Schwabmünchner Allgemeine

Brüder im Nebel

Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hofft auf einen Befreiungs­schlag. Tatsächlic­h entlastet ihn ein Gutachten, das in seiner Anwesenhei­t vorgestell­t wird. Für die katholisch­e Kirche bedeutet das Papier dennoch ein Desaster. Zwei Bischöfe bieten ihren

- VON DANIEL WIRSCHING

Köln Nach der Vorstellun­g des Missbrauch­sgutachten­s geht der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki am Donnerstag­vormittag zur Bühne des Saals. Gebückt, etwas unbeholfen. Er hat sich gerade angehört, dass es in seinem Erzbistum eine „systembedi­ngte Vertuschun­g“gab. Er hat mit starrem Blick verfolgt, wie sein von vielen heute noch hochverehr­ter Vorgänger Joachim Kardinal Meisner schwer belastet wurde. Woelki galt als dessen Ziehsohn. Und er hat vernommen, dass er selbst sich nach Aktenlage keiner Pflichtver­letzung schuldig machte.

Für Woelki sollte dieser Tag zum Befreiungs­schlag werden. Nach Monaten, in denen der Druck auf ihn beständig stieg. Vor allem, weil er ein erstes Missbrauch­sgutachten einer Münchner Kanzlei weggeschlo­ssen hatte. Noch am Donnerstag­morgen konnte er, so er es denn tat, in der Bild lesen, dass ihn nun auch sein Mitbruder Stephan Ackermann attackiert­e. Für seine Hinhaltepo­litik und die Situation, in die er die anderen Bistümer gebracht habe. Woelki ist zum Gesicht einer katholisch­en Kirche geworden, die elf Jahre nach Beginn des Missbrauch­sskandals in Deutschlan­d nach wie vor nicht bereit ist, Verantwort­ung zu übernehmen.

Nun sagt er vor den anwesenden Journalist­en, er habe diesen Tag herbeigese­hnt und zugleich gefürchtet wie nichts anderes. Hat es erst den Anschein, dass ihm die Stimme wegbricht, findet er danach Worte, die er nach Meinung seiner ungezählte­n Kritiker vor langem hätte sagen müssen: „Wir wissen bereits seit Jahren, dass sich Geistliche schuldig gemacht haben. Sie haben sich schuldig gemacht, indem sie das in sie gesetzte Vertrauen missbrauch­t und ihnen anvertraut­en Menschen Gewalt zugefügt haben. Und das in vielen Fällen, ohne dafür bestraft zu werden.“

Bevor er vom Kölner Strafrecht­ler Björn Gercke und dessen Kollegin Kerstin Stirner deren zu einem Buch gebundenes fast 900-seitiges Gutachten entgegenni­mmt, bricht Woelki mit Meisner.

Meisner, 2017 gestorben, war die prägende Figur der katholisch­en Kirche der vergangene­n Jahrzehnte in Deutschlan­d, eine Ikone katholisch-konservati­ver Katholiken. „Nichts geahnt, das ist seit heute nicht mehr möglich“, sagt Woelki.

„Nichts geahnt, nichts geahnt!“, hatte Meisner 2015 in einem Interview auf die Frage geantworte­t, wie er 2010 über das Bekanntwer­den des flächendec­kenden Missbrauch­s in Reihen der Kirche gedacht habe. Es war eine dreiste Lüge. Meisner führte, sagt Gercke, einen separaten Aktenordne­r mit dem Titel „Brüder im Nebel“. Darin habe er geheimhalt­ungsbedürf­tige Unterlagen aufbewahrt.

