„Das Chaos hat begonnen“
Lastwagen-Staus gibt es zwar nicht, doch die Klagen der Exporteure in Großbritannien werden täglich lauter
London Es stehe außer Frage, darauf beharrte der britische Premierminister Boris Johnson immer wieder, dass nach dem Brexit keine Kontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien für Güter notwendig würden. Auch der Nordirlandminister Brandon Lewis behauptete noch am Neujahrstag, es gebe keine irische Seegrenze. Die Realität sieht anders aus, nachdem der EU-Austritt Großbritanniens vollzogen ist.
Was der Brexit wirklich bedeutet, das wird für die Bürger mit jedem Tag greifbarer. So blieben in Nordirland wie auch in anderen Teilen des Landes in einigen Supermärkten Regale leer. Salat, Blumenkohl, Orangen, Erdbeeren, Himbeeren und Blaubeeren fehlten etwa in manchen Filialen der Supermarktkette Tesco. Dem Online-Lieferdienst Ocado gingen Brokkoli, Karotten und Blumenkohl aus. Neben Transportschwierigkeiten aufgrund der Corona-Pandemie scheinen zahlreiche Unternehmen von den seit 1. Januar gültigen Anforderungen und den notwendigen Formalitäten überrascht. Erst an Heiligabend einigten sich London und Brüssel in letzter Minute auf einen Handelsdeal. Und die massive Umstellung läuft alles andere als rund.
Exporteure in Großbritannien benötigen etwa zusätzliche Papiere, um ihre Lebensmittel nach Nordirland verfrachten zu können. Dieser Landesteil handelt laut Austrittsabkommen weiterhin innerhalb des gemeinsamen europäischen Binnenmarkts, während der Rest des Königreichs nicht mehr Mitglied von Zollunion und Binnenmarkt ist. So kann etwa ein voll beladener Lastwagen am Hafen von Belfast aufgehalten werden, wenn auch nur für ein Produkt der Fuhre nicht die korrekte Zollerklärung ausgefüllt wurde. Dasselbe passierte am Hafen von Dover, wo etwa jeder fünfte Truck umkehren musste, wie der Transportverband RHA angab. Der Frust unter Spediteuren und Händlern sitzt bereits tief, obwohl das erwartete Chaos an den Häfen bislang ausgeblieben ist. Wegen der Feiertagspause und den Vorbereitungen vieler Firmen – viele hatten im Vorfeld Vorräte angelegt – herrschte deutlich weniger Verkehr. Die Probleme würden sich verschlimmern, wenn diese Woche auf der wichtigsten Handelsroute im Südwesten Englands die Zahl wieder auf die üblichen 6000 Lastwagen pro Tag ansteige, hieß es vom RHA. „Das Chaos hat begonnen“, sagte der Frachtexperte John Shirley. „Sogar die einfachste Ladung nach Europa zu organisieren, hat sich aufgrund des Bergs an Bürokratie, die am 1. Januar eingeführt wurde, zu einer fast unmöglichen Aufgabe entwickelt.“
Auch der für die Brexit-Vorbereitungen zuständige Staatsminister Michael Gove warnte: „Die Situation wird schlechter, bevor sie besser wird.“Die Worte des prominenten Europaskeptikers klingen deutlich anders als die rosigen Versprechen der letzten Jahre. Sogar unter den Fischern regt sich Widerstand. Sie waren mehrheitlich für den Austritt aus der Staatengemeinschaft, nun herrscht Ernüchterung. „Es ist eine Katastrophe“, hieß es von einem schottischen Exporteur. Verzögerte Zollabfertigungen und IT-Probleme in Frankreich – plötzlich stecken frische Hummer und Krebse auf dem Weg auf den Kontinent fest. „Alles, was wir diese Woche verschifft haben, ist verloren“, sagte etwa der Chef des schottischen Meeresfrüchte-Exporteurs Loch Fyne Seafarms, Jamie McMillan, in einem Video, das er auf Twitter teilte.