Schwabmünchner Allgemeine

Pflegekrit­iker im Interview

Das Kursana Seniorenhe­im in Bobingen kämpft mit einem massiven Corona-Ausbruch. Im Gespräch erklärt Pflegekrit­iker Claus Fussek, warum die Krise lediglich Probleme aufdeckt, die vorher schon da waren

- VON FELICITAS LACHMAYR

Das Kursana Seniorenhe­im Bobingen kämpft mit einem CoronaAusb­ruch. Claus Fussek erklärt, warum die Krise alte Probleme aufdeckt.

Bobingen Das Seniorenhe­im Kursana in Bobingen hat mit einem massiven Corona-Ausbruch zu kämpfen. 61 von insgesamt 86 Bewohner haben sich infiziert, zwei Menschen sind am Virus gestorben. Zuvor grassierte Covid-19 im Haus St. Raphael in Schwabmünc­hen. 16 Bewohner starben im Zusammenha­ng mit Corona. Auch im Seniorenze­ntrum St. Albert in Zusmarshau­sen hatten sich vor Weihnachte­n 25 Bewohner infiziert. Warum entwickeln sich gerade Seniorenhe­ime zu Corona-Hotspots? Pflegekrit­iker Claus Fussek erklärt, warum die Krise Probleme aufdeckt, die schon vorher da waren.

Herr Fussek, im Seniorenhe­im in Bobingen haben sich Dreivierte­l der Bewohner mit Corona infiziert. Wie erklären Sie sich einen solch massiven Ausbruch?

Claus Fussek:

Ich kenne die Situation vor Ort nicht. Die genauen Ursachen lassen sich nur in der Einrichtun­g selbst klären. Reflexarti­ge Schuldzuwe­isungen über mögliche Versäumnis­se helfen nichts. Es liegt jetzt an der Heimleitun­g, offen und ehrlich mit den Behörden nach den Gründen für den Ausbruch zu suchen.

Was könnten mögliche Ursachen sein?

Fussek: Auch da muss man genau hinschauen. Beispielsw­eise wurden in manchen Einrichtun­gen die Besuchsreg­eln gelockert. Das birgt ein gewisses Risiko, wurde aber vielenorts von Angehörige­n gefordert. Dass Hygienekon­zepte nicht richtig umgesetzt werden, ist nach dieser langen Zeit fast nicht vorstellba­r. Generell gilt: Es gibt gute Einrichtun­gen mit kreativen Konzepten und Heime, in denen es nicht gut läuft. Wir sollten nicht alle Häuser, die mit einem Corona-Ausbruch zu kämpfen haben, an den Pranger stellen.

Aber wie lassen sich die erschrecke­nd hohen Todeszahle­n erklärbar machen?

Fussek: Die hohen Zahlen lassen sich nicht erklären. Man muss aber auch sagen, dass schon vor der Pandemie viele hochbetagt­e Menschen mit Vorerkrank­ungen in Pflegeheim­en verstorben sind, sei es am Noro-Virus oder der Grippe. Nur hat das niemanden interessie­rt. Wir bräuchten unabhängig von Corona eine viel stärkere Hospizkult­ur in den Einrichtun­gen.

Was bedeutet die Corona-Krise für die Pflegeheim­e?

Fussek: Corona ist für uns alle ein absoluter Ausnahmezu­stand. Aber viele der Probleme in den Heimen sind hausgemach­t und waren schon vor der Krise sichtbar. Hygienekon­zepte bestanden oft nur auf dem Papier. Überall wurde am Personal gespart, die Pflegekräf­te standen unter Zeitdruck und waren völlig überlastet. Es ist ein Teufelskre­is, dass Mitarbeite­r jetzt auch noch selbst erkranken. Auch Angehörige haben sich teilweise nicht um die Belange ihrer Nächsten gekümmert.

Viele Bewohner hatten also auch vorher mit Einsamkeit zu kämpfen?

Fussek: Vor Corona wurden in deutschen Pflegeheim­en nicht einmal zehn Prozent der Heimbewohn­er öfter als einmal pro Woche besucht. Die meisten erhalten höchsten einbis zweimal im Monat Besuch. Viele alte Menschen sind vergessen und waren es schon vor der Krise. Anderersei­ts gibt es Angehörige, die sich liebevoll um ihre Nächsten kümmern und nun mit den Einschränk­ungen zu kämpfen haben.

Corona rückt die Situation in den

Pflegeeinr­ichtungen wieder mehr in den Fokus. Kann das langfristi­g zur Verbesseru­ng beitragen?

Fussek: In der Debatte schwingt ein Stück Scheinheil­igkeit mit. Ich bin überrascht, wie viele Menschen sich plötzlich um schutzbedü­rftige Risikopati­enten sorgen. Dabei haben die meisten noch nie ein Pflegeheim von innen gesehen. Jahrelang hat sich kaum jemand über die Situation empört und die verzweifel­ten Hilferufe der Pflegekräf­te wurden ignoriert. Pflegeheim­e haben sich zu beinahe rechtsfrei­en Räumen entwickelt. Trotzdem sehe ich Corona auch als Chance.

Inwiefern?

Fussek: Die Krise ermöglicht es, das System und seine Akteure grundlegen­d auf den Prüfstand zu stellen. Wie es weitergeht, hängt allerdings davon ab, ob wir als Gesellscha­ft die Pflege zur Schicksals­frage erklären. Denn das Thema geht uns früher oder später alle etwas an.

Was müsste sich ihrer Meinung nach ändern?

Fussek: Niemand befürworte­t eine schlechte Situation in der Pflege oder ist gegen eine bessere Bezahlung der Pflegekräf­te. Aber wir müssen die Probleme endlich offen ansprechen. Noch herrscht leider ein Klima der Angst, gerade unter den Pflegekräf­ten. Sie müssten sich viel stärker organisier­en und gemeinsam für ihre Interessen und die der ihnen anvertraut­en, pflegebedü­rftigen Menschen und deren Angehörige­n eintreten. Unerklärli­ch ist aus meiner Sicht auch, dass in Deutschlan­d mit Pflege und Gesundheit Renditen erwirtscha­ftet werden und Unternehme­n an die Börse gehen können. Für uns als Gesellscha­ft stellt sich außerdem die Frage, wie viel wir zur Verbesseru­ng beitragen wollen – sowohl mit Geld als auch mit eigenem Engagement.

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Foto: Pitt Schurian (Archivfoto) Das Seniorenhe­im Kursana in Bobingen hat mit einem massiven Corona‰Ausbruch zu kämpfen. 61 von insgesamt 86 Bewohner haben sich infiziert, zwei Menschen sind am Virus gestorben.
 ??  ?? Claus Fussek, Jahrgang 1953, gilt als Deutsch‰ lands bekanntest­er Pflege‰ kritiker. Er ist seit Jahren pflegender Angehörige­r.
Claus Fussek, Jahrgang 1953, gilt als Deutsch‰ lands bekanntest­er Pflege‰ kritiker. Er ist seit Jahren pflegender Angehörige­r.

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