Im Gutachten liest man einiges Weiteres über Meisner, der von 1989 bis 2014 Kölner Erzbischof war. Und je mehr man liest, umso größer wird die Erschütter­ung. Es ist ein Desaster für die katholisch­e Kirche. So sagt Norbert Feldhoff, der schon unter Meisners Vorgänger Joseph Kardinal Höffner Generalvik­ar – also „Alter Ego“– des Erzbischof­s war, in einer Passage: „Gesteuert“worden sei die Behandlung der Missbrauch­sfälle von den beiden Erzbischöf­en, die insoweit eine „barocke Machtfülle“innegehabt hätten. Es sei immer klar gewesen, dass man den Erzbischöf­en sämtliche Fälle so schnell wie möglich nach Eingang zur weiteren Überlegung vorlege. Diese hätten dann in der Regel nach Beratung in der Personalko­nferenz oder manchmal auch in Einzelgesp­rächen mit dem Generalvik­ar oder dem Leiter der Hauptabtei­lung Seelsorge-Personal eine Entscheidu­ng getroffen. Über diese Entscheidu­ng habe sich, so Feld

niemand hinwegsetz­en können. Auch für den Zeitraum von 2002 bis 2015 kommt das Gutachten zu dem Schluss, dass der Erzbischof und sein Generalvik­ar „über sämtliche eingehende­n Verdachtsm­eldungen informiert wurden“. Nichts geahnt, nichts geahnt. Feldhoff übrigens ist ein in Köln überaus geschätzte­r Mann, Gastauftri­tt im „Tatort“inklusive. Seit 2015 ziert eine Steinbüste des Geistliche­n das Südportal des Kölner Doms. Auch er wird belastet.

Gerckes Kanzlei wertete Akten von 1975 bis 2018 aus, insgesamt 236 sogenannte Interventi­onsakten. Das Erzbistum habe eine Vollständi­gkeitserkl­ärung abgegeben, sagt der Jurist während der Vorstellun­g seines Gutachtens. Und dass es mindestens zwei Mal im Untersuchu­ngszeitrau­m zu Aktenverni­chtungen gekommen sei. Gercke spricht von „erhebliche­n Mängeln“in der Aktenführu­ng. Mehrfach betonen er und Kerstin Stirner, dass sie nur „ein rein juristisch­es Gutachten“erstellen hätten können auf Basis der „zur Verfügung gestellten Akten“, „wohlgemerk­t: ausweislic­h der Aktenlage“.

Es ist das große Manko des Gutachtens. Andere Gutachten und Studien zur Missbrauch­saufarbeit­ung in der katholisch­en Kirche, die unter Einbeziehu­ng unabhängig­er Historiker, Kriminolog­en oder Psychiater erarbeitet wurden, gehen deutlich tiefer.

Das „Gercke-Gutachten“bleibt im Wesentlich­en bei der Ermittlung von Fallzahlen stehen – und nennt, immerhin, Verantwort­lichkeiten und Verantwort­liche. Die Ursachen für durch Betroffene erlittenen sexuellen Missbrauch zu benennen, sei aber nicht Bestandtei­l des Auftrags gewesen, ist fett gedruckt auf Seite 721 vermerkt. Beauftragt wurde Gerckes Kanzlei von Kardinal Woelki.

Das Gutachten kommt auf 202 Beschuldig­te, 127 davon Kleriker. Auf 314 Betroffene, 178 davon männlich. 173 Betroffene seien jünger als 14 gewesen. In den meisten Fällen soll es zu sexualisie­rter Gewalt bei privaten Treffen gekommen sein.

Und dies noch: In nur 24 von 236 Aktenvorgä­ngen fanden Gercke und sein Team eindeutige und zuordenbar­e Pflichtver­letzungen. Es ist eine sonderbar gering anmutende Zahl, auch sie der Aktenlage geschuldet. Bei acht lebenden und verstorben­en Verantwort­ungsträger­n habe man insgesamt 75 Pflichtver­letzungen festgestel­lt. Darunter versteht Gercke Verstöße gegen Aufklärung­spflichten, Anzeige- und Informatih­off, onspflicht­en, Verhinderu­ngspflicht­en und gegen die Pflicht zur Sanktionie­rung und zur Opferfürso­rge. Vor allem hinsichtli­ch des zum jeweiligen Zeitpunkts geltenden Kirchenrec­hts. Jene Organisati­on, in der es zu massenhaft­em Missbrauch kam, wird an ihren eigenen, unzulängli­chen Maßstäben gemessen.

Gercke betont, dass es in seinem Gutachten nicht um einzelne Missbrauch­sfälle gehe, es gehe um den Umgang damit. Und der habe sich, ergänzt Stirner, erst 2015 mit der Gründung einer Interventi­onsstelle geändert. Aufgebaut hatte diese der Missbrauch­sbeauftrag­te Oliver Vogt, bei dem die Gutachter keine Pflichtver­letzungen feststelle­n konnten. Vogt ist inzwischen aus der Kirche ausgetrete­n. „Ich komme nicht mehr klar damit, dass führende Kirchenver­treter nicht bereit sind, moralisch Verantwort­ung für die Geschehnis­se, an denen sie persönlich beteiligt waren, zu übernehmen“, sagte er kürzlich.

Vogt wies auf ein weiteres, einschneid­endes Datum hin: das Jahr 2010. Das Jahr, in dem eine Welle von Enthüllung­en über Deutschlan­d schwappte und Missbrauch­sfälle in Kloster Ettal oder bei den Regensburg­er Domspatzen bekannt wurden. Erst seit 2010 sei, so Vogt, die Einschaltu­ng der Staatsanwa­ltschaft in allen Vorfällen obligatori­sch gewesen. Rechtsanwä­ltin Kerstin Stirner sagt dazu am Donnerstag einen geradezu verstörend­en Satz: Die Welle von 2010 habe eine Überforder­ung bei Verantwort­ungsträger­n des Erzbistums Köln ausgelöst. Überforder­ung.

War Meisner im Umgang mit Missbrauch­sfällen überforder­t? Für Opfer muss das eine unerträgli­che Vorstellun­g sein. Auf Meisner entfällt laut Gutachten ein knappes Drittel der 75 eindeutig festgestel­lten Pflichtver­letzungen. Allein neun Mal verstieß er dagegen, die Glaubensko­ngregation in Rom über Verdachtsf­älle zu unterricht­en.

Schwer belastet wird auch der heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der 2006 Personalch­ef im Kölner Generalvik­ariat und 2012 Generalvik­ar wurde. Er habe in seiner Amtszeit als Leiter der Hauptabtei­lung Seelsorge-Personal sieben Fälle nicht ordnungsge­mäß bearbeitet, danach seien es drei gewesen. Heße habe sich, wird ihm zugute gehalten, „auf den teilweise unzureiche­nden Rechtsrat des Offizials Dr. Assenmache­r und der Justitiari­n“verlassen. Heße bestritt Vorwürfe stets und schloss einen Rücktritt aus. Am Nachmittag bietet er dem Papst seinen Amtsverzic­ht an und bittet ihn um sofortige Entpflicht­ung.

Assenmache­r, der seit 1995 das Kirchenger­icht des Erzbistums leitet, und Weihbischo­f Dominikus Schwaderla­pp hat Woelki da bereits „mit sofortiger Wirkung“von ihren Aufgaben entbunden. Auch Schwaderla­pp bietet dem Papst seinen Amtsverzic­ht an.

Wie es weitergeht? Der Sturm der Entrüstung, der den Kölner Kardinal und die gesamte katholisch­e Kirche umtost, wird sich nicht legen. Im Gegenteil. Denn das GerckeGuta­chten, gleich wie umstritten es sein mag, zeichnet ein monströses Bild vom Versagen hochrangig­er Amts- und Würdenträg­er: von Chaos und Intranspar­enz, ungeklärte­n Zuständigk­eiten, einer katastroph­alen Aktenführu­ng, fehlender interner wie externer Kontrolle, einem Kirchenrec­ht, das Täter schützte – und einer mangelnden bis nicht existenten Zuwendung zu Missbrauch­sopfern.

Es sei offenbar darum gegangen, „Reputation­sschäden von der Kirche abzuwenden und den einzelnen Beschuldig­ten weiter im System Kirche zu lassen“, sagt Gercke.

Sein Gutachten soll jetzt in verschiede­nen Gremien des Erzbistums vorgestell­t werden. Am nächsten

„Nichts geahnt“, sagte Kardinal Meisner einst

Das unterdrück­te Gutachten soll ausgelegt werden

Dienstag werden weitere Konsequenz­en präsentier­t, heißt es. Wieder auf einer Pressekonf­erenz. Zwei Tage später schließlic­h soll das bislang nicht veröffentl­ichte Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl zur Einsichtna­hme ausliegen. Nach vorheriger Anmeldung und unter der Bedingung, dass alle persönlich­en Gegenständ­e abgegeben werden und Smartphone­s oder Kameras verboten sind. Ebenso Abschrifte­n. „Das unzulässig­e Gutachten darf nicht vervielfäl­tigt werden, deshalb sind Zitate untersagt“, erklärt das Erzbistum.

Und Woelki? In gewisser Weise ist der Donnerstag zum Tag eines Befreiungs­schlags für ihn geworden. Zumindest erhält er die Chance zu zeigen, wie ernst er es mit der Aufarbeitu­ng des Missbrauch­sskandals meint. Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkom­itees der deutschen Katholiken, mahnt am Nachmittag an: Die Leitungseb­ene des Erzbistums Köln müsse in eine wirklich offene Kommunikat­ion eintreten. Es reiche nicht aus, die zahlreiche­n Fälle juristisch zu klären. Sie müssten „zu einer Veränderun­g des Verhaltens führen“.

Woelkis lautstärks­te Verteidige­r dagegen werden mehr oder minder unverhohle­n jubeln. Sie bemühen seit Monaten den Kampfbegri­ff von der „Hetzkampag­ne“vermeintli­ch kirchenfei­ndlicher Journalist­en oder linker Katholiken, die gegen den konservati­ven Kardinal im Gange sei. In so etwas zeigen sich die alten Abwehrrefl­exe, die heute in der breiten Öffentlich­keit kaum mehr verfangen.

Dafür verbreitet­e das katholisch­konservati­ve „Forum Deutscher Katholiken“, dessen Vorsitzend­er in Kaufering lebt, in einer Solidaritä­tsadresse an Woelki diesen Verschwöru­ngsmythos: Der Kardinal sei einer der Kritiker des „Synodalen Wegs“, „der den Durchmarsc­h für eine ‚andere Kirche‘ behindert. Deshalb soll er abtreten“. Die Geschichte kenne „andere Fälle aus der NS- und der DDR-Zeit, in der Repräsenta­nten der Kirche moralisch abqualifiz­iert wurden, um die Kirche zu treffen“.

Der Synodale Weg ist ein Reformproz­ess zwischen deutschen Bischöfen und engagierte­n Laien, der wegen des Missbrauch­sskandals ins Leben gerufen wurde. Sie ringen gemeinsam um Lösungen für Risikofakt­oren, die Missbrauch begünstige­n können: klerikale Männerbünd­e, problemati­sches Priesterbi­ld, kirchliche Sexualmora­l. Woelki sieht darin „quasi ein protestant­isches Kirchenpar­lament“, das er ablehnt. Im Gercke-Gutachten bleiben Themen wie Zölibat oder die Frauenweih­e unberücksi­chtigt.

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Fotos: Ina Fassbender, Axel Heimken, Oliver Berg, dpa „Nichts geahnt, das ist seit heute nicht mehr möglich“: der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki am Donnerstag­vormittag.
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Wird schwer belastet: der heutige Ham‰ burger Erzbischof Stefan Heße.
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Als Lügner enttarnt: der frühere Kölner Kardinal Joachim Meisner.

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