Schwabmünchner Allgemeine

Gewinner in der Krise

Leon Goretzka kam als besserer Nebendarst­eller, als er zum FC Bayern wechselte. In kurzer Zeit gewann der Mittelfeld­spieler an Format – auf und abseits des Platzes. Über einen, der auf vielen Feldern überzeugt

- VON TILMANN MEHL

München Verrückte Zeiten damals aber auch. Kein höhnisches Gelächter, als der Fragestell­er sich bei Leon Goretzka erkundigt, ob der FC Schalke 04 in der kommenden Saison denn vielleicht der ärgste Konkurrent des FC Bayern werde. Der Mittelfeld­spieler führte ernsthaft aus, dass das schon sein könne, schließlic­h sei der Revierklub in der vergangene­n Saison ja auf dem zweiten Platz gelandet und verfüge dazu noch über einen „hervorrage­nden Trainer“. Domenico Tedesco hatte die Schalker in der Spielzeit immerhin 2017/18 zur Vizemeiste­rschaft geführt. Wenige Monate später konnte Tedesco nur noch in der Vergangenh­eitsform von seiner Tätigkeit als Schalker erzählen. Auf Platz 14 liegend, hatte ihn der Vorstand nach 25 Spieltagen entlassen. Hätten sie ja damals in Gelsenkirc­hen auch nicht gedacht, dass sie diese Bilanz heute zu erleichter­ten Durchschna­ufen nutzen würden.

Im August 2018 waren diese Entwicklun­gen nicht abzusehen. Goretzka hatte nach einigen Hin und Her den Klub verlassen. Ablösefrei. Ein Transfer, für den die Münchner nicht allzu viel Gedankenkr­aft verwenden brauchten. Junger Nationalsp­ieler ist ohne Überweisun­g an Schalke zu bekommen. Man muss sich das Leben einen Sportdirek­tors nicht immer als eines der durchdacht­en Nächte vorstellen.

Gleichwohl sahen die Bayern in dem damals 23-Jährigen eher eine Alternativ­e als einen Stammspiel­er. Thiago, James, Javi Martinez, Thomas Müller, Joshua Kimmich – das Münchner Mittelfeld hatte nicht mit Qualitätsm­ängeln zu kämpfen. Goretzka aber war sich seiner Sache sicher. Über Monate hinweg hatte er sich überlegt, ob er denn nun die Offerte des FC Bayern annehmen sollte oder vielleicht doch lieber zum FC Barcelona wechseln sollte, der auch um ihn buhlte. Die Spitzenklu­bs sahen in ihm einen verlässlic­hen Antreiber im Mittelfeld, der vor beiden Toren wertvolle Dienste verrichtet. Weniger augenschei­nlich die Ambitionen Goretzkas, nicht nur auf dem Platz eine prägende Rolle einzunehme­n. Zwar gehörte er schon zu Schalker Zeiten zu jenen Spielern, denen das Prädikat „mündig“angeheftet wurde, doch Schalke ist bei aller Aufgeregth­eit eben nicht München. „Man braucht nicht das Wort ergreifen, wenn man nicht regelmäßig auf dem Platz steht“, sagte Goretzka bei seiner Vorstellun­g im Pressestüb­chen der

Bayern. Für die wirklich großen Transfers lädt der Dauermeist­er die Journalist­en in die Allianz Arena. War für Goretzka nicht nötig. Dass er nun in den kommenden Jahren in unregelmäß­igen Abständen das Wort ergreifen würde, hat also sehr viel damit zu tun, dass er sich auf imposant ruhige Art und Weise unentbehrl­ich im Mittelfeld der Münchner gemacht hat. Goretzka entwickelt­e sich zu einem der auffälware­n ligsten Münchner – auf und abseits des Platzes.

Nachdem es während eines Länderspie­ls zu rassistisc­hen Äußerungen auf der Tribüne gekommen war, sagte Goretzka: „Ich bin ein Kind des Ruhrgebiet­s. Da antwortet man auf die Frage nach der Nationalit­ät mit Schalke, Dortmund oder Bochum.“Recht viel prägnanter hatte zuvor die wenigsten Fußballer auf ähnliche Vorfälle reagiert.

Zu Beginn der Corona-Krise rief er zusammen mit Kimmich die Spendenakt­ion „We kick Corona“ins Leben. Mittlerwei­le kamen auf diesem Weg über fünf Millionen Euro für soziale und karitative Zwecke zusammen. Parallel zu seinem immer sichtbarer werdenden öffentlich­en Engagement packte sich Goretzka etliche Kilogramm Muskelmass­e auf Arme und Oberkörper. Der einst schmächtig­e Edelkompar­se ist mittlerwei­le anerkannte Autorität im Mittelfeld.

Zuletzt nutzte er seine Popularitä­t, um sich abermals gegen Rassismus und Diskrimini­erung einzusetze­n. Er besuchte das ehemalige Konzentrat­ionslager in Dachau und traf sich im November mit der Holocaust-Überlebend­en Margot Friedlände­r. Am vergangene­n Wochenende positionie­rt er sich in einem Interview mit der

gegenüber der AfD. „Speziell durch die Corona-Krise wurde noch offensicht­licher, welche Partei das ist: Für mich ist es keine Alternativ­e,

Die Bayern mussten bei Goretzka nicht viel denken

Die AfD bezeichnet er als „Schande für Deutschlan­d“

Sonntag Welt am

sondern eine Schande für Deutschlan­d.“Erwartungs­gemäß erhielt er dafür von vielen Seiten Lob – von der AfD logischerw­eise nicht. So forderte der Bundestags­kandidat der AfD Heidelberg, Dr. Malt Kaufmann, ihn auf Twitter auf, er solle „lieber mal seinen vorlauten Mund halten & Fußball spielen. Solche blödsinnig­en, substanzlo­sen Statements sind wir Leid. Noch dazu von abgehobene­n Fußball-Söldnern, die in einer Parallelwe­lt leben & vom realen Leben keine Ahnung haben.“

Dass sich über Substanzlo­sigkeit trefflich streiten lässt, wird auch sicherlich Kaufmann nicht in Abrede stellen. Deutlich zu vernehmen ist allerdings der Wunsch etlicher sozial engagierte Fans, die hoch bezahlten Profis sollten einen Teil ihrer Reichweite dazu nutzen, sich gesellscha­ftlich zu positionie­ren.

Dass nun ausgerechn­et Leon Goretzka jener Spieler sein würde, der hier am offensivst­en vorgeht, war vor zwei Jahren noch nicht anzunehmen. Aber da galt auch noch der FC Schalke als Titelkandi­dat.

 ?? Foto: Imago Images ?? Leon Goretzka ist eine der prägenden Gestalten des FC Bayern. Nach dem Sieg in der Champions League sicherte er sich einen Teil des Tornetzes. Ein Erinnerung­sstück, das so nicht jeder zu Hause hat.
Foto: Imago Images Leon Goretzka ist eine der prägenden Gestalten des FC Bayern. Nach dem Sieg in der Champions League sicherte er sich einen Teil des Tornetzes. Ein Erinnerung­sstück, das so nicht jeder zu Hause hat.

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