„So lange wir Produktion, Industrie und Schornsteine haben, geht es Augsburg gut“
Christian Dierig war 35 Jahre lang für die Firma Dierig tätig. Jetzt geht er in den Ruhestand und wechselt in den Aufsichtsrat. Wie er die Corona-Krise bewertet und was er sich privat wünscht
Herr Dierig, Sie waren 35 Jahre lang bei Dierig, davon 24 Jahre Sprecher des Vorstandes und scheiden nun mit der Hauptversammlung am 27. Mai aus dem operativen Geschäft aus. Was hat Sie dazu bewegt, ausgerechnet jetzt, in diesen schwierigen Zeiten, ihr Amt aufzugeben und in den Aufsichtsrat zu wechseln?
Christian Dierig: Ich habe mit 64 das richtige Alter erreicht, jetzt ist es gut. Mit meiner Cousine Ellen Dinges-Dierig und meinem Neffen Benjamin Dierig habe ich zwei junge Nachfolger, die jetzt auch mal selber entscheiden wollen. Wir haben im vergangenen Jahr viel miteinander gesprochen und diskutiert. Das war eine gute Erfahrung, in der Krise zu sehen, die packen das und wir sprechen die selbe Sprache. Ich habe zudem eine liebenswerte Ehefrau, die schon aufgehört hat zu arbeiten, jetzt wollen wir beide mehr gemeinsame Zeit genießen. Wir reisen gerne, gehen gerne ins Theater oder die Oper und haben viele Freunde, die wir zugegeben zuletzt etwas vernachlässigt haben. So komisch das vielleicht klingt, aber es gibt noch etwas anderes als die Firma und das Familienunternehmen.
Dennoch stand dieses für Sie lange im Mittelpunkt Ihres Tuns. Sie haben in einem Interview einmal gesagt, als Chef eines Unternehmens müsse man diesem dienen. Wie ist das gemeint? Dierig: Der Chef eines Unternehmens muss verstehen, dass es immer ums Unternehmen geht und nicht um einen selbst. Dafür muss man sich eben auch mal zurücknehmen. Gemeinnutzen muss vor Eigennutzen stehen. Das ist es, was mir manchmal übrigens in unserer Gesellschaft fehlt. So ärgert es mich, wenn neues Pflaster in der Fußgängerzone verlegt wird und nach wenigen Wochen dort genauso viele Kaugummis kleben wie vorher. Da frage ich mich, warum machen die Menschen das und können sich nicht zurücknehmen und den Weg zum Mülleimer gehen? In einem Familienunternehmen ist das sehr, sehr wichtig, hier die richtigen Zeichen zu setzen.
Ist dieses „Dienen“und das „Sich-Zurücknehmen“eine Charaktereigenschaft, die dazu geführt hat, dass Dierig jetzt in die siebte Generation geht und eines der ältesten Augsburger Familienunternehmen ist?
Dierig: Ja, ich denke schon. Wenn ich möchte, dass dieses Unternehmen weiter existiert, dann muss ich Entscheidungen treffen, deren Früchte ich nicht mehr werde ernten können. Ich muss nicht sein wie ein Politiker, der nur für fünf Jahre denkt und hoffen muss, dass er wieder gewählt wird. Ich darf und muss in die Zukunft denken und das Unternehmen und dessen Entwicklung im Blick haben und nicht mich.
Auf welche andere Leistung in Ihrem Berufsleben sind sie zudem stolz?
Dierig: Das mit dem Loben ist immer so eine Sache. Wenn es darum geht, ein Unternehmen am Laufen zu halten, dann bin ich immer nur so gut wie alle um mich herum. Ich glaube, dass es keine einzelnen Dinge waren, auf die ich stolz sein könnte. Sondern unterm Strich, dass ich es geschafft habe, diese 35 Jahre durchzuhalten, nicht von meinem Weg abgekommen bin und an meinem Ziel festgehalten habe. Dass ich meinen Weg zu Ende gegangen bin und nicht ausgestiegen bin, als es mal schwierig wurde.
Wie jetzt in der Corona-Krise?
