Das Taumeln des Titanen
Dieter Bohlen ist bei „DSDS“vom Thron gestoßen. Skrupellos hat er Laien-Lebensträume geschlachtet. Ein Kotzbrocken. Aber auch ein Liebling von Millionen. Eine Zumutung. Aber auch ein Volltreffer fürs Showgeschäft. Und jetzt?
Ist es das nun? Das endgültige Taumeln des Titanen der deutschen Pop-Musik? Die Gottesdämmerung im deutschen Show-Geschäft? Oder das längst überfällige Abwracken der personifizierten Entertainmentkatastrophe? Die höchst korrekte Korrektur der größtmöglichen (Selbst-)Überschätzung? Hop oder top? Jedenfalls: Nein, eine Nummer kleiner geht es hier nicht. Denn schließlich ist die Rede von: Dieter Bohlen! Da sind totale Plakativität und maximale Zuspitzung eben Prinzip. Daumen rauf oder Daumen runter: Ist das der Cäsarenmord im deutschen Unterhaltungsbusiness?
Dabei stand er doch eben noch da: Der Dieter, Superstar in Jeans und Turnschuhen, unverkennbar mit der noch immer blonden Föhnwelle und dem bübischen Grinsen, vor noch nicht mal eineinhalb Jahren auf der Bühne der Münchner Olympiahalle. Und Tausende jubelten ihm zu, als er endlich wieder Hits wie „Jeronimo’s Cadillac“und „You’re My Heart, You’re My Soul“live spielte – oder natürlich das zuletzt auch noch mal im Cover des Rappers Capital Bra Top-Hit-taugliche „Cheri, Cheri, Lady“. Musik aus seiner gleich weltweiten Durchbruchszeit mit Modern Talking aus den 80ern, fortgesetzt in einem unerreicht erfolgreichen Comeback um die Jahrtausendwende …
Gut, das Konzert an diesem Dezemberabend 2019 in München mag nicht annähernd ausverkauft gewesen sein, die Halle nur halb voll, die restliche Tour mag dann offiziell wegen, nun ja, Überlastung des Stars abgebrochen – und auch aus dem groß angekündigten neuen Album mag nichts geworden, doch nur ein „Mega“-Best-Of erschienen sein. Aber hatten sie nicht trotzdem recht, die begeisterten Zuschauer in der Olympiahalle, als sie sich in Scharen bis in die oberen Ränge erhoben und skandierten: „Ein’ Dieter Bohlen, es gibt nur ein’ Dieter Boooooohoolen“? Denn was der erreicht hat, als Interpret, Produzent und Songwriter, sucht in Deutschland doch tatsächlich seinesgleichen. Neben Modern Talking ja auch mit Blue System. Dazu die Verdienste um Stars wie Chris Norman, Katja Ebstein, Roland Kaiser früher und später etwa Andrea Berg, DJ Ötzi, Beatrice Egli. Mit all ihren von Dieter geschriebenen Hits und produzierten Top-Alben. Dazu die ganze Entwicklung von Karrieren wie die eines Pietro Lombardi bis an die Spitze der deutschen Hitparaden…
Und eben saß er doch auch noch da: Der Dieter, eben Cäsar des deutschen Entertainments. Inthronisiert vor bald 20 Jahren an der Spitze der Fernsehshow „Deutschland sucht den Superstar“und ergänzt durch „Deutschland sucht das Supertalent“, über insgesamt mehr als 30 Staffeln hinweg. Das Gesicht der hiesigen Adaptionen von internationalen Show-Erfolgen war er, die typisch deutsche Note wurde seine typische Benotung der Bewerber: „Du klingst wie ein Schaf, das an den Elektrozaun pinkelt.“Entweder voller Häme oder voller Überwältigung – Millionen verfolgten unverbrüchlich all die Jahre, wie er den Daumen stets entschieden senkte oder hob, warteten darauf, dass er dabei den nächsten Spruch raushaute, der Dieter. „Wenn du jetzt 3000 Prozent besser singst, könntest du eventuell Scheiße erreichen.“Gnadenloses Entertainment eben, mit Ihro Gnaden Bohlen als die Instanz, wer Talent hat und wer das Zeug zum Erfolg. In Selbstbeschreibung: „Ich würde auch fünf Kilogramm Hackfleisch in die Charts kriegen.“
Und jetzt das: Die Show soll, ihr Sender RTL will seriöser werden und setzt den Titanen vor die Tür! Geht das? Ist das nicht Majestätsbeleidigung? Jedenfalls: Sollen die
„RTL“und „seriös“künftig in einem gemeinsamen Satz verwendet werden können, ohne dass es sich dabei um Satire handelt, muss es wohl tatsächlich ohne Bohlen sein. Denn der und seriös: Wie sollte das gehen? Mit einem, der einfach mal zu einer Frau vor Millionenpublikum sagt: „Du bekommst ein kleines Ja vom großen Dieter, und ein großes Ja vom kleinen Dieter.“Denn das ist ja nicht die Bühne für prolliges Promi-Kabarett, sondern die Schlachtbank für Laien-Lebensträume. „Du kneifst die Augen zusammen wie ich beim Kacken“?
