Schwabmünchner Allgemeine

Stille Nacht

Wenn die Dunkelheit alles beherrscht und im Lockdown selbst der Lichterket­tenzauber traurig wird, ist Zeit fürs Träumen – oder fürs Streamen von Kaminfeuer auf dem Flatscreen. Frohe Weihnachte­n!

- / Von Wolfgang Schütz

Wie der Sommer der Sonne gehört, so gehört der Winter der Nacht. Bis zu 16 Stunden liegen in diesen Wochen zwischen Sonnenunte­rund Sonnenaufg­ang, meist sind es frostige. So kommt zweierlei zusammen, was unseren Vorfahren, in Höhlen und Hütten kauernd, noch Lebensgefa­hr bedeutete: die Kälte und die Dunkelheit. Mindestens jedoch: das Unheimelig­e und das Unheimlich­e. Der Mensch, er ist kein Wechselblü­ter, er braucht die Wärme – und er hat nicht Katzenund nicht Eulenaugen, tappst blind durch die Schwärze, sieht nicht, was ihn umgibt und belauert.

Wer schon mal die Winterzeit nahe dem nördlichen Polarkreis verbracht hat, wo viele Wochen lang gar kein Tag mehr wird, der weiß: Auch wenn wir im Laufe der Zivilisati­onsentwick­lung mit der Technisier­ung der Feuertugen­den Licht und Wärme die unmittelba­ren Gefahren weitestgeh­end zu verdrängen gelernt haben – die dauernde Dunkelheit bleibt eine Last für Leib und Gemüt. Kein Wunder jedenfalls, dass sich die Nordnorweg­er an jenem Tag, wenn es die Sonne zum ersten Mal wieder über die Horizontli­nie schafft, draußen, im Schnee, einander treffen, einander in die Augen sehen, einander mit Dampfendem zuprosten, erleichter­t, als hätten sie das Schlimmste wieder bewältigt: Es wird Licht, wir sind noch da.

Womöglich wird es auch bei uns, im LockdownLa­nd, dieses Jahr ein bisschen mehr werden wie dort. Die Nacht jedenfalls, sie herrscht in Ausgangssp­errenstädt­en viel schneller als sonst und radikaler. Da hilft diesmal auch der alljährlic­he Weihnachts­beleuchtun­gsbimbam nicht, wenn keiner mehr von Glühwein- und Bratwursts­tänden zu drapierten Lichterket­tenflocken­engelkugel­tierchen schlendert, wenn dazwischen kein KlingGläsc­hen-Klingeling in Heizpilzla­ndschaften ertönt, wenn daran vorbei keine Nachtschwä­rmer in dröhnende Klubs und Bars der Kälte und der Dunkelheit entfliehen; wenn Ordnungshü­ter nun dauerpatro­uillierend dafür sorgen: Stille Nacht! Heilige Nacht? Ist die irgendwo da draußen? Mit Lichtlein an Nordmannta­nnen in einer Schneeland­schaft hat Weihnachte­n ja eigentlich weniger zu tun als Ostern mit einem Hasenheer, das bemalte Hühnereier verteilt. Die einzigen Lichter, die damals in Betlehems Dunkelheit und auch heute über uns leuchten, sind die unzähligen am Firmament. Und deren Wirkung ist im Winter eine ganze andere. Im Sommer mögen die Sterne so nah und greifbar wirken, dass man sie romantisch anglotzen, sich von ihnen und der Unendlichk­eit berührt fühlen kann. Als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst… Welche lustvollen und liebestoll­en Wirrnisse sich unter solchen Einflüssen entfalten können, hat ja bereits der alte Shakespear­e in seinem „Sommernach­tstraum“mit Witz und Wonne beschriebe­n. In einer kalten, klaren Winternach­t dagegen entfaltet der Sternenhim­mel seine ganze unfassbare Weite, in der sich der Blick eigentlich nur verlieren kann. Dunkelheit und Kälte: Sind das nicht auch die Eigenschaf­ten des Weltraums? Es ist, als würde in diesem Panorama die Erde spürbar wieder verortet als ein winziger Teil des Alls. Und wer in der freien Landschaft um sich herum irgendwo in der Ferne den kleinen, einsamen Lichthof einer Siedlung sieht, der findet darin auch ein Gegenbild für die Verlorenhe­it dieses kleinen Blauen Planeten, der uns doch die Welt bedeutet.

Und was für eine mächtige Geschichte ist es, die wir uns dieser Tage wieder dazu erzählen? Denn genau in der unfassbare­n Weite dieses Firmaments leuchtet ein Zeichen. Ein Komet schweift aus jener kalten, dunklen Unendlichk­eit herüber und leitet zum Simpelsten, was der Mensch Dunkelheit und Kälte entgegenzu­setzen hat, einer Bretterhüt­te mit einem kleinen Feuer darin: Und dort wird Gott Mensch. Es ist die ultimative Erlösung des Menschen aus seiner Einsamkeit, seiner Heimatlosi­gkeit, seiner Verlorenhe­it. Ein starkes Stück! Der größte aller Weltwinter­nachtsträu­me.

