Als zu Weihnachten die Glocken schwiegen
Geschichte Am Heiligen Abend 1945 finden in Augsburg die ersten Christmetten nach dem Krieg statt – aber die wenigen Kirchtürme, die noch stehen, müssen oft schweigen. Kirchenglocken gibt es kaum. Sie sollten Kriegsrohstoff werden
Schweigend liegt Augsburg da in dieser Weihnachtsnacht, so kurz nach dem Krieg ist nicht viel von der emsigen Betriebsamkeit zu spüren. Unterbrochen wird die Stille der Christnacht 1945 lediglich von wenigen metallenen Stimmen. Sie haben die Kriegswirren überstanden und schallen nun von den Kirchtürmen herab. Im Dezember 1945 feiern die Augsburger die erste Christmette in einem freien Land seit zwölf Jahren. Um Mitternacht an Heiligabend „erzittert die Sphäre über Augsburg durch den geweihten Mund der geretteten Glocken vom altehrwürdigen Dom, dem majestätischen Turm von St. Ulrich, von den wenigen Kirchen, die die Wut des erbarmungslosen Krieges verschont hat“, schreibt unsere Zeitung damals. Glockenmusik – an diesem Abend, in diesem Jahr etwas Besonderes. Denn auch Kirchenglocken haben „Schwestern und Brüder verloren“.
Abertausende Glocken aus Deutschland und aus den von Deutschen besetzten Ländern wurden für die Kriegswirtschaft eingesammelt und auf den sogenannten Glockenfriedhof nach Hamburg transportiert. Dort harrten am Kriegsende noch immer 20 000 von ihnen ihrer traurigen Bestimmung: Aus Kirchenglocken sollte Kriegsrohstoff werden. Es war das größte Sammellager von Glocken, doch auch anderswo finden Kirchenmitarbeiter zusammengetragene Glocken jeglicher Größen – nachzulesen im Archiv des Bistums Augsburg. Unmittelbar nach Kriegsende begann die Glockensuche, dabei ließen die Kirchen wenig unversucht.
So hartherzig und unverschämt könne nur ein Deutscher sein – harsch fiel die britische Antwort vom 26. Januar 1946 auf ein Gesuch der Augsburger Bistumsverwaltung aus, abhandengekommene Kirchenglocken aus Hamburg zurückzuholen. Zu diesem Zeitpunkt lagen große Teile der Stadt Augsburg in Trümmern, auch viele Kirchen waren teilweise oder ganz zerstört. Im von den Alliierten besetzten Deutschland waren Bahnlinien erst notdürftig intakt gesetzt, die Menschen litten Hunger. Die britische Verwaltung wies das Ansinnen aus Augsburg ab mit dem Verweis auf die Leidenssituation der Menschen in Europa und den Umstand, dass in Hamburg auch geraubte Kirchenglocken aus von den Deutschen ausgebeuteten Ländern lagerten.
In einer konzertierten Requirierung katalogisierten Mitarbeiter der NS-Verwaltung und transportierten ab 12. November 1941 die Glocken ab. Eine einzige, meistens die kleinste, durfte im Turm bleiben. In der Basilika St. Ulrich und Afra verblieb nur die 1923 gegossene FranzXaver-Glocke, selbst das ehrwürdige Totenglöcklein der ehemaligen aus dem späten 12. Jahrhundert kam nach Hamburg. Die Behörden unterteilten die Glocken in die Kategorien A,B, C und D, nur Letztere bot einen gewissen Schutz vor dem Abhängen und Einschmelzen: Die Kategorie D war besonders alten und daher nach Ansicht der Machthaber schützenswerten Glocken vorbehalten.
In Augsburg fallen mehrere Glocken in diese Kategorie: Unter anderem hängen im Hohen Dom gleich zwei Glocken aus dem 11. Jahrhundert, in Evangelisch St. Ulrich schwingt eine Bronzeglocke von 1608 – und in der Basilika St. Ulrich und Afra die BenediktusGlocke. Sie wurde trotzdem abgeholt und überstand den Krieg auf dem Hamburger Depot, an Weihnachten 1945 läutete sie noch nicht wieder in Augsburg.
