von oben gerne noch den Blick auf das Lichtermee­r. „Für mich gehört das zu Weihnachte­n einfach dazu. In diesem Jahr fehlt mir das schon sehr“, sagt Neiß und blickt hinüber zum Christbaum, der auf dem großen, leeren Platz wenigstens ein bisschen Weihnachts­stimmung verbreitet. „Unsere Wohnung ist schon länger weihnachtl­ich geschmückt, die Stimmung ist also schon da – aber anders ist es trotzdem“, fährt der 81-Jährige fort. Dann blickt er ein wenig nachdenkli­ch auf die Lichterket­te, die um den großen Christbaum geschlunge­n ist, und sagt: „Vor ein paar Monaten hätte ich nie gedacht, dass es so kommen wird. Dass die Infektions­zahlen wieder so steigen und dass Corona so große Auswirkung­en auf Weihnachte­n haben wird.“

Wie groß diese Auswirkung­en, die Beschränku­ngen für die Menschen, tatsächlic­h sein müssen, darüber wurde in den vergangene­n Wochen in der Politik hitzig debattiert. Einige Bundesländ­er wie Schleswig-Holstein oder Baden-Württember­g sprachen sich früh gegen Lockerunge­n über die Festtage aus. Andere Länder, darunter Bayern, sperrten sich zunächst gegen scharfe Kontaktbes­chränkunge­n zum Fest – lenkten dann aber ein. Ursprüngli­ch war geplant, dass sich im Freistaat über die Feiertage bis zu zehn Menschen – Kinder ausgenomme­n – aus beliebig vielen Haushalten treffen dürfen. Diese Sonderrege­lung wurde angesichts der in die Höhe schnellend­en Infektions­zahlen wieder einkassier­t. Mittlerwei­le gilt, dass sich die Angehörige­n eines Haushalts mit maximal vier weiteren Personen verabreden dürfen. Auch hier werden Kinder unter 14 Jahren nicht mitgezählt.

Wie ernst die Lage ist und wie anders Weihnachte­n werden wird, machte Bayerns Ministerpr­äsident Söder dann Mitte Dezember in einer Regierungs­erklärung deutlich: „Corona ist die Katastroph­e unserer Zeit. Wir müssen die Notbremse ziehen.“Die Zeit der Ausnahmen sei vorbei. Solche Worte hätte sich Angela Merkel wohl schon früher gewünscht. Die Bundeskanz­lerin hatte immer und immer wieder, beinahe gebetsmühl­enartig, gesagt, dass ihr die Beschlüsse der Länder nicht weit genug gehen. Am 9. Dezember schließlic­h mahnte sie im Bundestag erneut, die Warnungen der Wissenscha­ft ernst zu nehmen, härter durchzugre­ifen, die Kontakte massiv zu reduzieren. Sie fand dabei Worte, die für die sonst eher nüchterne Physikerin höchst ungewöhnli­ch sind: „Es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir dafür den Preis zahlen, dass wir Todeszahle­n am Tag von 590 Menschen haben, dann ist das nicht akzeptabel aus meiner Sicht.“

Manfred Becker-Huberti hat – wie so viele andere Menschen im Land – die Debatte verfolgt. Für ihn ist die Frage, wie Weihnachte­n denn nun werden darf, wie die Menschen auf die Regeln reagieren und was das mit ihrer Stimmung macht, mehr als nur ein persönlich­es Interesse, es ist auch ein wissenscha­ftliches. BeckerHube­rti ist Professor an der Philosophi­sch-Theologisc­hen Hochschule Vallendar – und Weihnachts­forscher.

„Es ist, als hätte sich ein Brennglas zwischen Weihnachte­n und die Menschen geschoben, das nun vieles sichtbar macht“, sagt Becker-Huberti im Gespräch mit unserer Redaktion. „Für die einen konzentrie­rt sich alles auf den religiösen Aspekt, und das kann man sehr reduziert erfahren.“Für die anderen indes, für die Äußerlichk­eiten wie all der Glanz, die Geschenke oder der Glühwein entscheide­nd sind, für die sei es schlimmer, weil sie das Gefühl hätten, dass ihnen etwas genommen wurde, erklärt er. „Aber vielleicht bekommen sie so nun einen neuen Zugang zu Weihnachte­n.“Dass die Corona-Pandemie den weihnachtl­ichen Konsumwahn allzu stark bremst, glaubt der Theologe aber nicht. „Ich bin skeptisch, dass sich viele Menschen vom Konsum abwenden werden.“

Fest steht jedenfalls: Es wird in diesem Jahr anders gefeiert – vor allem mit weniger Menschen. Um sich zu vergegenwä­rtigen, dass wichtige Menschen fehlen, etwa die Großeltern, die alleine feiern, um das Risiko einer Infektion zu verringern, könne man einen alten Brauch wiederbele­ben, sagt Becker-Huberti: ein zusätzlich­es Gedeck auf dem Tisch. Traditione­ll soll das zum eider nen an die erinnern, die nicht da sind, aber auch bereitsteh­en, falls ein Bedürftige­r an die Tür klopft.

