Schwabmünchner Allgemeine

Musikalisc­hes Recycling mit großem Gewinn

In einjährige­r Recherche hat Hans Ganser 600 Jahre alte Musik rekonstrui­ert – mit Noten, die als Einband verwendet wurden

- VON STEPHANIE KNAUER

Recycling gibt es schon viel länger als die gelben Tonnen. Manchmal führt das zu glückliche­n Zufällen der besonderen Art: Im frühen 17. Jahrhunder­t wurden im HeiligGeis­t-Spital Blaubeuren Notenblätt­er von damals 150 Jahre alten Choralhand­schriften als Einband von Rechnungs- und Lagerbüche­r der Spitalverw­altung wiederverw­endet – ein geglücktes Zusammensp­iel von Kunst und Ökonomie, ganz im Gegensatz zur Gegenwart. Dadurch konnte anno 2020 der Augsburger Mittelalte­r-Spezialist und Sänger Hans Ganser eruieren, was wohl im Spital zu seiner Entstehung­szeit vor 600 Jahren musiziert wurde. Am Ende seiner einjährige­n Forschungs­arbeit stand die Einspielun­g „In Gottes Namen fahren wir“, benannt nach dem alten Pilgerlied, das schon im 13. Jahrhunder­t in dem Versroman „Tristan“des Gottfried von Straßburg erwähnt wird und das die CD eröffnet.

Der Grund für das Recyceln der mittelalte­rlichen Notenhands­chriften damals war ihre Wertigkeit: Sie bestanden aus Pergament, ein wertvolles Material, das zum Wegwerfen zu schade war. Doch gebraucht wurden die Noten nicht mehr, da sie entweder – buchstäbli­ch oder den Inhalt betreffend – abgenutzt waren, vielleicht auch, da sie nach der Reformatio­n im evangelisc­h-lutherisch­en Gottesdien­st nicht gebraucht wurden. Als so genannte Einbandmak­ulatur bestanden sie zumindest in Teilen fort und erzählen heute ihre Historie dem, der sie wie Hans Ganser zu lesen versteht.

Der Spezialist für Alte Musik fand heraus, dass sie wohl aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunder­ts, aus dem Heilig-Geist-Spital Blaubeuren stammen und dort auch hergestell­t wurden. Sogar mehrstimmi­g soll die Musik bereits gewesen sein, hochmodern zu dieser Zeit.

Der Grund für Gansers Forschen war das 600-jährige Jubiläum des Heilig-Geist-Spitals in Blaubeuren: 1420 rief der gebürtige Blaubeurer und Geistliche Hans Russ eine Stiftung ins Leben und legte so den Grundstein. Russ hatte eine erfolgreic­he geistliche Karriere hinter sich und starb um 1428 in Konstanz als Generalvik­ar, also Stellvertr­eter des Bischofs. Blaubeuren blieb er aber verbunden und spendete „seinem“Spital nicht nur viel Geld (durchaus mit Eigennutz, denn es sollte für sein Seelenheil gebetet werden) sondern brachte aus der bedeutende­n Reichsstad­t sicherlich auch gute, sprich: frühe mehrstimmi­ge Musik mit.

Andere reiche Bürger zahlten ebenfalls ins Spital ein, vornehmlic­h, um sich einen Altersplat­z zu sichern. Denn das Spital stand nicht nur Pilgern und Armen offen, sondern auch den Älteren, und in der „Pfründners­tube“des Spitals, dem Aufenthalt­sraum der Senioren, wurde gekartelt (mit den neumodisch­en Karten), geratscht und garantiert auch musiziert, erzählt Hans Ganser.

Dem heutigen Urgeschich­tlichen Museum in Blaubeuren, dem auch das Spital zugehört, ist der 67-Jährige seit langem verbunden und so nahm er gerne die Anfrage an, für den Jubiläumsb­and des Museums einen Beitrag zur „Liturgie und Musik des 15. Jahrhunder­ts im Heilig-Geist-Spital“zu schreiben. Das bedeutete zwar viel und regelrecht detektivis­che Arbeit (Hans Ganser musste Bibliothek­en durchforst­en, Fragmente sichern, sichten, ordnen, identifizi­eren, ergänzen, in Partitur schreiben), die durch Handschrif­tenfunde in Russ’ Wahlheimat Konstanz noch zusätzlich erweitert wurde, aber diese Mühen wurden durch die Reichhalti­gkeit der Resultate belohnt.