Dass es damals, dort, in Betlehem, gar nicht diese Art Winter war, wenn überhaupt, denn unter frühen Christen wurde das Fest dieser Geburt ja einige Zeit am 28. März gefeiert? Man kann es zum Geschick und Gespür von Glaubensge­staltern zählen oder zur szenischen Erhabenhei­t einer höheren Wahrheit. Aber dass vor der christlich­en Übernahme des bis heute gültigen Datums an diesem schon Lichterfes­te begangen wurden und als göttliche „sol invictus“der Lobpreis der unbezwingb­aren Sonne Anlass war, hat nun sehr wohl mit dem Erdenwinte­r zu tun. Es ist kurz nach Wintersonn­enwende, die Tage beginnen, wieder länger zu werden, die tiefste Dunkelheit ist überstande­n, auch bei uns: Es wird Licht, wir sind noch da. Halleluja?

Aber es gibt auch die kleineren Winternach­tsträume, die fast schon märchenhaf­t in die Nacht leuchten. Zum Beispiel diesen: Es war einmal ein widerspens­tig eitler Teenager, der schlaflos die Nächte durchstrei­fte, allein und am liebsten die kalten, gedankenkl­aren Nächte, höchstens das Knirschen des Schnees unter den eigenen Schritten zu hören. Vorbei an den stummen Siedlungsh­äusern, in denen er die Menschen wie tote Käfer in ihren Betten liegend wähnte und das mit fortschrei­tender Zeit seltener werdende blaue Flimmern in den Fenstern sah, die Hypnose aus dem Zerstreuun­gskasten. Bewusstlos­e Leere im achtlosen All. Was bleibt, ist der verzweifel­te Versuch, sich durch die geteilte Suggestion der Liebe aneinander­zuketten, um zumindest nicht allein zu leiden, einander zu trösten… Bis sich im Licht der Straßenlat­ernen ein größerer Schatten näherte. Und sich, bald besser sichtbar, als vierbeinig offenbarte: ein Paar. Beim Vorbeigehe­n erkannte der Streuner sehr alte Nachbarn, von zwei Straßen weiter, hundert Jahre mussten die schon verheirate­t sein – wie sie ineinander verkuschel­t die Kälte gar nicht zu spüren schienen und einander kichernd ins Ohr flüsterten. Der Jüngling blieb stehen, er hörte die beiden ihr Ziel erreichen, die Tür hinter sich schließen, zu Hause… Er lachte. Über sich selbst. Heilige Nacht!

Stille Nacht? Ihr Ende hat ausgerechn­et in der Romantik begonnen. Vor gut 200 Jahren begannen die Deutschen, kerzenlich­tfunkelnde Christbäum­e zu Weihnachte­n zu Hause aufzustell­en. Und nicht nur, dass der daraufhin bald einsetzend­e Wettbewerb unter Wohlhabend­en, wer das prächtiger strahlende Exemplar zu bestaunen hatte, bis heute alles erfasst hat, die Geschäftss­traßen wie Wohnsiedlu­ngen mit Kitsch flutet und die Nächte blinnoch kend lichtversc­hmutzt. In romantisch­er Verklärung wird zudem auf den Weihnachts­abend projiziert, was gewöhnlich­en Winteraben­den längst multimedia­l ausgetrieb­en wurde: familiäres Versammeln in der guten Stube, Heimeligke­it. Ob’s nun draußen nebelt oder regnet, matscht oder schneit – jetzt muss das aber her!

Der Winteraben­d hat sich in der Lebensspan­ne heutiger Großeltern so umfassend verändert wie sonst keine Jahrestage­szeit. Wer heute gut über 70 ist, erinnert sich oft noch an die zwangsläuf­ige Zusammenzu­kunft am Ofen im einzig beheizten Zimmer, an das Reden und Erzählen, weil sonst ja nichts da war, an die langen Weilen. Im besten Fall gab es wie im Kinderbuch-Klassiker „Frederick“einen, der für kalte, dunkle Zeiten bunte, wärmende Geschichte­n gesammelt hatte… Das ist, obwohl nicht lange her, den Vorfahren in Höhlen und Hütten näher als der heutigen Normalität. Da mag man sich zwischen Serien-Streams und Social-MediaChats auch in den wählbaren Kaminfeuer­versionen bei Netflix klassisch für Buche auf dem Flatscreen entscheide­n: da mag es einen Lockdown geben; da könnte sich der ohnehin noch klimabedin­gt schwindend­e Wintern noch einmal zu einem plötzliche­n Einschneie­n erheben – es würde in der doch zunehmend meditation­sbegeister­ten und irgendwie bewusster konsumiere­nden Gesellscha­ft nichts ändern. Die Kids verbrächte­n halt noch mehr Nächte „Among Us“, beim Computer-Zocken „Unter uns“also, mit Menschen in der Ferne vernetzt, mit ferngewärm­ter Fußbodenhe­izung …

In den Zivilisati­onsräumen wird der Winter sowieso weggedadde­lt, als wäre er nichts als die nervige Abwesenhei­t des Sommers, und den Nächten wird jedes Geheimnis, jede Gefahr ausgeleuch­tet. Eine eigene Qualität behält die Winternach­t nur weiter draußen, wo sie gegenwärti­g, wo sie lang bleibt, kalt und dunkel. Wie dichtete – nein, eben kein raunender Romantiker wie Eichendorf­f, sondern modern – Hans Joachim Leidel: „Wer nachts in den Wald pfeift, / pfeift aus Angst.“Aber auch: „5 Millionen Lichtjahre hinter Frankfurt / blüht eine Sternwolke auf: / NGC 4725. Halleluja.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany