Brüder im Nebel
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hofft auf einen Befreiungsschlag. Tatsächlich entlastet ihn ein Gutachten, das in seiner Anwesenheit vorgestellt wird. Für die katholische Kirche bedeutet das Papier dennoch ein Desaster. Zwei Bischöfe bieten ihren
Köln Nach der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens geht der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki am Donnerstagvormittag zur Bühne des Saals. Gebückt, etwas unbeholfen. Er hat sich gerade angehört, dass es in seinem Erzbistum eine „systembedingte Vertuschung“gab. Er hat mit starrem Blick verfolgt, wie sein von vielen heute noch hochverehrter Vorgänger Joachim Kardinal Meisner schwer belastet wurde. Woelki galt als dessen Ziehsohn. Und er hat vernommen, dass er selbst sich nach Aktenlage keiner Pflichtverletzung schuldig machte.
Für Woelki sollte dieser Tag zum Befreiungsschlag werden. Nach Monaten, in denen der Druck auf ihn beständig stieg. Vor allem, weil er ein erstes Missbrauchsgutachten einer Münchner Kanzlei weggeschlossen hatte. Noch am Donnerstagmorgen konnte er, so er es denn tat, in der Bild lesen, dass ihn nun auch sein Mitbruder Stephan Ackermann attackierte. Für seine Hinhaltepolitik und die Situation, in die er die anderen Bistümer gebracht habe. Woelki ist zum Gesicht einer katholischen Kirche geworden, die elf Jahre nach Beginn des Missbrauchsskandals in Deutschland nach wie vor nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.
Nun sagt er vor den anwesenden Journalisten, er habe diesen Tag herbeigesehnt und zugleich gefürchtet wie nichts anderes. Hat es erst den Anschein, dass ihm die Stimme wegbricht, findet er danach Worte, die er nach Meinung seiner ungezählten Kritiker vor langem hätte sagen müssen: „Wir wissen bereits seit Jahren, dass sich Geistliche schuldig gemacht haben. Sie haben sich schuldig gemacht, indem sie das in sie gesetzte Vertrauen missbraucht und ihnen anvertrauten Menschen Gewalt zugefügt haben. Und das in vielen Fällen, ohne dafür bestraft zu werden.“
Bevor er vom Kölner Strafrechtler Björn Gercke und dessen Kollegin Kerstin Stirner deren zu einem Buch gebundenes fast 900-seitiges Gutachten entgegennimmt, bricht Woelki mit Meisner.
Meisner, 2017 gestorben, war die prägende Figur der katholischen Kirche der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland, eine Ikone katholisch-konservativer Katholiken. „Nichts geahnt, das ist seit heute nicht mehr möglich“, sagt Woelki.
„Nichts geahnt, nichts geahnt!“, hatte Meisner 2015 in einem Interview auf die Frage geantwortet, wie er 2010 über das Bekanntwerden des flächendeckenden Missbrauchs in Reihen der Kirche gedacht habe. Es war eine dreiste Lüge. Meisner führte, sagt Gercke, einen separaten Aktenordner mit dem Titel „Brüder im Nebel“. Darin habe er geheimhaltungsbedürftige Unterlagen aufbewahrt.
Im Gutachten liest man einiges Weiteres über Meisner, der von 1989 bis 2014 Kölner Erzbischof war. Und je mehr man liest, umso größer wird die Erschütterung. Es ist ein Desaster für die katholische Kirche. So sagt Norbert Feldhoff, der schon unter Meisners Vorgänger Joseph Kardinal Höffner Generalvikar – also „Alter Ego“– des Erzbischofs war, in einer Passage: „Gesteuert“worden sei die Behandlung der Missbrauchsfälle von den beiden Erzbischöfen, die insoweit eine „barocke Machtfülle“innegehabt hätten. Es sei immer klar gewesen, dass man den Erzbischöfen sämtliche Fälle so schnell wie möglich nach Eingang zur weiteren Überlegung vorlege. Diese hätten dann in der Regel nach Beratung in der Personalkonferenz oder manchmal auch in Einzelgesprächen mit dem Generalvikar oder dem Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal eine Entscheidung getroffen. Über diese Entscheidung habe sich, so Feld
niemand hinwegsetzen können. Auch für den Zeitraum von 2002 bis 2015 kommt das Gutachten zu dem Schluss, dass der Erzbischof und sein Generalvikar „über sämtliche eingehenden Verdachtsmeldungen informiert wurden“. Nichts geahnt, nichts geahnt. Feldhoff übrigens ist ein in Köln überaus geschätzter Mann, Gastauftritt im „Tatort“inklusive. Seit 2015 ziert eine Steinbüste des Geistlichen das Südportal des Kölner Doms. Auch er wird belastet.
