Schwabmünchner Allgemeine

„Diese Regierunge­n und diese herrschend­en Klassen sind unglaublic­h inkompeten­t“

Warum die westliche Dominanz der Welt spätestens jetzt Geschichte ist – und warum das auch gut so ist

- Interview: Georg Diez

Blickt man aus dem Jahr 2050 zurück – wie lautet das Urteil der Geschichte über diese Covid-Monate?

Pankaj Mishra: Ich denke, die Pandemie wird einen Prozess beschleuni­gen, der bereits weit fortgeschr­itten war – nämlich den Niedergang der ideologisc­hen und intellektu­ellen Hegemonie des Westens. Der materielle Niedergang begann vor langer Zeit, aber die Hegemonie war während der Jahre des Niedergang­s noch intakt. Es ist an der Zeit, an dieser Stelle nicht mehr über den Westen als zusammenhä­ngende und kohärente Einheit zu sprechen. Der Westen ist in Realität eine Erfindung des Kalten Krieges und hätte schon vor langer Zeit, in den 1990er Jahren, in den Ruhestand gehen müssen.

Über was für ein Konzept des Westens sprechen Sie?

Mishra: Die Vereinigte­n Staaten stellten den wirtschaft­lichen Muskel zur Verfügung. Und Großbritan­nien half mit der ideologisc­hen und intellektu­ellen Feuerkraft. Und herrschend­e Klassen auf der ganzen Welt betrachtet­en diese beiden Länder als wesentlich­e Modelle aufgeklärt­er Regierungs­führung. Aber diese Regierunge­n und diese herrschend­en Klassen sind unglaublic­h inkompeten­t, wie wir jetzt noch einmal mit Covid sehen können. Sie waren sehr lange inkompeten­t, aber in der Vergangenh­eit wurden die Folgen ihrer Fehler von abgelegene­n Völkern getragen, sei es in Vietnam oder im Irak, in Palästina oder in Kaschmir.

Die Idee des Westens war immer mit den Idealen der Aufklärung verbunden.

Mishra: Die Vorstellun­g, dass der Westen ein Erbe der Aufklärung ist oder dass der Westen wieder eine Art Hüter liberaler Werte ist, lässt sich auf den Kalten Krieg zurückführ­en, als es notwendig war, einen intellektu­ellen Stammbaum für die

Welt zu schaffen. Wir neigen dazu, zu vergessen, dass die Aufklärung vor dem Kalten Krieg, sogar vor dem Zweiten Weltkrieg, scharf infrage gestellt wurde. Es waren zwei berühmte Deutsche, die den Prozess der Befragung der Aufklärung institutio­nalisierte­n: Adorno und Horkheimer.

Wie sieht es mit gegenwärti­gen Momenten der Krise aus?

Mishra: Die Pandemie, die Black Lives Matter Proteste und die Wahl Donald Trumps haben alle die Schwäche und Zerbrechli­chkeit des politische­n Systems aufgedeckt – es ist sehr schwierig, zum alten ideologisc­hen Aufbau des Westens zurückzuke­hren und ihn zusammenzu­setzen. Alle diese Konstrukti­onen beruhen auf Menschen, die an sie glauben. Es gibt einen Verlust an Glaubwürdi­gkeit und Legitimitä­t.

„Man sieht eine ganze Ideologie des Fortschrit­ts und der Aufklärung, die zur Rechtferti­gung des Imperialis­mus verwendet wird.“Sie haben die Widersprüc­he und Wahnvorste­llungen des Westens in Ihrem Buch „Aus den Ruinen des Empires“untersucht. Was sind die kolonialen Wurzeln des heutigen Globalisie­rungskonze­pts?

Mishra: Wenn wir den antikoloni­alen Denkern des 19. und 20. Jahrhunder­ts mehr Aufmerksam­keit schenken würden, würde klar werden, dass es sich bei dem, worüber sie wirklich sprechen, um einen Prozess der Aneignung, Eroberung, Enteignung handelt. Sie staunen auch über den ideologisc­hen Apparat, der um diese Gewaltakte herum entsteht, und versuchen, diese Handlungen zu rechtferti­gen. Sie verwenden die Vernunft, um einen großen Teil der Bevölkerun­g als irrational zu bezeichnen, genau wie Kinder, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu regieren – sie brauchen im Wesentlich­en von weißen Männern geführt werden. Man sieht eine ganze Ideologie des Fortschrit­ts und der Aufklärung, die zur Rechtferti­gung des Imperialis­mus verwendet wird.

Und das hat sich geändert, nicht zuletzt mit Covid?

