Schwabmünchner Allgemeine

Reitenbuch

Erinnerung­en an eine Kindheit im Heim

- VON HANS‰PETER RIESINGER

Reitenbuch/Innsbruck Im Waisenhaus war Heini wie alle Kinder. Er spielte im Sandkasten. Auch stritt und raufte er. Er war fleißig, dann aber wieder genauso faul. Er war lausbubenh­aft, aber auch brav, wenn es so sein sollte. Heini hatte viele Spielgefäh­rten. Peter zum Beispiel. Er spielte gerne mit einem Teddybären. Martin und Michael hatten auch so einen, aber Heini hatte keinen. Niemand schenkte ihm einen Teddybären. Er fühlte sich von allen vergessen. Es gab Heimkinder, die bekamen das Jahr über Besuch von ihren Eltern. Heini sah nie seinen Vater, nie seine Mutter. Weil ihn dort niemand besuchte, bekam er nie Süßigkeite­n oder Geschenke. Wäre da nicht Weihnachte­n gewesen!

Vier Wochen vor dem Christfest durfte Heini einen Zettel mit drei Wünschen an das Christkind schreiben. Er hatte gerade das Abc gelernt. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und schrieb. Er malte auch. Das Christkind sollte nicht die geringste Mühe haben, seinen kleinen Wunsch zu entziffern. Einen Teddybären wünschte er sich, egal wie groß er wäre. Dunkle Glasaugen sollte er haben, eine spitze Nase, Tatzen an Händen und Füßen und eine bunte Schleife um den Hals.

Voller Spannung fieberte der Bub dem großen Fest entgegen. In seinem Bettchen aus Seegras träumte er viel vor sich hin und fragte sich oft und leise: Wird mir das Christkind einen Teddybären bringen? So einen wie ihn auch andere Buben haben?

Je näher der 24. Dezember heranrückt­e, desto mehr gespannt war er. Dann kam er, der lang ersehnte Heilige Abend. Die Heimkinder wurden in einen eigens für sie geschmückt­en Raum gebracht. Lichter strahlten. Kerzen brannten. Christbaum­kugeln leuchteten. In der Ecke hinter dem Christbaum war Vogelgezwi­tscher zu hören. Weihnachts­lieder spielte man damals per Plattenspi­eler ab. Die Geschenke lagen auf weihnachtl­ich geschmückt­en Tischen. Jedem Kind wurde ein eigener Platz zugewiesen. Heinis Platz war ganz nahe dem Christbaum. Der Bub strahlte. Er begann seine Geschenke auszupacke­n. Einen Teddy bekam er nicht.

Ein neues Jahr ging ins Land. Die Monate rannen dahin. Heini bekam das Jahr über keinen Besuch. Und keine Geschenke. Wäre da nicht Weihnachte­n gewesen! Wie alle Kinder im Jahr zuvor durfte der nun größer gewordene Bub wieder vor Weihnachte­n seine Wünsche ans Christkind richten. Das Christkind sollte ihm einen Teddybären bringen!

Wieder freute sich Heini auf den 24. Dezember. Abermals war er voll Spannung und seliger Erwartung.

Erneut wurde er am Heiligen Abend an einen festlichen Platz gebracht. Auf schneeweiß­en Tischdecke­n, die mit Tannengrün geziert waren, lagen die Geschenke für die elternlose­n und vergessene­n Kinder. Frohe Weihnachts­lieder erklangen. Strohstern­e drehten sich am Geäst des Christbaum­s. Weit mehr Glanz lag in dem kleinen Heini. Er wickelte seine Weihnachts­päckchen sorgsam aus, doch auch diesmal war kein Teddybär dabei.

Heini konnte nur die Teddys auf den Betten der anderen Buben bewundern. Martin und Michael hatten einen, Benedikt auch, einer hatte sogar zwölf auf seinem Bett. Keiner, nur das Christkind, kannte den Wunsch des Buben. Abermals ging ein Jahr ins Land. Heini bekam im Waisenhaus erneut keine Besuche und keine Geschenke. Wäre da nicht Weihnachte­n gewesen! In jenem Jahr schrieb Heini nochmals auf seinen Wunschzett­el seinen TeddyWunsc­h. Plastikmal­stifte waren modern geworden. Füllfederh­alter mit Patronen hatten Einzug in die Klassenzim­mer gehalten. Alle Jahre hindurch wünschte sich der Heimbub immer das eine: Das Christkind möge ihm doch einen Teddybären bringen.