Gerckes Kanzlei wertete Akten von 1975 bis 2018 aus, insgesamt 236 sogenannte Interventionsakten. Das Erzbistum habe eine Vollständigkeitserklärung abgegeben, sagt der Jurist während der Vorstellung seines Gutachtens. Und dass es mindestens zwei Mal im Untersuchungszeitraum zu Aktenvernichtungen gekommen sei. Gercke spricht von „erheblichen Mängeln“in der Aktenführung. Mehrfach betonen er und Kerstin Stirner, dass sie nur „ein rein juristisches Gutachten“erstellen hätten können auf Basis der „zur Verfügung gestellten Akten“, „wohlgemerkt: ausweislich der Aktenlage“.
Es ist das große Manko des Gutachtens. Andere Gutachten und Studien zur Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche, die unter Einbeziehung unabhängiger Historiker, Kriminologen oder Psychiater erarbeitet wurden, gehen deutlich tiefer.
Das „Gercke-Gutachten“bleibt im Wesentlichen bei der Ermittlung von Fallzahlen stehen – und nennt, immerhin, Verantwortlichkeiten und Verantwortliche. Die Ursachen für durch Betroffene erlittenen sexuellen Missbrauch zu benennen, sei aber nicht Bestandteil des Auftrags gewesen, ist fett gedruckt auf Seite 721 vermerkt. Beauftragt wurde Gerckes Kanzlei von Kardinal Woelki.
Das Gutachten kommt auf 202 Beschuldigte, 127 davon Kleriker. Auf 314 Betroffene, 178 davon männlich. 173 Betroffene seien jünger als 14 gewesen. In den meisten Fällen soll es zu sexualisierter Gewalt bei privaten Treffen gekommen sein.
Und dies noch: In nur 24 von 236 Aktenvorgängen fanden Gercke und sein Team eindeutige und zuordenbare Pflichtverletzungen. Es ist eine sonderbar gering anmutende Zahl, auch sie der Aktenlage geschuldet. Bei acht lebenden und verstorbenen Verantwortungsträgern habe man insgesamt 75 Pflichtverletzungen festgestellt. Darunter versteht Gercke Verstöße gegen Aufklärungspflichten, Anzeige- und Informatihoff, onspflichten, Verhinderungspflichten und gegen die Pflicht zur Sanktionierung und zur Opferfürsorge. Vor allem hinsichtlich des zum jeweiligen Zeitpunkts geltenden Kirchenrechts. Jene Organisation, in der es zu massenhaftem Missbrauch kam, wird an ihren eigenen, unzulänglichen Maßstäben gemessen.
Gercke betont, dass es in seinem Gutachten nicht um einzelne Missbrauchsfälle gehe, es gehe um den Umgang damit. Und der habe sich, ergänzt Stirner, erst 2015 mit der Gründung einer Interventionsstelle geändert. Aufgebaut hatte diese der Missbrauchsbeauftragte Oliver Vogt, bei dem die Gutachter keine Pflichtverletzungen feststellen konnten. Vogt ist inzwischen aus der Kirche ausgetreten. „Ich komme nicht mehr klar damit, dass führende Kirchenvertreter nicht bereit sind, moralisch Verantwortung für die Geschehnisse, an denen sie persönlich beteiligt waren, zu übernehmen“, sagte er kürzlich.
Vogt wies auf ein weiteres, einschneidendes Datum hin: das Jahr 2010. Das Jahr, in dem eine Welle von Enthüllungen über Deutschland schwappte und Missbrauchsfälle in Kloster Ettal oder bei den Regensburger Domspatzen bekannt wurden. Erst seit 2010 sei, so Vogt, die Einschaltung der Staatsanwaltschaft in allen Vorfällen obligatorisch gewesen. Rechtsanwältin Kerstin Stirner sagt dazu am Donnerstag einen geradezu verstörenden Satz: Die Welle von 2010 habe eine Überforderung bei Verantwortungsträgern des Erzbistums Köln ausgelöst. Überforderung.
War Meisner im Umgang mit Missbrauchsfällen überfordert? Für Opfer muss das eine unerträgliche Vorstellung sein. Auf Meisner entfällt laut Gutachten ein knappes Drittel der 75 eindeutig festgestellten Pflichtverletzungen. Allein neun Mal verstieß er dagegen, die Glaubenskongregation in Rom über Verdachtsfälle zu unterrichten.
