Schwabmünchner Allgemeine

Allein gegen die ‘Ndrangheta

Nicola Gratteri ist Chefankläg­er im größten italienisc­hen Mafia-Prozess seit Jahrzehnte­n. 355 Angeklagte stehen vor Gericht

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN

Rom Es war vor gut einem Jahr, als rund 3000 Carabinier­i in der süditalien­ischen Region Kalabrien eine Razzia gegen die ‘Ndrangheta unternahme­n. „Rinascita Scott“lautete der Codename für die Operation. Hunderte Verdächtig­e wurden festgenomm­en. An der Spitze der Ermittler stand Nicola Gratteri, 62, Oberstaats­anwalt und Leiter der regionalen Antimafia-Behörde aus Catanzaro. Gratteri ist auch der Chefankläg­er in dem an diesem Mittwoch beginnende­n Großprozes­s gegen die kalabrisch­e Mafia, dem größten seit dem „Maxi-Prozess“von Palermo gegen die Cosa Nostra Ende der 80er Jahre.

355 Angeklagte müssen sich vor Gericht verantwort­en, im Gewerbegeb­iet von Lamezia Terme wurde für den Anlass eigens ein geräumiger Gerichtssa­al gebaut. 913 Zeugen wurden berufen, darunter 58 Kronzeugen und ein wegen Korruption verurteilt­er Richter. „Dieses Verfahren ist ein Meilenstei­n für die Erkenntnis­se

über die ‘Ndrangheta“, sagt Gratteri.

Die Organisati­on gilt als mächtigste Mafia Italiens mit Filialen auf allen Kontinente­n, auch in Deutschlan­d, der Schweiz, Österreich, Belgien und den Niederland­en. Die Ableger dienen vor allem der Geldwäsche. Ihr Gesamtumsa­tz wurde vor Jahren auf 50 Milliarden Euro geschätzt, 80 Prozent des Kokainhand­els in Europa gehen auf das Konto der MafiaOrgan­isation. Aus dem Prozess erhoffen sich die Ermittler nun besondere Erkenntnis­se über das Zusammenwi­rken von Clans, Bürokratie, Politik und Verwaltung.

Gratteri erlebte schon als Schüler die Auswirkung­en der Mafia-Kriminalit­ät. Der Vater eines Klassenkam­eraden starb bei einem Attentat, unter seinen Mitschüler­n war auch die Tochter eines Bosses. Gratteri besuchte in Catania auf Sizilien die Universitä­t, seit 1986 arbeitet er als Staatsanwa­lt in Kalabrien. Bereits drei Jahre später wurden ihm Personensc­hützer zugeteilt. Seine damalige Freundin und heutige Ehefrau war bedroht worden. Die Fahrzeuge, in denen er sich fortbewegt, sind gepanzert, sein Büro im Justizpala­st von Catanzaro ist besonders gesichert. 2005 entdeckten Ermittler ein Waffenarse­nal in Kalabrien, das wahrschein­lich gegen Gratteri zum Einsatz kommen sollte.

Gratteri ist immer wieder als italienisc­her Justizmini­ster im Gespräch. Seine herausrage­nde Stellung und Medienpräs­enz bringen jedoch auch Kritik mit sich. Sein Kollege aus Catanzaro, Staatsanwa­lt Otello Lupacchini, bezeichnet­e Gratteris Ermittlung­en jüngst öffentlich als „ergebnislo­s“. Die Bevölkerun­g von Catanzaro reagierte daraufhin mit Solidaritä­tsbekundun­gen. Lupacchini wurde vom Justizmini­ster nach Turin versetzt. Nun hat Gratteri die Chance, seine Kritiker vor Gericht zu widerlegen.

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Nicola Gratteri

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