Simons Kampf in sein zweites Leben
Vor fünf Jahren war der Fan des FC Augsburg auf der Rückfahrt aus Mönchengladbach schwer verunglückt. Halt geben ihm die Ultras und sein Verein. Irgendwann will er wieder im M-Block in der WWK-Arena dabei sein
Es war der 12. September 2020, als Simon Schönle endlich wieder mal mit seinen Freunden aus der UltraSzene ein Spiel des FC Augsburg live verfolgen konnte. Dass es nur die Erstrunden-Partie im Pokal gegen den MTV Eintracht Celle war – dem 24-Jährigen war es egal. Dass er seine Kumpels aufgrund der Corona-Epidemie nicht in der WWKArena treffen konnte – Simon war das nicht so wichtig. Und so feierten sie den 7:0-Sieg in der Grünanlage direkt am Proviantbach im Augsburger Textilviertel. Natürlich mit Abstand und Mundschutz. Dafür hatten ihn seine Freunde extra mitsamt seinem Rollstuhl auf die Liegewiese hinuntergetragen.
Auf den ist Simon seit fünf Jahren angewiesen. In der Nacht vom 23. auf 24. September 2015 verunglückten auf der Heimfahrt vom Auswärtsspiel des FC Augsburg in Gladbach Simon und seine vier Freunde gegen 1.50 Uhr auf der A61 zwischen Speyer und Ludwigshafen schwer. Sie sind alle glühende Anhänger des Bundesligisten. Ihre zweite Heimat ist der M-Block in der WWK-Arena. Fast alles in ihrer Freizeit dreht sich um den FCA.
Auswärts sind sie fast überall dabei. Das Auto der fünf fährt fast ungebremst von hinten auf einen Sattelzug auf. Zwei Mitfahrer sterben. Zwei kommen mit leichteren Verletzungen davon. Simon überlebt mit schweren Gehirnverletzungen, entgeht knapp dem Tod. Die Ärzte machen seiner Mutter keine großen Hoffnungen, sagen, Simon wird wohl ein Schwerstpflegefall bleiben. Wie bei einer Computer-Festplatte wurden die Daten in seinem Gehirn gelöscht. Sie sind noch vorhanden, können aber nicht genutzt werden. Doch Simon erwacht aus dem Koma, seitdem kämpft er.
Er kämpft sich soweit in sein „zweites“Leben zurück, dass er seit Januar 2017 unter der Woche in einer Wohngruppe des Fritz-Felsenstein-Hauses in Königsbrunn leben kann. Dort wird er mit sieben anderen Bewohnern intensiv von mehreren Betreuern versorgt. In seinem Zimmer, seinem Privatbereich, sind überall FCA-Fanartikel verteilt.
So sieht es auch in der neuen Wohnung in Königsbrunn aus. In die ist seine Mutter Marion vor ein paar Monaten extra umgezogen, um Simon, wenn er zu Hause ist, optimal zu betreuen. In seinem Zimmer steht ein Spezialbett, in dem kleinen Garten kann er frische Luft tanken.
Simon wird wohl ein Leben lang im Alltag auf Hilfestellung und Pflege angewiesen sein, doch er gibt nicht auf, sich langsam alltägliche Dinge wieder anzueignen. Simon kann ohne Hilfe Essen und Trinken, auch kleine Rechenaufgaben sind kein Problem. Sein Gedächtnis ist aber gestört. „An alles, was vor dem
Unfall war, kann er sich erinnern“, sagt Marion Schönle. An den Unfallhergang selbst nicht mehr. Sein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht richtig. Die FCA-Spieler aus der Zeit vor dem Unfall kennt er alle, die Namen der jetzigen Mannschaft machen ihm Probleme. Erst nach vielen Wiederholungen werden sie abgespeichert. Er kann kommunizieren, auch wenn ein Gespräch für Außenstehende nicht immer einfach ist. Simon versteht alles, ihm fällt es aber manchmal schwer, sich verständlich zu artikulieren. Trotzdem, diese Entwicklung hätte ihn niemand zugetraut.
Auch seine Motorik verbessert sich immer mehr. 20 bis 30 Meter Laufen mithilfe eines Gehtrainers ist möglich. Dafür braucht er aber viele Wiederholungen und enorm viel Durchhaltevermögen. „Wenn ich ihm bei seinen Übungen sage, stell dir vor, du läufst Richtung
M-Block, dann bekommt er auf einmal Energie“, erzählt Marion Schönle von den Übungseinheiten auf dem Laufband mit seinem Physiotherapeuten.
