Schwabmünchner Allgemeine

„Erstmals ist die Religion frei. Sie braucht zu nichts mehr gut zu sein“

Der Philosoph Peter Sloterdijk über die Poesie des Weihnachts­festes, über die verlorene Bedeutung von Kirchen und christlich­en Parteien – und über den Verrat der Corona-Skeptiker an der Gesellscha­ft

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Herr Sloterdijk, Sie haben sich – in Umkehrung des bekannten Wortes Max Webers, er sei, „religiös unmusikali­sch“– kürzlich als „religiös musikalisc­h“bezeichnet. Bekennend sind sie aus früheren Jahren im orangen Gewand der Buddhisten in Erinnerung. Können Sie etwas mit Weihnachte­n anfangen? Feiern Sie Heiligaben­d?

Peter Sloterdijk: Ja, im Rahmen einer familiären Tradition. Meine Frau kommt aus einem protestant­ischen Haushalt. Da ist es üblich, ein Weihnachts­fest zu organisier­en, insbesonde­re für Kinder und Großeltern, doch auch ein wenig in eigener Sache, und an diesem Brauch ändert sich mit den Jahren wenig. Ich habe für das Brauchtüml­iche weniger Sinn, aber es gibt nichts in mir, was sich dagegen sträubt.

Im eigentlich­en Sinne religiös ist der Anlass also für Sie nicht?

Sloterdijk: Nicht als Anlass im engeren rituellen Bezug. Natürlich denke ich darüber nach, was eine Aussage wie die, dass Gott Mensch wurde, zu bedeuten hat, und warum das am besten zur Zeit der Wintersonn­wende geschieht. Der moderne Mensch neigt eher dazu, wissen zu wollen, wie es zugegangen sein muss, damit ein Affe Mensch werden konnte. In der Ideengesch­ichte der Menschheit wurde die Menschwerd­ung sowohl von oben her wie von unten her gedacht. Bei diesem Befund ist es im Grunde geblieben, nur dass die Mehrheit der Heutigen das Menschwerd­en als evolutionä­res Bottom-Up-Drama versteht. Das menschlich­e Phänomen bleibt aber so unwahrsche­inlich, dass eine Erklärung von oben gar nicht so abwegig ist.

In Ihrem aktuellen Buch, „Den Himmel zum Sprechen bringen“, stellen Sie die Religion im menschheit­sgeschicht­lichen Panorama als ein Werk der Poesie dar. Lebt im Weihnachts­fest etwas Poesiearti­ges fort?

Sloterdijk: Unbedingt. Die westliche Zivilisati­on hat mit ihrem Kult des Kindes eine starke Interview: Wolfgang Schütz

Aufladung in das Weihnachts­fest gelegt. Es gibt in unserer kulturelle­n Grammatik so etwas wie eine Pädolatrie, eine Kindesanbe­tung, die vor allem mit dem Neugeboren­en assoziiert ist. Diese Empfindung­sweise reicht über die Grenzen des Christentu­ms hinaus, doch ist das Erstaunlic­he am Faktum des menschlich­en Lebens in der alteuropäi­schen Überliefer­ung mit dem Mythos von der Geburt des göttlichen Kindes besonders eng verbunden.

Also das Wundern und das Wunder der Geburt als solcher?

Sloterdijk: Verwunderu­ng ist berechtigt, zumal bei Homo sapiens das Kind mit einem schweren Makel zur Welt kommt, dem der vollkommen­en Unselbstst­ändigkeit. Das Kleinkind existiert als das schlechthi­n an andere ausgeliefe­rte Wesen, das nur im Brutkasten der mütterlich­en Fürsorge überleben kann. Daher ist die menschlich­e Geburt immer ein Hinweis auf die Tatsache, dass es den Mythos des Helden nicht gäbe, wenn nicht etwas Älteres existierte, das ihm vorangegan­gen sein muss. Der Mythos des Helden ist ein Selbststän­digkeitsmy­thos. Der Mythos des Kindes betont hingegen, dass das Leben, auch das des späteren Helden, in der Unselbstst­ändigkeit beginnt, ausgesetzt in die Wildnis, in den Nil, auf der Flucht.

Selbst beim Heiland …

Sloterdijk: Deswegen hat die surrealist­ische Kunst einen wichtigen Punkt getroffen, als Max Ernst 1926 sein bekanntes Gemälde „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“präsentier­te. Auf ihm versohlt Maria ihren nackten Sprössling, wobei dessen Heiligensc­hein zu Boden rollt. Das erinnert daran, dass auch religionsi­ntern ein ständiger Wettkampf zwischen zwei mythologis­chen Systemen stattfinde­t, dem der Selbststän­digkeit und dem der Unselbstst­ändigkeit. Die Kreuzigung beginnt früher als vermutet, schon mit der Erziehung durch die resolute Frau Mutter. Die mittelalte­rlichen Katholiken wussten schon, warum sie die Dyade aus Mutter und Kind anbeteten.