Dierig: In 216 Jahren hat unser Unternehmen Kriege, Wirtschaftsflauten, Brände, die Zusammenbrüche wichtiger Kunden, Krankheitswellen und sechs Generationenwechsel erlebt und überlebt. Es wird auch die Corona-Pandemie überstehen. Schlimmer als Corona war für mich – und ich denke auch für viele andere – ohnehin die Zeit in den 90erJahren. Auch durch den Niedergang der Textilindustrie. Da gab es eine große Machtlosigkeit und die Arbeitslosigkeit in Augsburg lag bei über 13 Prozent. Davon sind wir heute weit entfernt. Die Strukturkrise jetzt mit Corona zu vergleichen oder zu sagen, es ist die schwerste Krise nach dem Zweiten Weltkrieg, halte ich für falsch. Heute sind wir alle ein wenig verwöhnte Wohlstandsmenschen, die bei einer roten Ampel schon einen Herzinfarkt kriegen. Überall hört man nur Krise, Krise, Krise. Wir hatten die Pocken, die Masern, die Röteln. Es sind auch viele Menschen an Masern und Röteln in Deutschland gestorben. Bis die Impfpflicht kam und Kinder, wie ich auch, mit nacktem Po in der Volksschule am Roten Tor standen und geimpft wurden. Die Krise jetzt ist eine Krise, weil sie ein Gesicht hat mit den vielen Verstorbenen. Das ist auch verheerend und furchtbar, aber für die Wirtschaft mit der Struktur wie in Augsburg ist es auch ein stark beschleunigter Strukturwandel, der nun eben nicht 2025 kommt, sondern 2021.
Hat Sie dann die aktuelle Krise so überhaupt nicht berührt?
Dierig: Doch natürlich, es ist ja eine menschliche Katastrophe. Normalerweise bin ich sehr viel unterwegs und treffe meine Kunden persönlich und auch die Probleme, die Kunden womöglich haben, definieren sich aus direkten Gesprächen mit ihnen. Solche Probleme vor Ort zu lösen geht viel einfacher, als das am Telefon möglich ist. Auch Stoffe können Sie am Telefon nicht anfassen. Das war für uns schon unangenehm. Ich brauche das Gemeinsame und war deshalb auch froh, dass wir dank Hygienekonzept weiter ins Büro gehen konnten, sonst wäre mir die Decke auf den Kopf gefallen. Auch Mitarbeiter in Kurzarbeit zu schicken, ist keine angenehme Aufgabe. Dennoch ist es nicht die schlimmste Krise, die ich mit Dierig erlebt habe.
Sie sagen, Corona hat den Strukturwandel beschleunigt. Auch in Augsburg. Gelingt es der Stadt aus Ihrer Sicht, mit dieser Beschleunigung umzugehen?
Dierig: Ich glaube an den Standort und auch die Menschen hier. Sie haben eine extreme Leidensfähigkeit. Wir sind Gott sei Dank immer noch eine Industrie-Stadt und haben viel produzierendes Gewerbe, deswegen haben wir die Krise 2007/08 auch besser überstanden als viele, die von Dienstleistung leben. So lange wir hier Produktion, Industrie und Schornsteine haben, wird es Augsburg gut gehen. Sobald wir keine Industrie mehr haben und vorwiegend auf Dienstleistung setzen, wird es schwierig. Denn ganz ehrlich: Wenn der Pizzabäcker dem Pizzabäcker eine Pizza bringt oder der Anwalt den Anwalt berät, dann funktioniert das nicht. Deshalb würde ich mir wünschen, dass Augsburg den Fokus mehr auf den Wirtschaftsbestand legt. Dann sind die Krise und der Strukturwandel lösbare Aufgaben.
„Ich glaube an den Standort und die Menschen hier“
Und wie wird Dierig durch diese Krise kommen?
Dierig: Wir haben 2020 ein Vorsteuerergebnis wie vor der Krise erreicht und sind demnach ganz gut durch diese schwierige Zeit gekommen. Die Menschen haben mehr Geld ausgegeben, um es sich Zuhause schön zu machen. Darauf können wir aufbauen. Benjamin und Ellen sind mal gefragt worden, wo sie Dierig in 100 Jahren sehen. Das ist wohl zu weit gegriffen, aber beiden ist klar, dass sie Dierig in 100 Jahren noch sehen. In unserer DNA ist das Textile enthalten und ich würde mir wünschen, das wir das weiter machen können. Aber das ist nicht das Hauptziel. Das Hauptziel ist es, sich den Entwicklungen anzupassen und die Vermögenssubstanz zu erhalten und zu vermehren. Ich möchte nicht, dass das Unternehmen das größte oder reichste wird, sondern dass alle Menschen, die damit zu tun haben, zufrieden sind.
Welche Pläne haben Sie für sich ganz persönlich?
Dierig: Ich habe erfreulich viele Patenkinder, um die ich mich kümmern will. Ich bin zudem noch Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung „Herz zeigen“, wo wir die Idee der Immobilie mit dem Leben von behinderten Menschen zusammenbringen. Das ist eine tolle Aufgabe. Ich kann mir daher schon vorstellen, weiter aktiv zu sein, auch als Aufsichtsrat, aber ich möchte dies tatsächlich nicht öfter wie ein oder zweimal die Woche tun. Zunächst einmal möchte ich ankommen, Zeit mit meiner Frau verbringen, mich neu finden und sehen, was aus mir heraus kommt. Ich bin neugierig.
Das Gespräch führte Andrea Wenzel.