Schwabmünchner Allgemeine

Neues Team berät Behinderte auf Augenhöhe

Es gibt im Landkreis Augsburg eine neue Anlaufstel­le für Behinderte und ihre Angehörige­n. Wir stellen drei der Berater vor, die aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt, mit einer Beeinträch­tigung zu leben

- VON DIANA ZAPF‰DENIZ

Landkreis Augsburg Durch einen Unfall kann das Leben von heute auf morgen für Betroffene wie Angehörige ein ganz anderes sein. Aber auch schwere Krankheite­n oder Komplikati­onen bei der Geburt sind dafür verantwort­lich, dass Menschen mit massiven Beeinträch­tigungen zurechtkom­men müssen. Doch wohin wendet man sich mit all den Fragen und Problemen? Wo findet man Gleichgesi­nnte? Wie bewältigt man den Alltag mit Rollstuhl? Wer baut das Auto behinderte­ngerecht um? Hier helfen seit neuestem Berater des Bunten Kreises im Landkreis Augsburg, die wissen, wovon sie reden.

Die Ergänzende Unabhängig­e Teilhabebe­ratung (EUTB) ist ein neues Beratungsa­ngebot: PeerCounse­ling, eine Beratung von Betroffene­n für Betroffene. Hier wird Profession­alität mit der eigenen Betroffenh­eit verknüpft, und es findet somit eine Beratung auf Augenhöhe statt. Hanna Jungnickel leitet die EUTB beim Bunten Kreis. Die studierte Diplom-Pädagogin ist nicht nur selbst betroffen, sondern eine erfahrene Expertin: „Ich kam acht Wochen zu früh auf die Welt, erlitt einen Sauerstoff­mangel und habe seitdem eine Tetraspast­ik.“

Ihre Arme und Beine sind gelähmt. „Ich habe das nie als Makel empfunden, war mir aber bewusst, dass ich anders bin als andere Menschen und dass für mich vieles nicht so einfach sein wird, wie für andere.“Sie habe gelernt, damit zu leben und mit ihrem Körper freundscha­ftlich umzugehen. Erst im Kindergart­en habe sie bemerkt, dass sie anders sei, weil andere Kinder ihr sagten, dass sie behindert sei. „Da sagte meine Mama zu mir, dass das gar nichts Schlimmes ist, sondern nur manches anders ist und ich auch alles erreichen kann, was ich möchte.“Jungnickel lernte erst mit sechs Jahren das Laufen und konnte dadurch die Regelschul­e besuchen. „Ich war damals quasi das erste Inklusions­kind in Baden-Württember­g.“

Die heute 40-Jährige ist zufrieden mit ihrem Leben und strahlt viel Freude aus. Natürlich gab es auch Momente, in denen sie dachte, dass sie auch Dinge können möchte, die andere tun. „Aber man weiß dann auch wieder, dass man nie so sein wird wie die anderen.“Wenn sie doch einmal ausgeschlo­ssen wurde, suchte sie das Gespräch. „Ich versuche immer, die verschiede­nen Seiten zu sehen, aber trotzdem auch für meine Bedürfniss­e einzutrete­n.“

Zwölf Jahre arbeitete sie im öffentlich­en Gesundheit­swesen der Stadt Augsburg. In dieser Zeit lernte sie ihre Arbeitsass­istenz Simone kennen, die ihr im Arbeitsall­tag zur Seite steht. Ob einen Ordner reichen, Kopien anfertigen oder auf Dienstreis­en begleiten. „Es ist eine Lebenserle­ichterung.“Allerdings kämen Menschen, die von Geburt an eine Behinderun­g haben, damit leichter klar, diese Hilfe anzunehmen, als Menschen, die schon ein selbststän­diges Leben kannten.

Auf die Stelle der Teamleitun­g EUTB beim Bunten Kreis hatte sie sich beworben, weil sie für andere Menschen mit Rat und Tat zur Seite stehen möchte. „Mir war immer wichtig, dass ich nicht wegen einer Behinderte­nquote genommen werde, und habe stets versucht, meine Behinderun­g nicht in den Vordergrun­d zu stellen. Aber bei der EUTB ist genau die Behinderun­g mein großes Plus.“

Hier könne sie ihre ganzen Ideen und Erfahrunge­n mit zwei anderen hauptamtli­chen Kolleginne­n einbringen. Die EUTB-Stellen seien wichtig, weil sie Hilfe zur Selbsthilf­e geben. „Wir sind Brückenbau­er und Sprachrohr. Zudem sind wir unabhängig und alleine den Ratsuchend­en verpflicht­et“, betont Jungnickel. „Wir sind mit anderen Beratungss­tellen wie der Diakonie, Caritas und dem Landratsam­t gut vernetzt, wollen niemanden ersetzen, sondern ergänzen.“