Als große Motivationsstütze dienen ihm seine Freunde aus Königsbrunn und aus der Ultra-Szene des FCA. „Wenn was ansteht, sind wir da. Wir haben ihn auch nach fünf Jahren nicht vergessen“, sagt Dome, einer der Ultras, der ihn regelmäßig besucht. „Simon ist und bleibt ein Teil der Szene.“Dafür ist Marion Schönle den FCA-Fans dankbar. „Sie und der FCA haben ihn aus dem Koma geholt. Ich habe ihm die Fangesänge damals immer wieder vorgespielt und irgendwann ist er ganz langsam aufgewacht.“
Auch jetzt kann sie sich auf die Ultras verlassen. Besonders wenn es darum geht, dem 24-jährigen Simon wenigstens für ein paar Momente das Leben eines „normalen“jungen
Menschen zu ermöglichen. „Diese Sozialkontakte sind für Simon ganz wichtig“, sagt Marion Schönle.
Zu Beginn hätten seine FCAFreunde auch schon mal in die Wohngruppe zum Mittagessen oder zum Weißwurstfrühstück kommen können. Doch der Besuch für Simon gefiel mit der Zeit nicht mehr allen Betreuern aus dem Fritz-Felsensteinhaus. Er brachte manchmal Unruhe in die Routine des Alltags. Was für Simon gut war, war nicht immer gut für die anderen Mitbewohner, die schwerere Behinderungsgrade als Simon haben. „Die Mitbewohner von Simon werden betreut, er müsste mehr gefördert werden“, sagt Dome. Die Besuche der Ultras wurden immer mehr reglementiert. Und seit dem Beginn der Corona-Epidemie im Frühjahr sind sie fast unmöglich geworden. Die Wohngruppe, dort wo auch Simons Zimmer, sein einziger Rückzugsort, liegt, sind für Besucher tabu. Treffen im Besuchsraum strengen Simon zu stark an. „Da wird er nach zehn Minuten müde“, sagt Marion Schönle. „Dabei wäre es so wichtig, dass er unter der Woche auch einmal Besuch bekommen dürfte, um mit seinen Kumpels auf seinem Zimmer abhängen zu dürfen. Das geht aber leider nicht.“
Und so ist der Alltag für Simon in seiner Wohngruppe oft öde. Er ist unterfordert, auch weil durch die Pandemie die internen Fördermaßnahmen des Hauses zurückgefahren wurden. „Ihm ist oft langweilig“, sagt Marion Schönle. Die ausgebildete Chemie-Laborantin, die bei der Stadt München arbeitet, weiß um die Zwickmühle, in der derzeit nicht nur das Fritz-Felsenstein-Haus steckt, sondern auch viele andere Pflege- und Seniorenheime. Sie kann manche Maßnahmen nachvollziehen, andere nicht.
Dabei ist für Simon die Stimulanz durch seine Freunde wichtig. Jede Erzählung, jeder neue Eindruck hilft. Es zeigt ihm, dass er weiter dazugehört. Dieses Gefühl braucht er auf seinem langen Weg zurück zu so viel Normalität wie möglich.
Marion Schönle versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Wenn sie frei hat, holt die 54-Jährige ihren Sohn so oft wie möglich nach Hause. Natürlich unter Einhaltung aller Hygienemaßnahmen. Vergangene Woche durfte sich Simon zum Beispiel den Weihnachtsbaum aussuchen. „Natürlich ist er viel zu groß“, schmunzelt Marion Schönle. Am Heiligabend und am 1. Weihnachtsfeiertag ist Simon zu Hause. Auch über Silvester und Neujahr. Dazwischen kehrt er in seine Wohngruppe zurück. Dass man ihn da nur mit einem negativen Corona-Test und einer FFP-2-Maske besuchen darf, versteht die ehrenamtliche Sanitäterin. Dass man aber vor Ort als Angehörige noch keinen Schnelltest machen kann, nicht: „Das hätte man sicher organisieren können.“
Es sind schwierige Zeiten für alle. Marion Schönle hofft wie viele, dass mit dem Impfstoff irgendwann wieder Normalität einkehrt. Und dass sich dann Simons größter Wunsch erfüllt. „Er will, wenn irgendwann wieder Zuschauer in der WWKArena zugelassen sind, zurück in den M-Block“, sagt Marion Schönle. Mit kleineren Umbaumaßnahmen müsste das möglich sein, glaubt sie. Bisher muss Simon die Spiele von der Gegengeraden auf den speziell ausgewiesenen Plätzen für Rollstuhlfahrer aus verfolgen, was ihm gar nicht gefällt.
Auch wenn die Ultras Simon derzeit nicht sehen können, zeigten sie ihm beim Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt, dass er nicht vergessen ist. „Frohe Weihnachten, Simon“, stand auf einem großen Banner, das unten am M-Block hing.