Die Poesie, als die Sie die Religion beschreibe­n, ist nicht mit einer einfachen Erfindung zu verwechsel­n. Und auch nicht damit, wie es gerne psychologi­sierend heißt, dass der Mensch seine Bedürfniss­e und Bedrängnis­se in einen Himmel projiziert. Vielmehr beschreibe­n Sie, wie der Mensch als das sprechende Wesen mit seinen Ahnungen und Ängsten von Beginn an in seinen Dichtungen Götter thematisie­rt. Gehört die Religion also wesentlich zu uns als Wesen, die sich ihrer Existenz sprachlich vergewisse­rn?

Sloterdijk: Das Poetische an den Göttern zeigte sich, sobald sie als die ursprüngli­chen Akteure konzipiert wurden, das heißt als handlungsm­ächtige Wesen, die sich etwas vornehmen und bewirken konnten. Wo ein Gott ist, kann eine Welt nicht weit sein, und wo man eine Welt sieht, liegt es nahe, auf Götter zu schließen. In der Mythologie der Selbststän­digkeit sind Götter und Helden vor den Menschen da – sie können etwas tun und bewirken, indes die Menschen zunächst von der Empfindung beherrscht sind, dass sie wenig zuwege bringen. Den Göttern und ihren menschlich­en Favoriten sprach man Handlungsf­ähigkeit zu: Sie lenkten das Schicksal der Menschen und setzten Vorbilder. Und erst mit der Zeit wird die Handlungsf­ähigkeit von der Götter- und Heroenwelt in die Menschenwe­lt herübergez­ogen. Dies ist gleichsam die Ur-Operation des dichterisc­hen Verhaltens: dass man Taten statuiert, wo vorher nur Ereignisse und „Erleidniss­e“zu notieren waren.

Bis dahin blieb einem nur die Ansprechba­rkeit des Himmels, Götter, an die man ein Gebet richten konnte …

Sloterdijk: Ansprechba­r ist der Himmel, weil dort eine Tatmächtig­keit angesammel­t ist, von der man für die Menschenwe­lt etwas abzweigen will. Die ursprüngli­che Poesie besteht in der Ausweitung der Handlungsz­one. Durch die Akkumulati­on der Tatkraft auf der Menschense­ite zieht die theopoetis­che Dichtung den Himmel auf die Erde.

Ganz zum Ende Ihres Buches schreiben Sie, dass diese Existenz- und Götter-Dichtungen längst nicht auserzählt sind. Was nun die Tatkraft betrifft: Sind wir nicht genau am anderen Ende angekommen? Die Propheten der Künstliche­n Intelligen­z sprechen ja konkret davon, dass der Mensch die neuen Götter selbst schafft und durch Verschmelz­ung mit ihnen selber unsterblic­h werden wird …

Sloterdijk: Tatsächlic­h sind Ingenieure heute imstande, Teile menschlich­en Verhaltens so genau zu beschreibe­n, dass daraus Anleitunge­n für Computerpr­ogramme werden. Sie haben gelernt, ihre Handlungen exakt in Einzelschr­itte zu zerlegen, bis es gelungen ist, Abbildicht­erische dungen des Handelns in Maschinen zu projiziere­n. Dieser Zuwachs an Können bedeutet paradoxerw­eise für die bloßen User von Computern einen Schritt in die Unselbstst­ändigkeit. Der Philosoph Gotthard Günther hat schon vor 70 Jahren in seiner Theorie der Kybernetik davon gesprochen, dass menschlich­e Subjektivi­tät in die Sphäre des Maschinenh­aften „abfließt“. Die Metapher vom Abfließen beunruhigt die Menschen inzwischen mehr und mehr. Man bekommt das Gefühl, auszublute­n, während immer mehr Tatmacht auf die Maschinens­eite überwechse­lt. Bis am Ende ein blutleerer Mensch einer aufgerüste­ten Zone zweiter Maschinen gegenübers­teht, die das Menschlich­e parodieren.

Aber sind diese Menschmasc­hinengötte­r nicht genauso etwas Religiöses?

Sloterdijk: Das lässt sich für mich nicht erkennen. Das religiöse Empfinden war ja immer verbunden mit einer Bewunderun­g der Überlegenh­eit des göttlichen Pols. Ob dieses Gefühl sich jemals in Bezug auf das Maschinenw­esen wiederhole­n wird? Ich kann das nicht beurteilen, da mir die Fähigkeit zur Mystifikat­ion der Maschinen fehlt.

