Schwabmünchner Allgemeine

Wer legt eigentlich die Geschlecht­errollen fest?

„Schalom Sisters!“wünscht das Jüdische Museum mit einem ambitionie­rten Projekt an vier Orten. Feministis­che Positionen untergrabe­n nicht nur alte rituelle Schranken. Hier geht es insgesamt um die Stellung der Frau

- VON ALOIS KNOLLER

Und wo bleiben die Frauen? Judentum wird meist gleichgese­tzt mit männlichen Rollen: Rabbiner, Gelehrte, Philosophe­n, Musiker. Den weiblichen Anteil ins Bewusstsei­n zu rufen, das hat sich im Jubiläumsj­ahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschlan­d das Jüdische Museum Augsburg mit dem Ausstellun­gsprojekt „Schalom Sisters*!“vorgenomme­n. An vier Orten werden feministis­che Positionen sichtbar.

Starke, kämpferisc­he Frauen aus Vergangenh­eit und Gegenwart setzen im Textil- und Industriem­useum (Di. bis So. 9–18 Uhr, Anmeldung unter Tel. 0821/810 01 50) ihre Gegenakzen­te. Wer hat die Textilstad­t Augsburg wirklich ins Laufen gebracht? Warum tat sich die englische Software-Unternehme­rin Stephanie Shirley schwer? Warum sollten Frauen „heimlich und im Ver

Gutes tun, aber in der Politik nicht mitreden dürfen? Wieso wurden Jüdinnen sogar im KZ doppelt ausgebeute­t – als Arbeitskrä­fte und auch sexuell? Etliche Stimmen, Plakate, Fotografie­n stellen kritische Fragen, bürsten die geläufige Ansicht gegen den Strich.

Und legt nicht die Mode subtil die Geschlecht­errollen fest: das Hemdchen für die Mädchen, das Korsett für die schlanke Taille, das Negligé für die Verführeri­n. Mit Anleihen aus der jüdischen Orthodoxie wehrt sich Batsheva Hay mit ihrer Kollektion, die auch Nathalie Portman in Hollywood trägt, gegen das Diktat. Auf andere Weise setzte sich die Ärztin Rahel Straus in den 1920ern für straffreie Abtreibung ein, weil Verhütungs­mittel damals für viele Frauen unerschwin­glich waren. Es prallen höchst unterschie­dliche Positionen hier aufeinande­r. Bestens passt dazu das Schlusswor­t der Karikaturi­stin Aline Kominsky-Crumb: „Wenn irgendwer jemals versuchen sollte, dir vorzuschre­iben, etwas zu sein, was du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch du den Mut findest, lautstark dagegen vorzugehen.“

Um religiösen Feminismus geht es derweil in der ehemaligen Synagoge Kriegshabe­r (Ulmer Str. 228, Do. bis So. 14–18 Uhr, Anmeldung unter Tel. 0821/44428717). Sogar in orthodoxen Familien sollten Frauen in Israel inzwischen das Recht auf ein Studium beanspruch­en. In Deutschlan­d wurde bereits 1935 Regina Jonas zur weltweit ersten Rabbinerin ordiniert. Mit Schmuck untergräbt die junge Israelin Tamar Paley die männlich gesetzte rituelle Ausgrenzun­g. Ihre Gebetsriem­en für die Frauenarme sind aus Silberdrah­t. Die traditione­lle Trennung der Geschlecht­er – die Männer im Gebetsraum, die Frauen auf der Empore – hebt Norborgene­n“ bert Kiening mit einem allsichtig­en Spiegel im Thoraschre­in auf. Der historisch­e Thoravorha­ng aus dem Brautkleid der Stifterin von 1624 hat auf seine Weise Erinnerung­en an die Stellung der Frau aufbewahrt. Die Künstlerin Andi Arnovitz protestier­t mit vier Radierunge­n dagegen, dass ultraortho­doxe Rabbiner die Körperlich­keit schon kleiner Mädchen einschränk­en wollen, weil sie hinter Fahrradfah­ren, Reifenspri­ngen und Schwimmen etwas Unheimlich­es wittern.

Glanzstück­e der Medienkuns­t haben Ruth Schreiber, Nina Paley und Julie Weitz beigetrage­n. Mit Knete wird von Adam, Eva und Lilith erzählt; orientalis­ch-antike Gottheiten schockiere­n Moses im Animations­film, als Protest gegen antisemiti­sche Erzählunge­n bemächtig sich in Art Chaplins grotesk übertriebe­n die „große Domina“der Welt. Und Ruth Schreiber fragt in ihrem stillen

Protokoll einer Reinigungs­zeremonie in der Mikwe, wo frau Schicht um Schicht alles ablegt und danach wieder anlegt, welche Veränderun­g eigentlich eingetrete­n ist.

In der Fußgängerz­one sind weitere zwei Filialen aufgeschla­gen. Die Schaufenst­erausstell­ung bei Ringfoto Tezel (Ludwigsstr­aße 22) erinnert an das Atelier Elvira, das Anita Augspurg und Sophia Goudstikke­r als eines der ersten von Frauen geführten Unternehme­n gründeten. Im Jewish-Feminist Pop-Up-Store (Annastraße 16, Di. bis Sa. 12–19 Uhr) gibt es Literatur, Design und Kitsch von Künstlerin­nen aus aller Welt. Als Frauendemo hat die Augsburger Illustrato­rin Lisa Frühbeis schließlic­h eine Tram gestaltet, die durch die Stadt fährt. Sie erinnert an die Frauen, die ihre Rechte auf der Straße durchsetzt­en, und lässt uns auch fragen, wofür Frauen heute auf die Straße gehen müssen.

 ?? Foto: Ilya Kotoff ?? Im Textil‰ und Industriem­useum tim sind eine Reihe von jüdisch‰feministis­chen Inter‰ ventionen mit Hörstation­en aufgebaut.
Foto: Ilya Kotoff Im Textil‰ und Industriem­useum tim sind eine Reihe von jüdisch‰feministis­chen Inter‰ ventionen mit Hörstation­en aufgebaut.
 ?? Fotos: Jüd. Museum Augsburg ?? In der ehemaligen Synagoge Kriegshabe­r geht es um das Aufbegehre­n der jüdischen Frauen gegen ihre Benachteil­igung im religiösen Ritus.
Fotos: Jüd. Museum Augsburg In der ehemaligen Synagoge Kriegshabe­r geht es um das Aufbegehre­n der jüdischen Frauen gegen ihre Benachteil­igung im religiösen Ritus.
 ??  ?? In der Annastraße gibt es diesen jüdisch‰ feministis­chen Pop‰up‰Store.
In der Annastraße gibt es diesen jüdisch‰ feministis­chen Pop‰up‰Store.
 ?? Foto: Bayerische VerkehrsMe­dien ?? Illustrato­rin Lisa Frühbeis gestaltet eine Trambahn.
Foto: Bayerische VerkehrsMe­dien Illustrato­rin Lisa Frühbeis gestaltet eine Trambahn.

Newspapers in German

Newspapers from Germany