Aus dem Leben eines Tierschützers
Der Augsburger Verein „Soko Tierschutz“deckt Missstände in Ställen auf. Gründer Friedrich Mülln hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben – und berichtet viel Schockierendes
Einmal war Friedrich Mülln in den USA. Er wollte dort Missstände bei der Haltung von exotischen Haustieren aufdecken – und stieß auf eine fremde Welt. In einem Park im mittleren Westen fand ein „Primatenpicknick“statt, was bedeutete: Er traf auf „rund hundert Personen mit ihren Affen“, die wie Haustiere gehalten wurden, eher schon wie Familienmitglieder, teils als Kinderersatz von älteren Damen. „Teilweise hatten ihre Besitzer diese Tiere in Babykleidung gesteckt, mit Schnullern und Piercings; andere fuhren ihre Paviane in Kinderwagen durch die Gegend.“So schildert es Mülln, der Gründer der Augsburger Tierrechts-Organisation „Soko Tierschutz“, in seinem jüngst veröffentlichten Buch. Es ist eine skurrile Szene, und im Vergleich zu dem, was der 41-Jährige in seinen Jahrzehnten als Tierrechtler erlebt hat, noch fast harmlos. Denn gesehen hat Mülln einiges.
Er ist sicher einer der bekanntesten und in der Öffentlichkeit präsentesten Tierschützer Deutschlands, was an den vielen Skandalen liegt, die „Soko Tierschutz“und Mülln in den vergangenen Jahren aufgedeckt haben. Da ist zum Beispiel der Fall eines Schweinestalls in Merklingen bei Ulm, in dem hunderte Tiere unter brutalsten Bedingungen leben mussten und nicht weniger brutal getötet wurden. Mülln hatte mit versteckter Kamera heimlich mitgefilmt. Der Betreiber der Anlage wurde später zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt. „Dieser Stall war ein einziges Schlachtfeld“, schreibt Mülln in dem Buch, das den naheliegenden Titel „Soko Tierschutz“trägt, und wer die Bilder der verletzten und verwahrlosten Schweine gesehen hat, ist geneigt, ihm zuzustimmen.
Ohnehin: die Bilder. Viele Menschen wissen vielleicht, welche Auswüchse die Massentierhaltung haben kann, aber es ist etwas anderes, die entsprechenden Szenen auch zu sehen oder sie, wie im Buch, detailliert beschrieben zu bekommen, statt sie nur zu erahnen. Das Vorgehen der Aktivisten ist dabei oft ähnlich, oft riskant und meist im Bereich einer rechtlichen Grauzone: geben sie sich als Praktikanten aus oder bewerben sich als Mitarbeiter, um zu filmen, was in Schlachtbetrieben oder Forschungseinrichtungen so vor sich geht. Mal ziehen sie im Dunkeln los, um unentdeckt schauen zu können, wie die Zustände in Mastanlagen aussehen – und um vielleicht versteckte Kameras zu platzieren.
Im Buch geht es um diese Undercover-Recherchen, die Mülln in ähnlicher Form seit mehr als 20 Jahren durchführt, länger also, als „Soko Tierschutz“existiert; der Verein wurde 2012 gegründet. Es geht um die Skandale, die die Aktivisten aufgedeckt haben, und auch um Müllns Frust, wie wenig nachhaltig die Veränderung oft ist, die sie damit anstoßen. Es geht um die Untätigkeit von Behörden und Ämtern und um die negativen
Folgen, die Massentierhaltung auch für Menschen hat, sei es für die Fleisch-Konsumenten, sei es für Arbeiter in den Großbetrieben. Es geht um Müllns Herkunft und seine Jugend, seine Motivation und seinen Arbeitsalltag, der enorm spannend ist. Wer hat schon gesehen und erlebt, was Mülln gesehen und erlebt hat? Es geht, vor allem, um das Leid der Tiere: der Schweine in Mastställen, die sich kaum bewegen können. Das Leid der Milchkühe. Das Leid der Hühner, die in großen Hallen so dicht an dicht gehalten werden, dass Arbeiter kaum Platz haben, sich dort zu bewegen, und die toten Tiere deswegen so lange zertrampeln, „bis sie fast im Boden“verschwinden. Es geht in diesem 270 Seiten langen Buch also um viel, genau genommen: um zu viel. Das Buch hat ein paar stilistische Schwächen, über die man getrost hinwegsehen kann; es liest sich flüssig weg. Als Leser wünscht man sich aber, Mülln hätte den ein oder anderen Gedanken deutlich breiter ausgeführt und dafür inhaltlich mehr über Bord geworfen. Kaum ist etwas angesprochen und thematisiert, ist da gleich der nächste Punkt, das nächste Ereignis. Einmal kritisiert der 41-Jährige im Buch etwa Organisationen, die sich für das Wohl der Tiere einsetzen, aber die jungen Menschen, die sich darin engagieren, verheizen und ohne große Vorbereitung zu Aufträgen schicken würden. Das ist ein spannender Aspekt, der spät im Buch noch mal aufgegriffen und mit einer persönlichen Tragik untermauert wird: Müllns frühere Freundin starb seiner Darstellung nach bei der Arbeit für eine solche Organisation, ebenso wie weitere Menschen. Doch mehr als ein paar Sätze widmet das Buch diesem Aspekt nicht, anderen ebenso wenig.
Allzu viel Selbstkritik findet sich im Buch ebenfalls nicht. War tatsächlich jede Aktion der Organisation komplett gerechtfertigt, so in der Rückschau, auch aus Sicht der Mitglieder? Vor ein paar Jahren etwa fuhr „Soko Tierschutz“eine emoMal tionale Kampagne gegen das MaxPlanck–Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Forscher hatten dort mit Affen experimentiert, um das menschliche Gehirn besser zu verstehen. Ein „Soko Tierschutz“-Aktivist schleuste sich als Pfleger ein und filmte heimlich mit. Die Aktivisten sahen Missstände. Das Strafverfahren gegen die beteiligten Wissenschaftler um den renommierten Hirnforscher Nikos Logothetis wurde schließlich gegen Geldauflage eingestellt. Falls es bei „Soko Tierschutz“heute Zweifel und interne Diskussionen darüber geben sollte, erfährt man es nicht.
Wer Mülln getroffen hat oder mit ihm und seinen Mitstreitern eine Nacht unterwegs war, erlebt einen Mann, der deutlich weniger verbissen und grimmig ist, als es in Diskussionsrunden im Fernsehen manchmal wirkt. Das merkt man auch seinem ersten Buch an, das kluge und reflektierte Gedanken enthält – und lesenswert ist, egal, wie man zu ihm steht.