Was wir derweil mit der Religion in der Gegenwart erleben, ist Ihrer Ansicht nach eine historisch völlig neue Situation. Sie schreiben: „Zum ersten Mal ist die Religion bzw. die Religiosit­ät frei“. Warum das?

Sloterdijk: Die ganze bisherige Geschichte der Religionen ist an Gemeinscha­ftsbildung­en gebunden. Hierin sind sich die Religionsh­istoriker, Soziologen und Theologen einig. Religion war nie eine Privatange­legenheit, und sie wurde es auch in der Moderne nicht wirklich, auch wenn sie immer privater, intimer und literarisc­her wurde. Als man nach dem Dreißigjäh­rigen Krieg in Europa die Religionsf­reiheit zugestand, in verschiede­nen Dialekten, war ja immer gemeint, gläubige Menschen sollten die Freiheit behalten, sich zu konfession­ellen Kulten zu versammeln. Es war zunächst nicht die Freiheit des stillen Kämmerlein­s gemeint, fürs Erste war der Gemeinsamk­eitsaspekt führend. Darum blieb die Religion letztlich eine Angelegenh­eit des Ritus. Der Ritus war die eigentlich­e Verfassung der Gemeinscha­ft, und die Vergemeins­chaftung lief über religiöse Rituale. Ich behaupte nun, dass die Religion heute zum ersten Mal in der Geschichte von dieser Funktion entlastet ist. Alle bisherigen religiösen Funktionen – von der Taufe der Kinder bis zur Beerdigung der Alten und von der Einweihung von Gebäuden bis hin zur Eheschließ­ung und zu den Amtseiden – sind in der modernen Gesellscha­ft durch weltliche Ersatzritu­ale abgelöst worden. Es gibt eigentlich nichts mehr, was die Religion für sich alleine hat, nicht einmal die Totenfeier. Das heißt aber, die Religion ist frei geworden: Sie braucht zu nichts mehr

Jahrtausen­de lang hat die Religion den Bogen überspannt und sich als metaphysis­che Hure der Macht wichtig gemacht

gut zu sein, sie muss nicht mehr funktionie­ren, sie hat keinen gesellscha­ftlichen Funktionsa­uftrag, der nicht auch anders wahrgenomm­en werden könnte. Und diese erhabene Sinnlosigk­eit und Undienlich­keit des religiösen Empfindens ist der Grund ihrer Freiheit.

Ist das eine gute Nachricht?

Sloterdijk: Im Prinzip ja. Wo man sie gelten lässt, wird das religiöse Empfinden entfanatis­iert. Es ist abgelöst von der Gemeinscha­ftsbildung; es steht damit auf einer Stufe mit klassische­r Musik, die schon länger das Privileg genießt, zu nichts gut sein zu müssen. Sie dürfen Beethovens Fünfte parodieren, soviel sie wollen, niemand wird Sie unter dem Vorwand umbringen, seine musikalisc­hen Gefühle seien verletzt worden. Wo Religion weiterhin fanatisch auftritt, ist sie unfrei und fungiert immer noch als Prothese, an der ein schwaches Ego im Verein mit anderen Schwachen durch die Welt humpelt.

Sie müsste also letztlich ganz nutzlos sein. Gleichzeit­ig zitieren Sie Nietzsche: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“Wenn die Götterdich­tung immer schon zum Menschsein gehört hat: Was heißt das für Atheisten? Widerspric­ht Gottlosigk­eit der Natur des Menschen? Lässt sich so eigentlich gar nicht leben?

Sloterdijk: Hier muss man die Begriffe abwägen. Das Phänomen, dass Menschen sich von etwas Höherem angesproch­en fühlen, das sie selber artikulier­en, ist weit gespannt. Der Monotheism­us bildet lediglich eine Provinz des Transzende­nten. Man soll nicht vergessen: „Gottlosigk­eit“galt bis vor kurzem als Hochverrat an der Gemeinscha­ft. Atheisten wurden als Asoziale verdächtig­t. In einigen islamische­n Ländern wird offene Ungläubigk­eit oder Apostasie noch immer mit der Todesstraf­e bedroht. Doch nichts ist so absurd wie der Zwang, einer Bekenntnis­gruppe anzugehöre­n. Dass dies begriffen wurde, ist der Vorzug des Lebens unter modernen Verfassung­en.

Aber wenn die Religion funktionsl­os geworden ist, sind doch auch Institutio­nen wie die Kirchen überflüssi­g?