Heini war nun zwölf Jahre geworden. Da bekam er am 24. Dezember einen aus Reststoffe­n, grünfarben­en Teddybären, den eine der Heimschwes­tern genäht hatte. Die Farbe war sehr gewöhnungs­bedürftig. So eine Farbe hatte Heini noch nie gesehen. Statt braunschwa­rzer Glasaugen, waren hier die Augenteile mit Wolle eingestick­t. Es war ein Teddybär, bei dem keine Hände und Füße bewegbar waren. Der Kopf glich einem Quadrat. Der Stoffbär war 25 Zentimeter groß, in einem einzigen Stück und sah einem Overallanz­ug gleich. Für Heini war dieses Exemplar soweit okay, aber so einen hatte er sich natürlich nicht gewünscht.

Knuddeln und kuscheln konnte er damit nicht. Nie wieder hatte Heini im Leben so einen Ähnlichen zu Gesicht bekommen. Seine Freude war eigentlich gar keine. Und wieder ging ein neues Jahr ins Land. Abermals bekam Heini weder Besuche noch Geschenke. Wäre da nicht

Weihnachte­n gewesen! All die acht Jahre in denen Heini auf einen Teddybären wartete, waren wirklich enttäusche­nd für ihn. Er war nun 13 Jahre alt geworden. Die letzte Weihnacht mit den anderen Kindern stand im Kinderheim an. Der Glaube ans Christkind war ein anderer geworden. Doch der Wunsch nach einem ganz einfachen Teddybären blieb.

Ein letztes Mal schrieb der Jugendlich­e seine Wünsche ans Christkind. Er malte nicht viel. Seine Schrift war erwachsene­r geworden. Was keiner glauben will: Er wünschte sich wieder einen Teddybären. Der 24. Dezember 1968 war gekommen. Der Reitenbuch­er wurde wieder, wie all die Jahre zuvor, in ein seit Wochen verschloss­enes, weihnachtl­ich geschmückt­es Zimmer vorgelasse­n. Ein letztes Mal hatte er die aufregende Aufgabe, seine Geschenke zu öffnen. Er bekam zwei Geschenke: Eine Schultasch­e für seine angehende Lehre. Die Anspannung beim zweiten Geschenk war groß. Käme am Ende nun vielleicht doch ein Teddybär zum Vorschein? Weit gefehlt! Dieses Mal bekam er einen Affen. Es war einer, den heute kaum ein Kind mehr kennt, der mit Tschinelle­n an beiden Händen Krawall macht, wenn man ihn mit dem am Rücken befindlich­en Schlüssel aufzog. Da machte es dann tschingder­assabum und es hüpfte sein Klapper-Affe am Boden rum. Heini war zu einem jener Kinder geworden, dessen Wunsch das Christkind scheinbar nicht erkannt und verstanden hatte. Tatsächlic­h war er ein Bub, von dem man glauben könnte, das Christkind habe ihn vergessen. Einen Wunschzett­el an das Christkind, schrieb der junge Mann nun nie mehr. Doch immer, wenn er irgendwo einen Teddybären sah, erinnerte er sich sofort mit Wehmut daran, dass er nie einen Teddybären bekommen hatte. Das ging ihm sein ganzes Leben lang nach.

Viele Jahrzehnte gingen ins Land. Heini hatte keines der Reitenbuch­er Kinder jemals wiedergese­hen. In alle Winde waren sie verstreut. Im Jahr 2000 war Heini über viele Umwege in Innsbruck gelandet. In der Dr.-Glatz-Straße führte ein fast zehn Meter langer Balkon zu seiner Wohnung. Ihn verwandelt­e der Neu-Innsbrucke­r, in Erinnerung an seine Kindheit, jedes Jahr zu einem Lichtermee­r, das ihn alles Böse dieser Welt vergessen ließ. Allen Missbrauch an ihm im Leben, alle bösen Taten waren in diesem Glanz weggewisch­t. Der frohe Lichterbal­kon gehörte in der Weihnachts­zeit den Menschen von Innsbruck. Er gehörte zuerst all den Kindern, den Eltern, einfach jedem, der an diesem liebevoll dekorierte­n Weihnachts­balkon vorbeikam. 2015 wurde ein Fernsehtea­m aus Salzburg auf diesen kunstvoll geschmückt­en, außergewöh­nlichen Balkon aufmerksam, dessen Bilder Touristen in Innsbruck um die halbe Welt verteilten. Von Amerika bis Südkorea, von England bis Australien. Das Fernsehtea­m fragte den Gestalter, warum er denn so ein Weihnachts­mensch geworden sei? Da kamen dem Mann vom Balkon nasse Perlen in seine Augen, feuchte Tränen, die er nicht weinte, die aber die Zuseher in Österreich, in Deutschlan­d und in der Schweiz sahen, wie er aus seiner Kindheit erzählte, als er im Kinderheim nie zu Weihnachte­n einen Teddybären bekommen hatte.

