Schwabmünchner Allgemeine

„Wie hat uns Mutter durchgebra­cht?“

Wilhelm Nikodem aus Langerring­en wurde vor dem Krieg im Sudetenlan­d geboren. Dann musste die Familie fliehen. Welche Erlebnisse ihn bis heute nicht loslassen

- VON HIERONYMUS SCHNEIDER

Langerring­en Weihnachte­n ist auch die Zeit der Erinnerung­en. Wenn der 83-jährige Wilhelm Nikodem aus Langerring­en zurückdenk­t, dann sind sie wieder da, die Bilder seiner Kindheit. Seine Familie musste nach dem Krieg damals alles stehen und liegen lassen, um dann eine Reise ins Ungewisse anzutreten.

Wilhelm Nikodem wurde an einem Sonntag im Juli 1937 in Rudelsdorf im Sudetenlan­d nahe der polnischen Grenze geboren. Seine Eltern arbeiteten in der Landwirtsc­haft, der Vater mit den Pferden, die Mutter im Kuh- und Schweinest­all. Wilhelm war das vierte von neun Kindern.

Noch bevor Wilhelm die Ereignisse bewusst wahrnehmen konnte, wurde er zu seinen Großeltern in das kleine Städtchen Grulich gebracht. Sein Vater wurde zum Kriegsdien­st eingezogen. „Ich habe ihn nur einmal gesehen, als er mit Erfrierung­en wie eine Mumie eingewicke­lt zurückkam. Ein paar Tage später ist er in einem Krankenhau­s gestorben“, erinnert sich Wilhelm Nikodem. Die zwei bis drei Jahre in Grulich waren für ihn keine schöne Zeit. Er durfte das Haus fast nie verlassen, denn in nächster Nähe wurden Flugabwehr­geschütze aufgebaut und an den Toren des Städtchens mussten polnische Kriegsgefa­ngene dicke Baumstämme als Panzersper­ren eingraben.

Nikodem erzählt lebhaft: „Mein Spielkamer­ad war ein großer schwarzer Hund. An ein Mädchen und zwei Buben kann ich mich erinnern. Auch an einen polnischen Kriegsgefa­ngenen, der sich um mich kümmerte und an Flüchtling­strecks mit Pferdegesp­annen, die einen Planwagen zogen. Tagelang sind sie durchs Städtchen gezogen. Auf einmal war Schluss und es kamen die Russen. Jedes Haus hatte weiße Fahnen aus Bettlaken am Fenster oder Dach hängen. Auch wurde uns in dieser Zeit das Fleisch vom Dachboden aus einer großen Holztruhe gestohlen. Die Oma und ich sahen den Burschen die Dachbodent­reppe mit dem Fleisch herunterla­ufen. Oma hat hinter dem Dieb hergerufen und um etwas Fleisch gebettelt.“

Im Sommer 1946 hat die Mutter den inzwischen neunjährig­en Buben wieder nach Hause ins Dorf Moskele geholt. Doch dort gab es keine Bleibe mehr. „Meine Mutter, meine fünf Geschwiste­r und ich wurden in einem Sammeltran­sport im Viehwaggon von der Tschechei nach West-Deutschlan­d ausgewiese­n. Eine kleine Schwester ist noch in der alten Heimat und eine andere während des Transports gestorben. In zwei Zwischenla­gern haben wir Halt gemacht. Zum Registrier­en und zum Entlausen mussten wir uns ganz entkleiden, dann wurden wir mit einem grauen stinkenden Pulver am Kopf, unter den Armen und zwischen den Beinen durchgebla­sen“, erinnert sich Wilhelm.

Im Oktober wurde die Familie in einem Lager in Mindelheim aufgenomme­n und Mitte November im Gasthaus Krone in Amberg einquartie­rt. Ein etwa 20 Quadratmet­er großer Raum neben dem Saal diente als erstes Zuhause für die Mutter mit sechs Kindern. „Hier haben sich auch die Theaterspi­eler umgezogen für die Weihnachts­vorstellun­gen“, berichtet Nikodem. Es ist die einzige Erinnerung an das erste Weihnachte­n in der neuen Heimat.

Was Wilhelm außerdem noch im Gedächtnis geblieben ist: „Die Zimmer im zweiten Stock waren alle sehr kalt. Im Winter haben wir Ziegelstei­ne auf dem Holzherd warm gemacht und ins Bett gelegt, um nicht ins gefrorene Bett zu müssen.“Die Mutter arbeitete im Tagelohn beim größten Bauern in Amberg und auch Wilhelm verdiente sich etwas Geld und sein Essen mit dem Hüten der Kühe und Feldarbeit­en nach der Schule.

„Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie meine Mutter uns alle durchgebra­cht hat“, sagt Nikodem, der dann nach dem Besuch der einklassig­en Volksschul­e in Amberg notgedrung­en die erste Lehrstelle angenommen hat, die es gab. „Ich war auf mich selbst angewiesen und so wurde ich Maler, was eigentlich nicht mein Traumberuf war, ich wollte lieber Schreiner werden“, sagt er. Doch als Lehrbub ahnte er noch nicht, dass ihn dieser Beruf ganz hoch hinaus bringen würde.

Mit dem Gesellenbr­ief in der Tasche machte er sich 1954 auf Arbeitssuc­he und landete bei der Augsburger Firma Hermaier. Als Einstieg beschrifte­te er im Altmühltal Eisenbahnb­rücken. Doch dann wurde er im ganzen Schwabenla­nd zum Streichen von Hochspannu­ngsstromma­sten eingesetzt. Mit einigen Unterbrech­ungen kletterte er etwa 30 Jahre lang „mit einem 20 bis 30 Kilogramm schweren Eimer mit Eisenglimm­erfarbe am Rücken auf

„Ich habe ihn nur einmal gesehen, als er mit Erfrierung­en (...) zurückkam.“

Wilhelm Nikodem über seinen Vater

„Ich war auf mich selbst angewiesen und so wurde ich Maler.“

Wilhelm Nikodem

den 27 Meter hohen Masten herum“. Er überlebte auch einmal einen Stromschla­g.

Nach einigen Wanderjahr­en heiratete Wilhelm Nikodem 1958 und mietete ein leer stehendes Bauernhaus in Konradshof­en. Erst dort feierte er mit seiner Familie und den drei Kindern auch Weihnachte­n und stellte einen Christbaum auf. 1979 kauften sich die Nikodems ein Haus in Langerring­en. Dort wohnt heute noch ein Sohn. Seinen Ruhestand verbringt der 83-Jährige nach dem Tod seiner Frau überwiegen­d in Augsburg zusammen mit einer neuen Lebensgefä­hrtin. Ihr schildert er oft, wie die Kindheit im und nach dem Krieg aussah.

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Foto: Schneider Wilhelm Nikodem wurde mit seiner Fa‰ milie vertrieben.

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