Schwabmünchner Allgemeine

„Wir vergessen nicht“

Nach fünf Monaten Dauerprote­st gegen Diktator Alexander Lukaschenk­o hat die Demokratie­bewegung im Winter an Schwung verloren. Doch der Wille der Menschen zur Erneuerung ist nicht gebrochen: Die Machtprobe steht noch bevor

- V1ON ULRICH KRÖKEL

Minsk Jemand hat in der Nacht eine Flagge aufs Eis gemalt. Meterweit zieht sich die weiß-rot-weiße Spur auf dem Fluss dahin. Es sind die Farben der Opposition in Belarus. Ohne Risiko war das kleine Kunstwerk kaum zu schaffen. Denn die Eisflächen sind brüchig in diesem nicht sehr kalten Winter in der Hauptstadt Minsk. Auf Straßen und Plätzen ist es nicht sicherer. Wer dort etwas aufmalt, läuft Gefahr, von der Sonderpoli­zei Omon verhaftet und womöglich gefoltert zu werden. Und dennoch. Die Übermacht des Regimes von Diktator Alexander Lukaschenk­o schreckt die empörten Menschen in Belarus so wenig ab, wie es die Risse im Eis tun.

Von dem Mut zeugen die vielen Bilder, die über den Messenger Telegram Verbreitun­g finden. In einem Park in Minsk zum Beispiel hat jemand die dünne Schneedeck­e weggefegt, um zwischen das unschuldig­e Weiß mit roter Farbe eine Kampfansag­e auf den Boden zu malen: „Wir vergessen nicht!“Es ist noch längst nicht vorbei, soll das heißen. 2021 machen wir weiter. Und überhaupt: Die Bezeichnun­g

Opposition sei falsch, findet Swetlana Tichanowsk­aja. „Wir sind in der Mehrheit“, sagt die 38-Jährige, die bei der Präsidents­chaftswahl im August Dauermacht­haber Lukaschenk­o herausford­erte und die Freiheitsr­evolte erst ins Rollen brachte.

Wer vorausscha­uen will, wie es in Belarus weitergehe­n könnte, muss sich diese Szenen aus dem Sommer vergegenwä­rtigen. Wie Tichanowsk­aja im Wahlkampf vor Zehntausen­de tritt und sich erst einmal entschuldi­gt. „Ich bin keine Politikeri­n“, sagt die Lehrerin und zweifache Mutter, die für ihren inhaftiert­en Mann Sergei antritt, einen regimekrit­ischen Blogger. „Ich will Präsidenti­n werden, damit alle politische­n Gefangenen freikommen.“Allmählich wird sie mutiger. „Es reicht mit der Angst.“Irgendwann reckt sie die Faust in den Himmel: „Es ist Zeit, Widerstand zu leisten.“Der Rest geht in Jubel unter.

Bei der Wahl am 9. August sind keine Beobachter zugelassen. Doch die Menschen spüren sofort, was unabhängig­e Recherchen später bestätigen: Die 80 Prozent für den Amtsinhabe­r, die als Ergebnis verkündet werden, sind eine Fantasieza­hl. Zehntausen­de gehen gegen den

Betrug auf die Straßen und rufen: „Hau ab, Lukaschenk­o!“Der Diktator aber denkt nicht daran, abzutreten. Stattdesse­n lässt er seinen martialisc­hen Worten aus dem Wahlkampf noch brutalere Taten folgen: „Im Zweifel wird geschossen.“Blendgrana­ten explodiere­n. Tränengas füllt die Straßen. Gummigesch­osse zerfetzen Gliedmaßen. Wer nicht schnell genug ist, auf den prügeln Omon-Polizisten ein. Doch die Menschen lassen sich nicht länger einschücht­ern. Sie kommen wieder. Und wieder. Es folgen Blutnächte.

Hunderte Verletzte und 7000 Inhaftiert­e sind die Bilanz. Für die Gefangenen ist es nicht vorbei: Belarus erlebt Terror und Folter.

Das Regime zwingt Tichanowsk­aja ins litauische Exil. Ihre wichtigste Mitstreite­rin Maria Kolesnikow­a zerreißt an der Grenze zur Ukraine ihren Pass und lässt sich lieber ins KGB-Gefängnis werfen als deportiere­n. Bald sind alle Mitglieder des opposition­ellen Koordinier­ungsrats inhaftiert oder im Ausland. Aber es ändert alles nichts. Es bleibt eine Zeit des Aufbruchs in Belarus. Jeden Sonntag überwinden Zehntausen­de aufs Neue ihre Angst und protestier­en.

Längst ist klar, dass Lukaschenk­o nicht freiwillig weichen wird. „Ich lasse keine Kapitulati­on zu, selbst wenn sie mich töten“, sagt er und zeigt sich mehrfach mit Kalaschnik­ow in der Hand. Die EU erkennt ihn nicht länger als Präsidente­n an und verhängt Sanktionen, ist aber machtlos. Daran ändert auch der Sacharow-Menschenre­chtspreis nichts, den das EU-Parlament an die belarussis­che Opposition verleiht.

Zumal Wladimir Putin den „gewählten Präsidente­n“in Minsk unterstütz­t, wenn auch zögerlich. Den

Sturz eines Machthaber­s in der Nachbarsch­aft will er nicht dulden. Aber er fordert von Lukaschenk­o Reformen und einen Dialog mit dem Volk. Der geschwächt­e Diktator verspricht eine neue Verfassung – bis Ende 2022, wie er am Wochenende ankündigte. Es könnte ein Referendum geben oder Neuwahlen. Tichanowsk­aja spricht von einer Farce. Lukaschenk­o wolle die Menschen erneut täuschen und Zeit für sich gewinnen. Aber auch neutralere Beobachter wie der Minsker Politik-Analyst Alexander Klaskowski halten das Vorhaben für eine Scheinvera­nstaltung.

„Das wird ein Pseudodial­og mit Pseudooppo­sition“, sagt Klaskowski. Wenn es ein Referendum geben sollte, dann „nach demselben Muster wie bei der Präsidents­chaftswahl. Anders könne Lukaschenk­o keine Abstimmung in Belarus mehr gewinnen, denn die Opposition sei tatsächlic­h in der Mehrheit, wie es Tichanowsk­aja sagt. Aber reicht das? Sicher scheint zu Winterbegi­nn nur: Es wird im Frühjahr eine zweite Protestwel­le geben. Klaskowski prophezeit deshalb: „Der Wandel in Belarus wird noch sehr dramatisch.“

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Foto: dpa Die belarussis­che Opposition um Swetla‰ na Tichanowsk­aja ist 2020 mit dem Sa‰ charow‰Menschenre­chtspreis der EU ge‰ ehrt worden.

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