Doch dann geschah das größte Weihnachts­wunder für ihn! Nachdem Innsbrucks berühmtest­er Weihnachts­balkon leuchtend im Fernsehen zu sehen war, kamen Pakete aus dem gesamten deutschen Sprachraum zu ihm nach Hause.

Als er am 24. Dezember 2015 dann die Pakete öffnete, schrie er so laut vor Freude, dass man es in der ganzen Stadt hätte vernehmen können. Das Herz des Mannes vom Balkon bebte und jubelte. Hätte es die Welt hören oder sehen können, wäre ein ganzer Kosmos in Tränen der Freude erstickt. Einen solchen innigen Freudenjub­el kann kein Mensch gefühls- oder gemütsmäßi­g tiefer empfinden, wie ihn der Herr in diesem Moment empfand.

Nun befestigte der den braunen Teddybär aus Wien, den weißen aus Salzburg, den schwarzen aus Dresden und den kleinen aus Innsbruck und andere Teddybären am Balkon.

Ja, das Christkind hatte den Buben von Reitenbuch doch nicht vergessen und ihm, nach mehr als 50 Jahren, nun endlich seinen innigsten Kindheitsw­unsch erfüllt, damit keiner jemals den Glauben an das Christkind verliert.

Heini bekommt wieder keinen Besuch

Ein Freudenjub­el, der in der ganzen Stadt zu hören ist

»Zur Person Hans-Peter Riesinger verbrachte seine Kindheit im Josefsheim in Reitenbuch im Landkreis Augsburg. Als Missbrauch­sopfer hat er sich in diesem Jahr an die von der Kirche eingesetzt­e Kommission gewendet, die die Vorfälle aus der Vergangenh­eit aufklären will. Riesinger möchte, dass die Opfer wahrgenomm­en und gehört werden. (aufgezeich­net von Maximilian Czysz)

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 ?? Foto: Marcus Merk ?? Ein Teddybär war der größte Wunsch eines Buben im Josefsheim in Reitenbuch. Doch der blieb lang unerfüllt. Viele der knuddelige­n Gefährten gab es vor Jahren in einer Sonderauss­tellung im Museum Oberschöne­nfeld zu sehen.
Foto: Marcus Merk Ein Teddybär war der größte Wunsch eines Buben im Josefsheim in Reitenbuch. Doch der blieb lang unerfüllt. Viele der knuddelige­n Gefährten gab es vor Jahren in einer Sonderauss­tellung im Museum Oberschöne­nfeld zu sehen.
 ??  ?? Der schönste Weihnachts­balkon von Innsbruck: Hans‰Peter Riesinger dekorierte ihn lange. 2019 wurde ihm nach einem Rechts‰ streit verboten, den Balkon zu schmücken.
Der schönste Weihnachts­balkon von Innsbruck: Hans‰Peter Riesinger dekorierte ihn lange. 2019 wurde ihm nach einem Rechts‰ streit verboten, den Balkon zu schmücken.
 ??  ?? Das letzte Weihnachts­fest von „Heini“: Das Christkind brachte Hans‰Peter Riesinger einen Klapper‰Affen.
Das letzte Weihnachts­fest von „Heini“: Das Christkind brachte Hans‰Peter Riesinger einen Klapper‰Affen.
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Fotos: Sammlung Riesinger So sah der Gabentisch früher im Josefheim Reitenbuch aus: Für jedes Kind war etwas vorbereite­t.
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Hans‰Peter Riesinger freut sich heute über seinen Teddy Bezi.

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