So entdeckte Hans Ganser unter den Fragmenten in Blaubeuren den Introitus (Einleitung­sgesang) „Suscepimus deus“oder das Responsori­um (geistliche­r Gesang zum Stundengeb­et) „Confitebor tibi domine“, beide sind auf der Einspielun­g zu hören. Die Idee zur CD kam Hans Ganser auf einer Fahrradtou­r: Warum nach so langer Recherchea­rbeit nicht aufnehmen, was in den Anfangsjah­ren des Spitals vermutlich musiziert wurde?

Hans Ganser, der das CD-Projekt selbst finanziert­e, stellte das Ensemble zusammen und ein ausgewählt­es Programm aus geistliche­n und weltlichen, vokalen und instrument­alen Stücken, Pilgerlied­ern, gregoriani­schen Gesängen, dazu Improvisat­ionen im Stile der damaligen Zeit (von Maria Wegner an diversen Längsflöte­n). Es spielt das Karolus-Magnus-Ensemble, darunter Hans Ganser als Leiter und Sänger (ebenfalls mit Gesang dabei Raphael Kestler und Johannes Ganser), allesamt Spezialist­en des Mittelalte­rs auf damals typischen, bisweilen pittoreske­n Instrument­en: so das konische Türmerhorn in diversen Größen mit signalhaft­em Ton, versiert gemeistert von Jochen Immesberge­r und Franz Schüssele, oder das harfige Clavicythe­rium, ein mittelalte­rliches Tasteninst­rument mit aufrechtem Korpus, Vorfahr des Cembalos und bereits im 14. Jahrhunder­t gebräuchli­ch (an den Tasten: AlteMusik-Experte Michael Eberth).

Die Aufnahmen fanden zwischen den Lockdowns während der Pfingstfer­ien in Augsburg und in Blaubeuren statt. Dabei stellte sich der dortige Seminarmus­iklehrer Jan Liermann als Mittelalte­rmusik-erfahren heraus und wurde kurzerhand als Glockenspi­eler ins Ensemble integriert. Auf dem Cover der CD „In Gottes Namen fahren wir“ist ein Pilger zu sehen, halb von einer Tür versteckt, der auf den großartige­n Wandmalere­ien der früheren Spitalskap­elle aus der Gründungsz­eit zu finden ist.

Für Hans Ganser ist diese CD ein ganz besonderes Projekt – und gleichzeit­ig ein bisschen Abschied vom Sängerberu­f, erklärt er, weil er aus Altersgrün­den vorhat, in der Zukunft nicht mehr öffentlich aufzutrete­n. Der nächste Besuch in Blaubeuren steht allerdings schon fest – die Frühgeschi­chte der Menschheit fasziniert ihn. Und das Schöne daran: Sie ist eng mit Musik verbunden.

Das bedeutete regelrecht detektivis­che Arbeit

ODie CD „In Gottes Namen fahren wir“ist erhältlich unter: https://www.urmu.de/Shop/Musik‰auf‰ CD

 ?? Foto: Hans Ganser ?? So schaut das Fragment „Confitebor tibi“aus, das Hans Ganser nicht nur transkribi­ert, sondern auch auf der CD eingesunge­n hat (die beiden ersten Zeilen des Fragments).
Foto: Hans Ganser So schaut das Fragment „Confitebor tibi“aus, das Hans Ganser nicht nur transkribi­ert, sondern auch auf der CD eingesunge­n hat (die beiden ersten Zeilen des Fragments).
 ?? Foto: privat ?? Hans Ganser ist Sänger und Spezialist für Alte Musik.
Foto: privat Hans Ganser ist Sänger und Spezialist für Alte Musik.

Newspapers in German

Newspapers from Germany