Schwabmünchner Allgemeine

Diese Momente werden wir nicht vergessen

Große Emotionen, Machtspiel­chen und kuriose Inszenieru­ngen. In einem sind sich alle einig: Dieses 2020 war ein irres Jahr – auch in der Politik. Ein Rückblick in acht Episoden

- / Von Michael Stifter

Donald Trump macht seine eigenen Regeln

Es gibt Momente, die sieht man kommen und ist trotzdem irgendwie fassungslo­s, wenn sie tatsächlic­h wahr werden. Die Fünf in der Mathe-Schulaufga­be, der Ausgleich des FC Bayern München in der Nachspielz­eit, die leere Chipspacku­ng, die Reaktion von Donald Trump auf das Wahlergebn­is. Keiner hatte ernsthaft damit gerechnet, dass der US-Präsident eine Niederlage mit Größe akzeptiere­n würde. Doch der Egozentrik­er im Weißen Haus hat es im November geschafft, selbst seine erbitterts­ten Gegner noch negativ zu überrasche­n. Es sind drei Worte, mit denen Trump Amerika in ernste Schwierigk­eiten stürzt – verbreitet natürlich via Twitter, selbstvers­tändlich in Großbuchst­aben und mit Ausrufezei­chen. „STOP THE COUNT!“

Der Anführer einer der stolzesten Demokratie­n dieses Planeten fordert, die Auszählung der Stimmen zu stoppen, als er sieht, dass sein Vorsprung dahinschmi­lzt wie ein Eisbecher in der Sonne. Er erklärt sich kurzerhand zum Sieger. Gleichzeit­ig will er übrigens in Bundesstaa­ten, die er verloren hat, so lange zählen lassen, bis das Ergebnis endlich stimmt. Am Ende ist der Vorsprung des gewählten Präsidente­n Joe Biden so groß, dass Trumps verzweifel­te Versuche, die Niederlage auf juristisch­em Wege in einen Sieg umzuetiket­tieren, nur noch wie eine Satire die zu schräg klingt, um wahr zu sein.

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Kamala Harris telefonier­t mit dem neuen Präsidente­n

Das Ende der turbulente­n Ära Trump beginnt irgendwo im Nirgendwo. Eine Frau, die offenbar gerade beim Joggen war, telefonier­t mit ihrem Smartphone. „Wir haben es geschafft, Joe! Du wirst der nächste Präsident der Vereinigte­n Staaten“, sagt Kamala Harris und lacht herzlich, aber auch ein bisschen ungläubig. Es ist der Moment, in dem ihr so richtig klar zu werden scheint, dass Joe Biden die Wahl tatsächlic­h gewonnen hat – und sie die erste Vizepräsid­entin in der Geschichte der USA wird. Mag Donald Trump auch noch so wüten, mag er in alle Ewigkeiten behaupten, die Wahl sei ihm gestohlen worden: Die amerikanis­che Demokratie hat gedoch sie hält stand. Gemeinsam mit Biden will Harris das tief gespaltene Land versöhnen. Das dürfte noch schwierige­r werden, als die Wahl zu gewinnen.

Angela Merkel wird emotional wie nie

Nimmt man den Hang zur Selbstdars­tellung als Maßstab, dann ist Angela Merkel ziemlich exakt das Gegenteil ihres bisherigen Kollegen in Washington. Kühl, sachlich, nüchtern – so kennt man die Kanzlerin nun schon seit 15 Jahren. Emotionen zeigt sie allenfalls im Fußballsta­dion. Und dann das: Merkel hält eine Rede zur Lage der Nation. Eine Rede voller Pathos und Eindringli­chkeit. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, appelliert sie im April an die Deutschen. Die erste Corona-Welle überrollt das Land – und mit ihr die Angst vor diesem unbekannte­n mysteriöse­n Virus.

„Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausford­erung an unser Land, bei der es so sehr auf unser gemeinsame­s solidarisc­hes Handeln ankommt“, sagt die Bundeskanz­lerin. Es wird nicht ihr letzter emotionale­r Auftritt in der (hoffentlic­h) letzten von vielen Krisen ihrer langen Amtszeit sein. Das irre Jahr mit Corona hat etwas mit uns gemacht. Es hat Menschen verändert. Sogar die ewige Angela Merkel auf den letzten Metern ihrer Kanzlersch­aft.

Thomas Kemmerich wird ganz kurz Ministerpr­äsident

Von der ewigen Kanzlerin zum Kurzzeit-Regierungs­chef von Thüringen: Thomas Kemmerich wird im Februar Ministerpr­äsident. Das war so nicht zu erwarten, denn seine FDP stellt die kleinste Fraktion im Landtag. Gewählt wird er mit den Stimmen der AfD, die in Thüringen besonders radikal auftritt. „Tabubruch“dürfte in den folgenden Tagen zu den am häufigsten geschriebe­nen und getwittert­en Worten der Republik gehören. Dass Kemmerich die Wahl annimmt und Ministerpr­äsident von Björn Höckes Gnaden sein will, geht weltweit durch die Medien. Nach drei Tagen macht der FDP-Mann dem unwürdigen Schauspiel ein Ende und kündigt seinen Rücktritt an.

Bayerische Politiker klopfen Sprüche – vor leeren Rängen

Im Rest der Republik soll es ja Menschen geben, die glauben, dass wir Bayern tatsächlic­h den ganzen Tag in Tracht herumlaufe­n und eine Maß Bier nach der anderen in uns hineinschü­tten. Und weil es nichts Schöneres gibt als gut gepflegte Klischees, haben sich Andreas Scheuer und Hubert Aiwanger gedacht, sie tun mal ein bisschen etwas fürs Bayern-Bild. Die beiden Herren sind ja auch die ideale Besetzung für das kuriose Bühnenstüc­k, das sich im September in Niederbaye­rn abwackelt, spielt. Die bierselige Sprücheklo­pferei beim Gillamoos wird in diesem Jahr coronabedi­ngt als politische­s Geisterspi­el ausgetrage­n. Besser als gar nichts. Weil ein richtiger Bayer lässt sich sein Prosit der Gemütlichk­eit doch nicht von so einem dahergelau­fenen Virus aus dem Ausland verderben. Und so lassen sich der Andi von der CSU und der Hubert von den Freien Wählern vor leeren Rängen eben von einer zünftigen Stimmung anstecken, die sie sich nur eingebilde­t haben.

Markus Söder hält Hof im Königsschl­oss

Wo wir schon beim bayerische­n Lebensgefü­hl sind: Wer im Freistaat urlaubt, kommt ja am König Ludwig II. und seinen Märchensch­lössern nicht vorbei. Nun ist die Kanzlerin zwar genau genommen rein beruflich in Bayern unterwegs, aber ihr Gastgeber lässt sich nicht lumpen. Chiemsee, Schifffahr­t, Kutsche, Schlossbes­uch – das volle Programm fährt Ministerpr­äsident Markus Söder im September auf. Nun muss man zwar ehrlicherw­eise sagen, dass die Kutsche eher ein besserer Planwagen ist, aber die Bilder aus dem Schloss Herrenchie­msee, in dem sich das bayerische Kabinett trifft, machen durchaus was her.

Ganz Deutschlan­d spricht über die etwas kuriose Selbstinsz­enierung des vermeintli­chen Sonnenköni­gs Markus I., der sich offenbar zu Höherem berufen fühlt. Er selbst will von all dem allerdings nichts wissen. Auf unsere Frage, ob das nicht ein bisschen dick aufgetrage­n war, antwortet er ein paar Tage später mit einem Augenzwink­ern: „Warum? Wir haben Bayern von seiner schönsten Seite gezeigt. Wenn außergewöh­nliche Gäste kommen, packt man das gute Geschirr aus.“Was er eigentlich sagen will: Was können wir dafür, dass es anderswo nicht so schön ist wie bei uns?

Boris Johnson bedankt sich bei seinen Lebensrett­ern

Stichwort Insel: Die Briten machen uns in diesem Jahr auch keine Freude. Abgesehen von der ersten Meistersch­aft des FC Liverpool nach 30 Jahren natürlich. Ansonsten: das nervtötend­e Gezerre um den Brexit, und natürlich Corona. Premier Boris Johnson setzt zunächst auf das Prinzip „Insel der Seeligen“und macht wenig bis gar nichts gegen die Pandemie. Der Preis dafür ist hoch. Für die Briten, aber auch für ihn persönlich. Johnson infiziert sich und liegt im April drei Tage lang auf der Intensivst­ation. Als er die Londoner Klinik wieder verlassen kann, wendet sich der sonst so selbstbewu­sste Polit-Rabauke demütig an Ärzte und Pflegepers­onal: „Ich kann Ihnen nicht genug danken, ich verdanke Ihnen mein Leben.“

George Floyd ringt um sein Leben – 8:46 Minuten lang

Der letzte jener Momente, die von diesem Jahr bleiben und die wir nicht vergessen werden, ist zugleich der traurigste. Der Moment dauert acht Minuten und 46 Sekunden. So lange kniet ein Polizist in Minneapoli­s auf dem Nacken von George Floyd. Der 46-jährige Afroamerik­aner soll in einem Laden eine Schachtel Zigaretten mit Falschgeld bezahlt haben. Mitarbeite­r des Geschäfts rufen die Polizei. Vor laufenden Kameras drückt ein Cop Floyd auf den Asphalt. „Ich kann nicht atmen“, sagt dieser immer wieder. „Ich kann nicht atmen.“Selbst als er das Bewusstsei­n verliert, bleibt das Knie in seinem Nacken. Floyd stirbt und mit ihm die Hoffnung, dass die USA ihr Rassismusp­roblem in den Griff kriegen. Es kommt zu Ausschreit­ungen. Schwarze Leben zählen – Black lives matter – wird zum Motto von Demonstrat­ionen auf der ganzen Welt. Und zu einer Botschaft, die das Jahr überdauert.

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Foto: Peter Kneffel, dpa So sieht es aus, wenn ein bayerische­r Ministerpr­äsident die Bundeskanz­lerin empfängt. „Wenn außergewöh­nliche Gäste kom‰ men, packt man das gute Geschirr aus“, sagt Markus Söder.
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Foto: Imago Images Donald Trump hat genug von der Auszählung der Wählerstim­men.
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Foto: Hoppe, dpa Gillamoos‰Gaudi trotz Corona: Andreas Scheuer hat es versucht.
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Foto: Kugler, dpa Die Bundeskanz­lerin hält eine Rede zur Lage der Nation.
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Foto: Reichel, dpa Sehen so Sieger aus? Thomas Kemme‰ rich nach seiner Wahl.
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Foto: Twitter Kamala Harris erfährt beim Joggen, dass sie US‰Vizepräsid­entin wird.
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Foto: Imago Images Boris Johnson dankt seinen Lebensrett­ern im Krankenhau­s.
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Foto: Imago Images George Floyd stirbt durch Polizeigew­alt und wird zum Symbol.

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