Und dann natürlich auch noch das: Die, die ihn sowieso nie mochten, können es ihm jetzt endlich heimzahlen. Der Spiegel, der ihm zu Zeiten von Modern Talking schon hämisch dankte, dass wenigstens die Songtexte auf Englisch seien, was ermögliche, zumindest ihre Inhalte überhören zu können, dieses Magazin, das ihn immer eher als Schlagerfuzzi denn als Pop-Titan behandelte, haut nun selber raus: Nennt Bohlen zum „Abschied“einen „Protzbrocken“. Und, ja, kotzt sich regelrecht über ihn als Speerspitze des „Demütigungsfernsehens“aus.
Alles mal wieder einerseits-andererseits also? Mal wieder ein gespaltenes Verhältnis der Deutschen zu einem Helden, ein komplexes Phänomen? Nein, das ist ja das Herrliche bei Dieter Bohlen: Es stimmt einfach alles gleichzeitig, auch das vermeintlich Widersprüchliche, das gegensätzlich Extreme. Er ist der Pop-Titan und der Schlagerfuzzi, er ist ein Liebling von Millionen und ein Kotzbrocken, er ist eine absolute Zumutung und der totale Volltreffer. Das Prinzip der Plakativität und der Zuspitzung schlägt ja zweckmäßig bis zu seinen Gegnern durch. Hauptsache alles ist irgendwie
„mega“, wie Dieter Bohlen es so gerne nennt, das Funktionierende, das Gute. Und darum ja seine 1,3 Millionen Follower auf Instagram ziemlich passend „Meganer“.
Das Rezept jedenfalls hat ihn als Ingenieurssohn aus Oldenburg, als studierten Diplom-Kaufmann eine der zweifellos größten deutschen Unterhaltungskarrieren machen lassen: größtmögliche Plakativität plus maximale Zuspitzung. Wenn der junge Dieter Bohlen selbst die Beatles-Songs liebte, dann hat er ihnen in seinem eigenen Schaffen jede Menge Boney-M.- und Abba-Flächen hinzugefügt und diese MiWörter schung dann auch noch in Serie auf den einfachsten Kern, auf Plattitüden reduziert. Über 200 Songs hatte Bohlen schon parat, als er 1977 als Teil des Duos „Monza“seine Musikkarriere startete – und tatsächlich ist sein so plakativ immer auf HitWirkung schielender Dance-Kitsch ja die Urform dessen, was deutsche Interpreten bis heute als Pop-Schlager gerne an die Spitze der deutschen Hitparaden führt. Wenn da nicht gerade ein Deutsch-Rapper rumrüpelt. Und genau ein solcher würde ein Dieter Bohlen, der heute jung wäre, sicher werden. „Ja, dein Talent hat geglänzt. Leider durch
Abwesenheit“und „Du hast einfach nichts drauf, außer vielleicht Zahnbelag“– dieses Dissen ließe sich, ein bisschen zeitgemäß aufgepimpt, schon zum Rüpelrappen bringen.
Denn zur Plakativität kommt Bohlens Freude an der Zuspitzung. Um einst gegen Papas bürgerliche Mercedes-Existenz zu rebellieren, trat der junge Dieter gleich mal in die Kommunistische Partei ein – freilich ohne deren Ideale zu teilen. Um also nach erzielter Provokation auch bald wieder auszutreten. Und das eigene Parfüm, das der ältere Bohlen auf den Markt brachte, hieß? „Provocation“. Die Lust an diesen Mechanismen machte ihn jedenfalls zum perfekten Partner der BildZeitung. Von der wohl auch keiner sagen würde, sie liefere den hochwertigsten Qualitätsjournalismus, die aber nach wie vor die höchste Auflage aller deutschen Tageszeitungen hat. Dank Plakativität und Zuspitzung, Politik und Nachrichten emotional aufgeladen und unterhaltsam aufgepeppt, ein grenzwertiges, aber professionelles und erfolgversprechendes Geschäft – Schwester im Geiste.
So haben die Beziehungs-Hochsund Tiefs Bohlens, auch immer mega, mit Verona Feldbusch, Nadja Abd el Farrag und Co. immer in der
Bild ihre größtmögliche Bühne gefunden. Wie auch die Auseinandersetzungen mit Modern-TalkingPartner Thomas Anders. Keine Überraschung jedenfalls, dass auch die Promi-Kolumnistin des Blattes, Katja Kessler, Co-Autorin von Bohlens zweiteiliger Autobiografie war – begonnen bei diesem Duo ausgerechnet mit dem Titel „Nichts als die Wahrheit“. Und dann auch glatt wegen Verleumdung vor Gericht landend und zu Schmerzensgeldzahlungen führend.