Wird dieses Weihnachte­n denn nun automatisc­h besinnlich­er, stiller? Schließlic­h fällt alles eine Nummer kleiner aus. „Ja, ich glaube, dass dieses Weihnachte­n stiller werden wird – möglicherw­eise aber auch konfliktre­icher“, sagt der Weihnachts­forscher. Schon in normalen Jahren müsse die Polizei schließlic­h immer wieder eingreifen, weil es zu Familienst­reitigkeit­en kommt. „In diesem Jahr sind noch viel mehr Emotionen im Spiel, weil viele Menschen durch die Pandemie in ein tiefes Loch gefallen sind.“Es gebe eben zwei Arten von Stille, erklärt der katholisch­e Theologe: die, die von den Menschen als positiv, besinnlich und beruhigend empfunden werde, und die, die einem aufgezwung­en wird, was dann

Kein Gesang, keine Buden, keine Konzerte

Das Alleinsein kann man auch positiv nutzen

eben zu negativen Gefühlsaus­brüchen führen könne.

Ein Teil der Menschen werde sich sicherlich mehr besinnen, fährt Weihnachts­forscher Becker-Huberti fort. „Der andere Teil indes wird vieles als völlig sinnlos empfinden. Den Menschen, die Sinn suchen, müssen wir einen Weg zeigen.“Denn das Alleinsein könne auch positiv genutzt werden, man könne Zugang zu anderen Dingen finden, etwa zu Texten, die man schon lange lesen wollte.

Dass diese Tage ein wenig einsamer sind als in anderen Jahren, das weiß auch Franz Mayr. Er steht im Innenhof des Klosters Maria Medingen im Landkreis Dillingen. Die Büsche und Bäume sehen an diesem Wintermorg­en, an dem die Temperatur­en nicht über den Gefrierpun­kt klettern wollen, aus, als wären sie mit Puderzucke­r bestäubt. Mayr, schwarzer Anorak, dunkle Jeans, heller Mundschutz, geht vom Parkplatz in Richtung Klosterkir­che, grüßt eine Schwester der Dillinger Franziskan­erinnen, bleibt stehen und deutet auf eine Wiese.

„Hier findet normalerwe­ise der Adventsmar­kt statt“, sagt Mayr, der die Veranstalt­ung für gewöhnlich organisier­t – und in diesem Jahr schweren Herzens absagen musste. „Der Markt ist sehr beliebt, pro Tag waren etwa 2000 Besucher da“, sagt Mayr. Der Mann schüttelt den Kopf, so, als würde er sich gerade vorstellen, wie es hier hätte aussehen können, wenn es keine Pandemie gäbe. Wie die vielen Lichter und Lämpchen der Buden die Klostermau­ern erhellen würden, Glühweinda­mpf in die Nacht wabern würde. „Man kommt nicht so recht in Weihnachts­stimmung. Corona schwebt über allem“, sagt er dann, hält kurz inne und fügt hinzu: „Das ist in diesem Jahr einfach ein ganz anderes Fest.“

Dann dreht er sich um, geht zurück zum Parkplatz. Hinter ihm auf der Wiese liegt noch ein bisschen Schnee. Bald wird nurmehr grauer Matsch übrig sein, der auch verschwind­en wird. Wie die Hoffnung auf ein normales Weihnachts­fest, die längst dahingesch­molzen ist.

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Fotos: Silvio Wyszengrad, Stephanie Sartor Wäre 2020 ein Jahr wie jedes andere, hätte auf dem Augsburger Rathauspla­tz der Christkind­lesmarkt stattgefun­den. Stattdesse­n: Leere. So recht will da keine Weihnachts‰ stimmung aufkommen – trotz Christbaum.
 ??  ?? Siegfried Neiß hilft normalerwe­ise beim Augsburger Engelesspi­el mit. In diesem Jahr fällt es – wie so vieles – aus.
Siegfried Neiß hilft normalerwe­ise beim Augsburger Engelesspi­el mit. In diesem Jahr fällt es – wie so vieles – aus.
 ??  ?? Franz Mayr im Innenhof des Klosters Ma‰ ria Medingen. In normalen Jahren orga‰ nisiert er hier den Adventsmar­kt.
Franz Mayr im Innenhof des Klosters Ma‰ ria Medingen. In normalen Jahren orga‰ nisiert er hier den Adventsmar­kt.

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