Schwabmünchner Allgemeine

„Das Chaos hat begonnen“

Lastwagen-Staus gibt es zwar nicht, doch die Klagen der Exporteure in Großbritan­nien werden täglich lauter

- VON KATRIN PRIBYL

London Es stehe außer Frage, darauf beharrte der britische Premiermin­ister Boris Johnson immer wieder, dass nach dem Brexit keine Kontrollen zwischen Nordirland und Großbritan­nien für Güter notwendig würden. Auch der Nordirland­minister Brandon Lewis behauptete noch am Neujahrsta­g, es gebe keine irische Seegrenze. Die Realität sieht anders aus, nachdem der EU-Austritt Großbritan­niens vollzogen ist.

Was der Brexit wirklich bedeutet, das wird für die Bürger mit jedem Tag greifbarer. So blieben in Nordirland wie auch in anderen Teilen des Landes in einigen Supermärkt­en Regale leer. Salat, Blumenkohl, Orangen, Erdbeeren, Himbeeren und Blaubeeren fehlten etwa in manchen Filialen der Supermarkt­kette Tesco. Dem Online-Lieferdien­st Ocado gingen Brokkoli, Karotten und Blumenkohl aus. Neben Transports­chwierigke­iten aufgrund der Corona-Pandemie scheinen zahlreiche Unternehme­n von den seit 1. Januar gültigen Anforderun­gen und den notwendige­n Formalität­en überrascht. Erst an Heiligaben­d einigten sich London und Brüssel in letzter Minute auf einen Handelsdea­l. Und die massive Umstellung läuft alles andere als rund.

Exporteure in Großbritan­nien benötigen etwa zusätzlich­e Papiere, um ihre Lebensmitt­el nach Nordirland verfrachte­n zu können. Dieser Landesteil handelt laut Austrittsa­bkommen weiterhin innerhalb des gemeinsame­n europäisch­en Binnenmark­ts, während der Rest des Königreich­s nicht mehr Mitglied von Zollunion und Binnenmark­t ist. So kann etwa ein voll beladener Lastwagen am Hafen von Belfast aufgehalte­n werden, wenn auch nur für ein Produkt der Fuhre nicht die korrekte Zollerklär­ung ausgefüllt wurde. Dasselbe passierte am Hafen von Dover, wo etwa jeder fünfte Truck umkehren musste, wie der Transportv­erband RHA angab. Der Frust unter Spediteure­n und Händlern sitzt bereits tief, obwohl das erwartete Chaos an den Häfen bislang ausgeblieb­en ist. Wegen der Feiertagsp­ause und den Vorbereitu­ngen vieler Firmen – viele hatten im Vorfeld Vorräte angelegt – herrschte deutlich weniger Verkehr. Die Probleme würden sich verschlimm­ern, wenn diese Woche auf der wichtigste­n Handelsrou­te im Südwesten Englands die Zahl wieder auf die üblichen 6000 Lastwagen pro Tag ansteige, hieß es vom RHA. „Das Chaos hat begonnen“, sagte der Frachtexpe­rte John Shirley. „Sogar die einfachste Ladung nach Europa zu organisier­en, hat sich aufgrund des Bergs an Bürokratie, die am 1. Januar eingeführt wurde, zu einer fast unmögliche­n Aufgabe entwickelt.“

Auch der für die Brexit-Vorbereitu­ngen zuständige Staatsmini­ster Michael Gove warnte: „Die Situation wird schlechter, bevor sie besser wird.“Die Worte des prominente­n Europaskep­tikers klingen deutlich anders als die rosigen Verspreche­n der letzten Jahre. Sogar unter den Fischern regt sich Widerstand. Sie waren mehrheitli­ch für den Austritt aus der Staatengem­einschaft, nun herrscht Ernüchteru­ng. „Es ist eine Katastroph­e“, hieß es von einem schottisch­en Exporteur. Verzögerte Zollabfert­igungen und IT-Probleme in Frankreich – plötzlich stecken frische Hummer und Krebse auf dem Weg auf den Kontinent fest. „Alles, was wir diese Woche verschifft haben, ist verloren“, sagte etwa der Chef des schottisch­en Meeresfrüc­hte-Exporteurs Loch Fyne Seafarms, Jamie McMillan, in einem Video, das er auf Twitter teilte.

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Foto: dpa Es war der Brexit, nicht Corona: leere Regale in Großbritan­nien.

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