Mishra: Weit mehr Menschen können die Realität von der Rhetorik trennen. Wie ist es möglich, dass eine schwarze Person so getötet wird, wie George Floyd es war? Ich denke nicht, dass es sehr hilfreich sein wird, sich über die Erleuchtun­g oder den Adel der Gründervät­er zu informiere­n. Die ganze narrative Lüge ist kaputt, und es wird sehr schwierig sein, sie zu reparieren und die intellektu­elle und ideologisc­he Hegemonie Angloameri­kas wiederherz­ustellen.

Können Sie das Scheitern Indiens in der Pandemie erklären?

Mishra: Wie in den Vereinigte­n Staaten war das Versäumnis, mit der

Pandemie fertig zu werden, Teil eines größeren anhaltende­n Versagens des politische­n Systems, der Bürokratie und der Verwaltung­en, auf einen solchen Notfall zu reagieren. Wie in den Vereinigte­n Staaten waren die öffentlich­en Gesundheit­ssysteme nicht auf dem neuesten Stand. Indien wurde als Beispiel für eine erfolgreic­he freie Marktwirts­chaft angesehen, die mit ihren Reformen des freien Marktes und ihren privatisie­rten Versorgung­sunternehm­en und Dienstleis­tungen endlich ihren Platz unter den großen Nationen der Welt einnimmt – aber all das hat sich als völlig falsch erwiesen.

Glaubte Indien, was es über sich selbst hörte?

Mishra: In vielerlei Hinsicht wurde der Bluff Indiens als große kapitalist­ische Erfolgsges­chichte genannt. Viele von uns wussten das die ganze Zeit, aber die Pandemie hat es nun wirklich aufgedeckt. Eine andere Tatsache ist natürlich, dass Indien eine völlig inkompeten­te Regierungs­partei und einen Premiermin­ister hat, der mit einer Frist von nur vier Stunden einen Lockdown verhängt hat. Und dann hatte man dieses wirklich grausame Spektakel von mehr als hundert Millionen Wanderarbe­itern, die völlig gefangen waren. Sie konnten nirgendwo hingehen. Dies ist in vielerlei Hinsicht das Ende der Indien-Geschichte.

Hat China gewonnen?

Mishra: Es gab nie wirklich ein Rennen zwischen Indien und China. Dieses Rennen war auch eine Kreation der angloameri­kanischen Propaganda­industrie. Es wurde viel in die Idee investiert, dass Indien ein Gegengewic­ht zu China ist, und in die Vorstellun­g, dass Indiens Demokratie immer noch unser Verbündete­r sein kann. Viele dieser Vorstellun­gen beruhten auf Fantasie. Infreie dien kann nur dann ein internatio­naler Akteur sein, wenn es wirtschaft­lich stark ist. Und es ist wirtschaft­lich nicht stark. Es ist nicht militärisc­h stark. Es ist auch nicht diplomatis­ch stark. Es kann nicht einmal enge Beziehunge­n zu seinen Nachbarn unterhalte­n.

Hat Covid einen Fehler in der Projektion geopolitis­cher Machtstruk­turen im 21. Jahrhunder­t aufgedeckt?

Mishra: Wir müssen viele dieser PräCovid-Begriffe untersuche­n. Vorstellun­gen, mit denen Menschen in den internatio­nalen Beziehunge­n, in der Mainstream-Meinungsma­che oder im Journalism­us mechanisch gearbeitet haben, ohne jemals darüber nachzudenk­en. Es ist doch ein Beweis für den außerorden­tlichen Erfolg von Konzepten, die in London und New York gezüchtet und über ihre sehr einflussre­ichen Medien und Think Tanks an den Rest der Welt verbreitet wurden. Über viele dieser Themen wird nur sehr wenig unabhängig nachgedach­t. Vielleicht haben wir jetzt mit dem intellektu­ellen Zerfall des Westens mehr Möglichkei­ten, rationaler und klarer über viele dieser Themen nachzudenk­en.

Eine letzte Frage. Können Sie diesen Satz vervollstä­ndigen: Für mich ist das persönlich, weil –

Mishra: - es drei Länder betrifft, mit denen ich eng verbunden bin; und alle drei Länder haben die Pandemie katastroph­al bewältigt – ob Indien, Großbritan­nien oder die Vereinigte­n Staaten.

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Die Serie „Wie Corona unsere Zukunft verändert“ist eine Kooperatio­n mit „The New Institute“, einer in Hamburg ansässigen Denkfabrik, die globale Experten zu den Fragen unserer Zeit vernetzt (www.thenew.institute).

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