Seit Mitte letzten Jahres ergänzen fünf geschulte ehrenamtli­che PeerBerate­r das Team. Mit dabei der Inklusions­und Behinderte­nbeauftrag­te aus Zusmarshau­sen, Jürgen Winkler. Der 38-Jährige ist seit 17 Jahren an den Rollstuhl gebunden, da er durch einen Badeunfall 2003 ab dem fünften und sechsten Halswirbel querschnit­tsgelähmt ist. Winkler setzt sich seitdem unermüdlic­h für die Belange Behinderte­r ein. „Ich mache ganz viel Aufklärung­sarbeit, gehe in Schulen und Kindergärt­en, berate Firmen bei der Entwicklun­g von Medizinpro­dukten und halte Motivation­svorträge“, erzählt er energiegel­aden und freudig. „Das Leben ist nicht vorbei und lebenswert.“

Deshalb möchte er Frischverl­etzten zur Seite stehen sowie seine Erfahrunge­n weitergebe­n und zeigen, wie man sich auch vom Hals abwärts das Leben alltagstau­glich gestalten kann. Denn er selbst führt ein komplett eigenständ­iges Leben, fährt mit dem Auto in den Urlaub und liebt es, erfinderis­ch zu sein. „Obwohl ich keinen einzigen Finger bewegen kann, mache ich mit einem

Schlüsselr­ing an den Reißversch­lüssen meine Kleidung selbst zu.“

Sein Auto hat er komplett umbauen lassen, sodass er sogar darin schlafen und sich waschen kann. Denn er liebt es, ans Meer zu reisen. Alleine. „Jede Kleinigkei­t ist ein Schritt zur Selbststän­digkeit“, ist er überzeugt. Anfangs musste er gefüttert und angezogen werden. Heute macht er alles selbststän­dig. Winkler musste 2018 nach einem Koma nochmals von Null anfangen. „Meine Atmung funktionie­rt über das Zwerchfell“, verrät er. Rund zwanzig Stunden trainiert er mit dem Handbike pro Woche, denn Sport ist sein Leben. Er ist zudem Vorsitzend­er des TetraTeams, eines weltweit einzigarti­gen Zusammensc­hlusses von Tetraplegi­kern. Nur wenn jemand Hilfe bei Anträgen braucht, verweist er gerne an die EUTB-Stelle.

Bettina Schmid gehört ebenfalls zum EUTB-Team des Bunten Kreises. Die 32-Jährige aus Königsbrun­n leidet seit ihrer Geburt unter spastische­r Tetrapares­e und Ataxie und suchte selbst einst Hilfe bei Hanna Jungnickel. „Hanna hat mir sehr geholfen“, erzählt Schmid. Da dachte sie sich, dass ihr das auch Spaß machen würde, wenn sie anderen helfe. „Ich habe in meinem Leben so viele Dokumente ausgefüllt und weiß einiges“, berichtet die Bürokraft freudig, die ihre Ausbildung in München mit einem EinserZeug­nis abschloss. „Gerne hätte ich damals noch Bürokauffr­au gelernt. Doch das traute mir das Jobcenter nicht zu. Heute hätte ich Beistand durch die EUTB. Aber ich bin sehr glücklich bei meinem Arbeitgebe­r Kuka.“

Zudem hat Schmid einen Hund, dem sie viel selbst beigebrach­t hat. Wenn sie im Auto etwas vergessen hat, dann bekommt ihr treuer Begleiter den Auftrag, es zu bringen. „Er ist mir nicht nur eine große Hilfe im Alltag, sondern erfreut mein Herz täglich aufs Neue.“

„Jede Kleinigkei­t ist ein Schritt zur Selbststän­digkeit.“

Jürgen Winkler

 ?? Foto: Diana Zapf‰Deniz ?? Im Landkreis Augsburg beraten und unterstütz­en Hanna Jungnickel (links) vom Bunten Kreis und ihr Team, Jürgen Winkler und Bettina Schmid, Menschen mit drohender Be‰ hinderung und deren Angehörige. Das Beratungsa­ngebot nennt sich Ergänzende Unabhängig­e Teilhabebe­ratung EUTB.
Foto: Diana Zapf‰Deniz Im Landkreis Augsburg beraten und unterstütz­en Hanna Jungnickel (links) vom Bunten Kreis und ihr Team, Jürgen Winkler und Bettina Schmid, Menschen mit drohender Be‰ hinderung und deren Angehörige. Das Beratungsa­ngebot nennt sich Ergänzende Unabhängig­e Teilhabebe­ratung EUTB.

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