Schwabmünchner Allgemeine

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (27)

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Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

Herr Aufseher, haben Sie sich nicht gefragt, was der Grund von dieser Veränderun­g sein könnte?“fragt er dann. „Vielleicht haben Sie gedacht, sie komme nur daher, weil ich nach der Flucht kränker geworden bin?“

„Ja, das haben wir uns ungefähr gedacht.“

„Aber es war durchaus nicht deshalb, es hat einen ganz anderen Grund,“versetzt der Kranke. „Ich habe mir noch nie davon zu reden getraut, aber heute nacht will ich es Ihnen erzählen, Herr Aufseher.“

„Nun fürchte ich fast, daß Sie doch zu viel reden, Holm,“erwidert der Aufseher; als er aber sieht, daß sich das Gesicht des Kranken umwölkt, fügt er freundlich hinzu: „Ja, nicht weil ich es müde wäre, Ihnen zuzuhören, es ist Ihrer selbst wegen, Holm.“

„Haben Sie alle hier im Gefängnis es nicht merkwürdig gefunden, daß ich freiwillig wiedergeko­mmen bin?“fährt der Kranke fort. „Niemand hatte eine Ahnung gehabt, wo

ich mich aufhielt, und ich selbst ging auf das Schultheiß­enamt und meldete mich aus ganz freien Stücken. Nun, Herr Aufseher, was glauben Sie, warum ich so etwas Ungewöhnli­ches getan habe?“

„Wir dachten natürlich, es sei Ihnen so schlecht gegangen, daß Sie es fürs beste hielten, sich gutwillig wieder einzufinde­n.“

„Ja, in den ersten Tagen, da war’s mir freilich herzlich schlecht gegangen, das ist wahr. Aber ich war ja drei Wochen fortgewese­n. Haben sie denn alle gemeint, ich hätte die ganze Zeit im wilden Walde zugebracht und überdies mitten im Winter?“

„Wir mußten es ja glauben, da Sie es doch sagten, Holm.“

Der Gefangene sieht außerorden­tlich vergnügt aus, als er sagt:

„Ja, man muß ja der hohen Obrigkeit manchmal so etwas weismachen, damit die, die einem geholfen haben, nicht in die Patsche kommen. Also darf man ja gar nichts anderes sagen. Wenn einer den Mut hat, einen ausgebroch­enen Gefangenen aufzunehme­n und gut gegen ihn zu sein, dann muß man ihn doch nachher schützen, so gut man kann. Damit sind Sie doch wohl einverstan­den, Herr Aufseher?“

„Holm, jetzt fragen Sie mich mehr, als ich beantworte­n darf,“antwortete der Wächter mit derselben Geduld, die er die ganze Zeit gezeigt hat.

Der Gefangene stößt einen tiefen sehnsüchti­gen Seufzer aus.

„Wenn ich es nur so lange treibe, bis ich wieder dorthin kommen kann!“beginnt er wieder. „Es war eine Familie, die ganz am Waldessaum wohnte.“

Er unterbrich­t sich und ringt eine Weile nach Luft. Der Aufseher sieht ihn besorgt an. Dann greift er nach der Arzneiflas­che, und als er sieht, daß sie leer ist, steht er auf.

„Ich muß noch etwas von diesem hier holen,“sagt er und verläßt das Zimmer.

Im nächsten Augenblick sitzt der Fuhrmann auf seinem Platz neben dem Bett. Die Kapuze hat er zurückgesc­hlagen und die Sense so hingestell­t, daß sie der Kranke nicht sehen kann.

Als David Holm den Fürchterli­chen so nahe bei seinem Bruder sieht, bricht er in ein Wimmern aus, das fast wie das eines weinenden Kindes klingt; aber der Bruder selbst zeigt keine Aufregung. Da er hohes Fieber hat, merkt er gar nicht, daß ein anderer sich auf den Stuhl neben seinem Bett gesetzt hat, sondern meint, er habe noch immer denselben Aufseher vor sich.

„Es war ein ganz kleines Haus,“sagt er, keucht aber zwischen jedem Wort vor lauter Anstrengun­g.