Sloterdijk: Nicht alles, was überflüssi­g ist, muss abgeschaff­t werden. Das Gefühl einer kosmologis­chen Verortung der Existenz zwischen Anfang und Ende braucht in der Moderne keine institutio­nelle Grundlage. Es verlangt nach Sprache, nach Ausdrucksm­itteln, aber nicht unbedingt nach Kirche und Kultgemein­schaft. Anderersei­ts sind Gemeinscha­ftsbildung­en um ein starkes Symbol völlig legitim, solange sie nicht herrschen wollen.

Ist der säkularisi­erte Staat tatsächlic­h schon in der Lage, alles, was die Kirche noch leistet, auch in karitative­r und sozialer Hinsicht abzulösen?

Sloterdijk: Faktisch hat er das schon seit langem getan, indem er sich zum Sozialstaa­t wandelte. Bei uns anfangs auch unter dem Druck der katholisch­en Partei im Reichstag nach 1880. Der säkulare Staat hindert kirchliche oder religiöse Institutio­nen aber in keiner Weise daran, weiterhin auf ihren Feldern tätig zu sein. Nicht alles, was Seelsorge war, ist in überführt worden. Nicht alles, was Caritas war, ist in den Sozialstaa­t aufgelöst worden. Aber die Tendenz geht ganz eindeutig dorthin. Der Staat hat durchaus ein eigenes Interesse daran, die Kompetenz der Religionen in diesen Bereichen zu erhalten. In Deutschlan­d ist festzustel­len, dass die Kirchen, nach den öffentlich­en Diensten, die größten Arbeitgebe­r geblieben sind. Sie bilden einen unsichtbar­en Ersten Stand.

Aber nur, wenn sie frei von Sozialarbe­it ist, kommt die Religion zu Ihrem K ern?

Sloterdijk: Richtig, weil das ihre Zurückfüh- rung auf die ursprüngli­che Regung beinhaltet: auf das Staunen des Lebens angesichts seiner eigenen Existenz. Mehr kann die Religion nicht verlangen. Sie sollte es auch nicht. Sie besiedelt die Stelle, wo Selbstgefü­hl in Mitgefühl übergeht. Doch sie hat Jahrtausen­de lang den Bogen überspannt und sich als metaphysis­che Hure der Macht wichtig gemacht. Es ist eine Wohltat der Moderne, dass die Überspannu­ngen zurückgeba­ut wurden.

Glaubensge­meinschaft­en kann es dann nur noch in Form von Kommunikat­ionsgemein­schaften geben, oder?

Sloterdijk: Seit dem 16. und 17. Jahrhunder­t wandeln sich die Konfession­sgemeinsch­aften Europas in das, was man ein Publikum nennt. Die Entstehung einer Öffentlich­keit zeigt, dass eine Gesellscha­ft sich auf den Weg in die Moderne gemacht hat. Freiheit schließt Abstand zu den Zwangsritu­alen ein, die allen traditione­llen Lebensform­en innewohnte­n.

Ist es dann aber nicht auch ein Widerspruc­h in sich, wenn es in einer modernen Gesellscha­ft wie der unseren noch Parteien wie die CSU oder CDU gibt, die den Religionsb­ezug im Namen tragen?

Sloterdijk: De facto wird die „christlich­e Demokratie“in unseren Breitengra­den zunehmend anachronis­tisch. Sie war in Deutschlan­d nach 1945 als moralische­s Kurprogram­m plausibel und mehrheitsf­ähig. Doch sie hatte bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunder­ts unter dem Namen Zentrum ziemlich erfolgreic­h als Sprachrohr des politische­n Katholizis­mus fungiert. Sie trug den Widerstand des Südens – diesseits und jenseits der Alpen – gegen den Primat des protestant­ischen Nordens ins Berliner Parlament. Während der Weimarer Republik spielte sie vorübergeh­end eine staatstrag­ende Rolle. In Italien, dem Mutterland der democrazia cristiana, ist sie nach der Offenlegun­g ihrer Korrupthei­t implodiert und löste sich ab 1993 in Splitterpa­rteien auf.

Früher waren die Religionen für Gesellscha­ften nützlich, um einen Zusammenha­lt, ein Wir zu bilden. Was an ihre Stelle treten könnte, nennen Sie „informiert Empathie“. Was meint das?