Dieter Bohlen ist quasi die Bild des deutschen Show-Geschäfts. Und in Zeiten, in denen der Zeitung die Konkurrenz im Boulevard-Geschäft online zu schaffen macht und die darum mitunter noch an Schärfe nachgelegt hat, sagt ein für seine Zuspitzung kritisierter Dieter Bohlen über sich und seine Funktion: „Das Musikgeschäft ist härter geworden, ich auch. Aber meine Sprüche sind nicht menschenverachtend. Ich sage den Kandidaten die Wahrheit, nämlich dass sie nicht gut genug sind.“Von wegen: Bild dir deine Meinung. Es ist seine Wahrheit, aber wuchtig wie die Weisungen eines Cäsars eben, bloß auf Bohlen-Niveau, zum Image passend, als wären sie von Gagschreibern vorformuliert und würden nur auf ihren Einsatz warten. „Wir suchen hier Vulkanausbrüche und keine Furzfontänen.“
Tatsächlich braucht gerade ein Bohlen zur Selbstdarstellung notwendig beides: Vulkane und Fürze – aber auf jeden Fall immer eines von beidem, irgendwas muss explodieren oder knattern, rauchen oder stinken. Bei Bohlen heißt Pop: die maximale Show-Geste verlangt nach Über- oder Allzu-Menschlichem, Himmel oder Hölle. Und wer wirklich ganz oben landet, was winkt dem? Das Maximale, absolut mega: Die Chance zu einer ersten Plattenproduktion mit dem Titanen, dem Cäsar, dem Gott höchstselbst!
Der Letzte von Bohlen entdeckte und gekürte „Superstar“wird nach dem Ausstieg vor dem jetzigen Finale nun sein: Ramon Roselly, 2020. In den Hitparaden brachte der es mächtig popschlagernd mit „Eine Nacht“auf Platz eins bei den Singles und mit „Herzenssache“auf Platz zwei bei den Alben. Autor und Produzent: Dieter Bohlen. Und war das nicht das, was die Finalisten bei der gemeinsamen Abschlusshymne der Show meinten, wenn sie sangen: „We Have A Dream“? Auch da Autor und Produzent: Dieter Bohlen. Alle weiteren Veröffentlichungen Rosellys aber, zuletzt vor einem Monat eine neue Single, haben es gar nicht erst in die Hitparaden geschafft. Wie ohnehin die meisten Bohlen-Entdeckungen nur kurz in unmittelbarer Nähe zur Show – was bleibt: der Titan selbst, dem all das eigentlich am meisten diente.
Die Macht zu all dem haben ihm sein Gespür, sein Wille, seine Skrupellosigkeit verschafft – und gerade die Gleichzeitigkeit, auch selbst mit Lust Verehrung und Hass auf sich zu vereinen. Das ist die Konstante. Wie die Bild. Und das Leben in der Villa im niedersächsischen Tötensen. Inzwischen tatsächlich auch schon einige Jahre mit derselben
Partnerin, Fatma Carina Walz, geboren 1984, als Bohlen gerade mit „You’re My Heart, You’re My Soul“die erste Nummer eins feierte.
Der ist inzwischen 67 Jahre alt, sechsfacher Vater – und nun: ein Titan in Rente? Als Bohlen das dritte Buch über sein Leben schrieb, tat er es ohne die Bild, angeblich ganz allein. Es trug den Titel „Der Bohlenweg“und machte eben diesen auch in einem Slogan fest: „Planieren statt Sanieren“. Eigentlich wollte man das RTL und „DSDS“auch raten. Aber ob Bohlen wiederum das Planieren gerade auch bei sich selbst vermag? Kann er jetzt ja zeigen. Er muss ja nicht gleich seriös werden.
Die ersten Verlautbarungen jedenfalls klangen ganz anders als nach Rückzug: „Ich hab super viele Angebote natürlich bekommen, und da muss man natürlich so ein bisschen gucken, was man jetzt macht“, sagte Bohlen – nein, nicht der Bild, sondern in einem Video auf seinem Instagram-Kanal. Direkt zu den Meganern sprechend also. Und weiter tönte der Titan, er sei mit der derzeitigen Situation sehr zufrieden – schließlich, Trommelwirbel: „Ich plane Großes, und ihr werdet von mir hören.“Na klar, was sonst.
Seriös und Bohlen: Wie sollte das gehen?
Sein Slogan lautet: Planieren statt Sanieren