Viele Kirchen der Stadt waren nach dem Krieg ganz oder teilweise zerbombt, fügten sich ein in das Chaos von Schutthaufen und Ruinen, durch das sich Tag und Nacht die Menschen schleppten auf der Suche nach Brennstoff und Baumaterial. Die Basilika St. Ulrich und Afra kam einigermaßen glimpflich davon mit zerborstenen Fenstern, der Hohe Dom indes wurde in der Bombennacht vom 25. Februar 1944 schwer getroffen – Zeugen berichten von Feuersbrünsten und dem Geräusch vor Hitze platzender Steine. Durch den beherzten Einsatz von Domkaplan Johann Aichele zusammen mit vier jungen Burschen, dazu Feuerwehrleuten, rekrutierten
Helfern und Soldaten konnten der Dom und seine uralten Glocken vor dem Untergang bewahrt werden. Bis heute läuten im Nordturm die beiden in Form eines Bienenkorbs gegossenen Theophilus-Glocken aus dem 11. Jahrhundert.
Evangelisch St. Ulrich traf die Verschleppung der Kirchenglocken nicht – wenn auch knapp. Die Gemeinde hatte noch 1940 einen Kaufvertrag bei der Glockengießerei Franz Schilling im thüringischen Apolda über zwei Bronzeglocken abgeschlossen. Die 776 und 310 Kilo schweren Klangkörper aus Bronze sollten bis Frühjahr 1940 geliefert werden – bereits kurz nach Kriegsbeginn begannen die mit Rohstofffragen befassten Behörden, Vorbereitungen für eine reichsweite MeBenediktinerabtei tallsammlung zu treffen. In den Dokumenten der Pfarrei ist nachzulesen, dass dies den Vertragspartnern bewusst war. Als im Frühjahr die erste Metallsammlung begann, wurde der Kaufvertrag aufgelöst.
Was ein Stadtleben ohne Kirchenglocken für die Menschen damals bedeute, kann der GlockenSachverständige der bayerischen Landeskirche, der Weilheimer Kirchenmusikdirektor Walter Erdt, erklären. „Der Alltag der Menschen richtete sich damals oft noch nach den Glockenschlägen: Wann es Zeit für das Essen war, wann gebetet wurde, wenn jemand gestorben war.“Glocken haben eine wichtige liturgische Funktion, sie hatten über Jahrhunderte auch enorme weltliche Bedeutung: Wann Zinszahlungen fällig waren, wann die Stadttore offen und geschlossen zu sein hatten und vieles mehr zeigte der Glockenschlag an. Die umfassende Bedeutung der Kirchenglocken nahm erst in der Neuzeit ab.
Glocke ist dabei nicht Glocke. Während jahrhundertelang Kirchenglocken vor allem aus Bronze bestanden, setzte man für einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf solche aus einer Stahllegierung. Zink und Kupfer waren rar, die Gießereien verwendeten Ersatzmaterialien. Laut Erdt reichen diese aber nicht an die Klangqualität und Lebensdauer ihrer Geschwister aus Bronze heran, weswegen man mittlerweile keine Stahlglocken mehr gießt und die übrigen im Lande nach und nach austauscht. „Bronze“, sagt Erdt, „ist das ideale Material für wohltönende Glocken.“Während jene aus Stahl oft nach hundert Jahren Risse aufwiesen, könnten die bronzenen Modelle Jahrtausende überstehen. Mehr Probleme würden die Glockenstühle und -türme machen, die das tonnenschwere Geläut und seine Schwingungen durch die Jahrhunderte tragen.
Die beiden Ulrichskirchen und einige ihrer Glocken überstanden diese dunklen Zeiten – heute läuten sie beinahe in Eintracht. Wer zur richtigen Zeit auf dem Ulrichsplatz steht, kann sie hören: erst das helle, kurze Klingen der evangelischen Kirche, dann das tiefere, mächtige Tönen der Basilika. So harmonisch, als hätte man es aufeinander abgestimmt.