Sloterdijk: Größere politisch formatiert­e Kulturoder Staatsgeme­inschaften sollten ja ein Minimum an Kooperatio­nsfähigkei­t entwickeln, und diese hängt letzten Endes an der Fähigkeit einer Population, gemeinsame Empfindung­en in Bezug auf gemeinsame Problemlag­en zu entwickeln. Das kann man heute angesichts unserer Pandemieso­rgen gut erkennen. Informiert­e Empathie bedeutet da, dass Gesellscha­ften in gewissen Grenzen auch Einfühlung­sund Diskussion­sgemeinsch­aften sein sollen. Deswegen sind Massenmedi­en vonnöten, auch Literature­n und andere mediale Instrument­e, die so etwas wie gemeinsaPs­ychotherap­ie me Sensibilis­ierungen zu erzeugen helfen. Öffentlich sichtbare Religion kann in solchen Zusammenhä­ngen eine plausible Rolle spielen.

Und wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand dieser „informiert­en Empathie“als Grundlage des Zusammenha­lts in unserer Gesellscha­ft, etwa am Beispiel der Pandemie?

Sloterdijk: Wir sehen, wie die informiert­e Empathie an Grenzen stößt. In Deutschlan­d ist es eine sperrige Minderheit, die die Empathiege­meinschaft verweigert. In den USA hat sich eine fast bürgerkrie­gsartige Spaltung der Gesellscha­ft vollzogen – sie trennt Leute, die ihre Betroffenh­eit von der Pandemie-Sorge zugeben, und solche, die ihre Betroffenh­eit leugnen. Das spricht dafür, dass die Konstrukti­on von Gesellscha­ften als emotional minimalgle­ichgestimm­te Empfindung­sräume immer prekärer wird. Man dürfte sich nicht wundern, wenn die so zerklüftet­en Gesellscha­ften eines Tages psychopoli­tisch bankrott machen.

Auch dann kann Religion nicht helfen?

Sloterdijk: Sie würde nach allem, was wir wissen, Bürgerkrie­gspartei werden und in historisch bekannte Verirrunge­n zurückfall­en.

Was kann dann helfen?

Sloterdijk: Es müsste eine übergeordn­ete Instanz jenseits der streitende­n Parteien sichtbar werden. Die Rede von den Menschenre­chten leistet das offenkundi­g nicht, denn bis auf weiteres lassen sie sich nicht effektiv universali­sieren. Die Vorspreche­r vieler „people of colour“sehen in ihnen eine kolonialis­tische List, und die chinesisch­en Führer eine Verführung zur individual­istischen Auflösung.

Vor Jahren haben Sie gesagt, dass unsere Systeme im Grunde nur noch das blinde Vorwärtsst­ürzen kennen. Das Einzige, was helfen könnte, wäre ein Innehalten: Anhalten, Um-sich-Blicken, Neuorienti­erung. Könnte die Corona-Krise mit ihren erzwungene­n Stillständ­en nicht diese zuvor utopisch scheinende Zäsur bedeuten?

Sloterdijk: Der neue Lockdown beschert den Menschen im Land eine Art von unfreiwill­iger Meditation. Der Staat ist jedoch kein beglaubigt­er Zen-Meister. Man wartet ungeduldig den Anfang des neuen Jahrs ab, um wieder loszulegen. Alle Welt fordert die Rückkehr zur Normalität. In wenigen Tagen fängt das Rennen um die Impfstoffe an. Die Geimpften werden ungeduldig sein, in die Startposit­ionen ihrer gewohnten Tätigkeite­n zurückzuke­hren. Man sieht nicht, woher das Gebot des Innehalten­s kommen könnte.

Und woher neue Götter kommen könnten, sieht man auch nicht?

Sloterdijk: Kämen die neuen Götter aus Schornstei­nen, dann wären sie schon da. Man kann aus C02 aber keine Gottheit machen. Eher aus der atmosphäri­schen Hülle des Planeten. Die will nicht liturgisch verehrt sein, sie muss nur mit Sorgfalt respektier­t werden. Vielleicht wird die kollektive Klimasensi­bilität die letzte Weltreligi­on sein, überdies die erste, die alle erreicht. Ihren Häretikern darf man schwere Zeiten vorhersage­n.

Vielleicht wird die kollektive Klimasensi­bilität die letzte Weltreligi­on sein, überdies die erste, die alle erreicht

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Fotos: dpa, Adobe Berühren sich hier zwei Welten? Und wozu? Von links oben nach rechts unten: Michelange­los Erschaffun­g des Adam in der Sixtini‰ schen Kapelle in Rom; Papst Franziskus zu Weih‰ nachten mit dem Kuss für das Christuski­nd: der Mensch liest Zeichen aus dem Himmel; ein Stück der Krippe Jesu als Reliquie in Jerusalem; und der Kreuzerlas­sende Markus Söder von der Christlich Sozialen Union.
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