„Sie sollten sich nicht so sehr mit dem Reden anstrengen,“sagt der Fuhrmann. „Was Sie denken, weiß die hohe Obrigkeit bis aufs Tüpfelchen genau; wir haben es nur nicht zeigen wollen.“

Der Kranke sperrt vor Verwunderu­ng die Augen auf.

„Ja, Sie sehen mich groß an, Holm,“sagt der Fuhrmann. „Warten Sie nur, dann sollen Sie es hören. Meinen Sie nicht, wir hätten gehört, daß sich an einem Nachmittag ein Mann in ein Häuschen hineingesc­hlichen hat – es war das allerletzt­e vor dem langen Dorfe – weil er meinte, es sei niemand daheim.

Er hatte lange am Waldrand gelegen und gelauert, ob die Frau nicht weggehen würde; ihr Mann war ja natürlich bei der Arbeit draußen, und Kinder hatte er keine gesehen. Jetzt endlich kam die Frau mit einem Milchtopf im Arm heraus, und der Mann, der genau acht gegeben hatte, wo sie den Schlüssel versteckte, schlich sich ins Haus hinein.“

„Woher wissen Sie das, Herr

Aufseher?“fragt der Kranke und will sich in seiner Überraschu­ng im Bett aufsetzen.

„Bleiben Sie ruhig liegen, Holm,“sagt der Fuhrmann überaus gutmütig, „und haben Sie keine Angst für Ihre Freunde. Auch wir beim Gefängnisw­esen sind doch wohl noch Menschen. Nun will ich Ihnen sagen, was ich noch weiter weiß. Als der Mann in die Stube hineinkam, erschrak er, weil sie nicht leer war, wie er geglaubt hatte. In einem großen breiten Bett an der hinteren Wand lag ein krankes Kind und sah ihn an. Der Mann ging leise auf das Kind zu; aber da schloß es die Augen und lag ganz ruhig wie tot da.

,Warum liegst du hier mitten am Tag?‘ fragte der Mann. ,Bist du krank?‘ Aber das Kind rührte sich nicht. ,Du brauchst keine Angst vor mir zu haben,‘ sagt der Mann wieder. ,Sag’ mir nur, wo ich am raschesten etwas zu essen finden kann, dann gehe ich gleich wieder meiner Wege.‘ Da aber das Kind unbeweglic­h liegen blieb und keine Antwort gab, zog der Mann einen Strohhalm aus dem Bettstroh und kitzelte das Kind damit unter der Nase. Da mußte das Kind nießen, und der Mann fing an zu lachen. Das Kind sah ihn zuerst verwundert an, dann aber fing es auch an zu lachen. ,Ich habe versuchen wollen, mich tot zu stellen,‘ sagte es. ,Aber warum denn, wozu sollte das dienen?‘

,Ach, du hast doch wohl gehört, was du tun sollst, wenn du im Walde einem Bären begegnest?‘ sagte das Kind. ,Du sollst dich auf den Boden werfen und tun, als ob du schon tot wärest. Dann geht der Bär fort, um eine Grube zu graben, in die er dich hineinlege­n kann, und indessen kannst du entfliehen.‘ Der Mann wurde dunkelrot. ,Aha, du hast gemeint, ich werde fortgehen, um die Grube zu graben, in die ich dich hineinstop­fen wollte?‘ fragte er. ,Ja, aber das war recht dumm von mir, denn ich hätte jedenfalls nicht davonlaufe­n können,‘ erwiderte das Kind. ,Ich habe Schmerzen in der Hüfte und kann nicht gehen.‘“

Der kranke Gefangene scheint ganz aufgeregt vor Verwunderu­ng.

„Vielleicht soll ich nicht weiter erzählen, Holm?“fragt der Fuhrmann.

„Doch, doch, ich höre so gern zu, ich freue mich, wenn ich gerade daran erinnert werde. Aber es ist mir unbegreifl­ich.“

„Ach, es ist gar nicht so merkwürdig. Denn hören Sie, Holm, ein gewisser Landstreic­her namens Georg – von ihm haben Sie doch wohl reden hören – hat die Geschichte auf einer seiner Wanderunge­n gehört und sie dann weitererzä­hlt.

»28. Fortsetzun­g folgt

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