Schwer belastet wird auch der heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der 2006 Personalchef im Kölner Generalvikariat und 2012 Generalvikar wurde. Er habe in seiner Amtszeit als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal sieben Fälle nicht ordnungsgemäß bearbeitet, danach seien es drei gewesen. Heße habe sich, wird ihm zugute gehalten, „auf den teilweise unzureichenden Rechtsrat des Offizials Dr. Assenmacher und der Justitiarin“verlassen. Heße bestritt Vorwürfe stets und schloss einen Rücktritt aus. Am Nachmittag bietet er dem Papst seinen Amtsverzicht an und bittet ihn um sofortige Entpflichtung.
Assenmacher, der seit 1995 das Kirchengericht des Erzbistums leitet, und Weihbischof Dominikus Schwaderlapp hat Woelki da bereits „mit sofortiger Wirkung“von ihren Aufgaben entbunden. Auch Schwaderlapp bietet dem Papst seinen Amtsverzicht an.
Wie es weitergeht? Der Sturm der Entrüstung, der den Kölner Kardinal und die gesamte katholische Kirche umtost, wird sich nicht legen. Im Gegenteil. Denn das GerckeGutachten, gleich wie umstritten es sein mag, zeichnet ein monströses Bild vom Versagen hochrangiger Amts- und Würdenträger: von Chaos und Intransparenz, ungeklärten Zuständigkeiten, einer katastrophalen Aktenführung, fehlender interner wie externer Kontrolle, einem Kirchenrecht, das Täter schützte – und einer mangelnden bis nicht existenten Zuwendung zu Missbrauchsopfern.
Es sei offenbar darum gegangen, „Reputationsschäden von der Kirche abzuwenden und den einzelnen Beschuldigten weiter im System Kirche zu lassen“, sagt Gercke.
Sein Gutachten soll jetzt in verschiedenen Gremien des Erzbistums vorgestellt werden. Am nächsten
„Nichts geahnt“, sagte Kardinal Meisner einst
Das unterdrückte Gutachten soll ausgelegt werden
Dienstag werden weitere Konsequenzen präsentiert, heißt es. Wieder auf einer Pressekonferenz. Zwei Tage später schließlich soll das bislang nicht veröffentlichte Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl zur Einsichtnahme ausliegen. Nach vorheriger Anmeldung und unter der Bedingung, dass alle persönlichen Gegenstände abgegeben werden und Smartphones oder Kameras verboten sind. Ebenso Abschriften. „Das unzulässige Gutachten darf nicht vervielfältigt werden, deshalb sind Zitate untersagt“, erklärt das Erzbistum.
Und Woelki? In gewisser Weise ist der Donnerstag zum Tag eines Befreiungsschlags für ihn geworden. Zumindest erhält er die Chance zu zeigen, wie ernst er es mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals meint. Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, mahnt am Nachmittag an: Die Leitungsebene des Erzbistums Köln müsse in eine wirklich offene Kommunikation eintreten. Es reiche nicht aus, die zahlreichen Fälle juristisch zu klären. Sie müssten „zu einer Veränderung des Verhaltens führen“.
Woelkis lautstärkste Verteidiger dagegen werden mehr oder minder unverhohlen jubeln. Sie bemühen seit Monaten den Kampfbegriff von der „Hetzkampagne“vermeintlich kirchenfeindlicher Journalisten oder linker Katholiken, die gegen den konservativen Kardinal im Gange sei. In so etwas zeigen sich die alten Abwehrreflexe, die heute in der breiten Öffentlichkeit kaum mehr verfangen.
Dafür verbreitete das katholischkonservative „Forum Deutscher Katholiken“, dessen Vorsitzender in Kaufering lebt, in einer Solidaritätsadresse an Woelki diesen Verschwörungsmythos: Der Kardinal sei einer der Kritiker des „Synodalen Wegs“, „der den Durchmarsch für eine ‚andere Kirche‘ behindert. Deshalb soll er abtreten“. Die Geschichte kenne „andere Fälle aus der NS- und der DDR-Zeit, in der Repräsentanten der Kirche moralisch abqualifiziert wurden, um die Kirche zu treffen“.
Der Synodale Weg ist ein Reformprozess zwischen deutschen Bischöfen und engagierten Laien, der wegen des Missbrauchsskandals ins Leben gerufen wurde. Sie ringen gemeinsam um Lösungen für Risikofaktoren, die Missbrauch begünstigen können: klerikale Männerbünde, problematisches Priesterbild, kirchliche Sexualmoral. Woelki sieht darin „quasi ein protestantisches Kirchenparlament“, das er ablehnt. Im Gercke-Gutachten bleiben Themen wie Zölibat oder die Frauenweihe unberücksichtigt.