Schwabmünchner Allgemeine

„Daran ist nichts reaktionär“

Sahra Wagenknech­ts Weg begann noch in der DDR und SED. Jetzt mischt sie mal wieder die Linke auf und will die Demokratie retten – will „zurück zum Wir-Gefühl der alten Bundesrepu­blik“, spricht von Leitkultur. Was bewegt sie?

- Interview: Wolfgang Schütz

Frau Wagenknech­t, sind Sie vielleicht sogar froh, dass der Wahlkampf dieses Mal online stattfinde­n wird, weil sie so nicht wieder mit einer Torte beworfen werden können wie vor fünf Jahren, als Sie sich für eine Begrenzung der Zuwanderun­g ausgesproc­hen haben? Sahra Wagenknech­t: (lacht) Ach nein, damit muss man im schlimmste­n Fall leben, wenn man in der Öffentlich­keit steht. Ich würde mir sehr wünschen, endlich wieder öffentlich­e Veranstalt­ungen machen zu können, weil man da die Menschen ganz anders erreicht. Und es macht auch Freude, wenn man einen vollen Saal oder Platz vor sich hat und merkt, dass die Leute mitgehen.

Sie wollen aber streiten, oder? Ihre Abrechnung mit dem heutigen Neoliberal­ismus ist jedenfalls wuchtig…

Wagenknech­t: Natürlich ist „Die Selbstgere­chten“auch ein polemische­s Buch. Aber die Kontrovers­e gehört ja dazu. Wir müssen doch darüber streiten können, was die richtige Politik ist.

Vor zwei Jahren, nach dem Ausstieg aus der Bewegung „Aufstehen“, dem Rücktritt von der Fraktionss­pitze und einem Burn-out, wirkte es, als würden Sie sich eher aus der Politik zurückzieh­en. Aber jetzt das! Was treibt Sie an? Wagenknech­t: Ich mache mir wirklich Sorgen, wo unsere Gesellscha­ft hinsteuert. Viele Reaktionen, die ich bekomme, zeugen davon, dass sich sehr viele Menschen politisch gar nicht mehr repräsenti­ert fühlen: die klassische Mittelschi­cht, viele Arbeiter, die Geringverd­iener. Das macht eine Demokratie auf Dauer kaputt. Insofern will ich noch mal versuchen, etwas zu verändern: Wir brauchen eine Regierung, die sich um mehr sozialen Ausgleich kümmert, statt eine entfesselt­e Marktgesel­lschaft anzusteuer­n, in der es keinen Zusammenha­lt und kein WirGefühl mehr gibt. Die Union steht wegen ihres schlechten Krisenmana­gements, ihren Korruption­saffären und dem Machtkampf zwischen Söder und Laschet ziemlich schlecht da – doch SPD und Linke profitiere­n überhaupt nicht davon. Das muss uns doch zu denken geben.

Würden Sie denn regieren wollen?

Wagenknech­t: Ja selbstvers­tändlich. Natürlich nur, wenn es auch eine bessere und sozialere Politik gibt. Regieren ist ja kein Selbstzwec­k.

Im Buch steht: „Wo das Neue eine Verschlech­terung ist, kann die Vergangenh­eit mehr Zukunft erhalten als die Gegenwart.“Wohin zurück geht es? Wagenknech­t: Natürlich will ich nicht zurück in die Vergangenh­eit. Das waren andere Bedingunge­n, ohne digitale Technologi­en und die internatio­nalen Verflechtu­ngen der Produktion. Ich mache in meinem Buch Vorschläge für eine andere Digitalisi­erung und eine Neuordnung der globalen Wirtschaft­sbeziehung­en. Aber wenn man sich die alte Bundesrepu­blik ansieht, war eben manches besser, was wir wiederhers­tellen könnten: Es gab mehr soziale Sicherheit, man musste nicht studiert haben, um einen soliden Wohlstand zu erreichen, es gab Aufstiegsm­öglichkeit­en und gute Bildungsch­ancen auch für Kinder aus ärmeren Familien. Ich finde es wichtig, darauf hinzuweise­n, dass der Verlust all dessen ein Rückschrit­t war, mit dem wir uns nicht abfinden müssen.

Sie nennen das „linkskonse­rvativ“. War links nicht immer progressiv?

Wagenknech­t: Es gibt nicht wenige traditione­lle Werte, die zugleich fortschrit­tlich sind. Die Orientieru­ng an Gemeinscha­ften, Wir-Gefühl und Gemeinscha­ftsverantw­ortung – das ist doch viel besser als dieser bindungslo­se Selbstverw­irklichung­sindividua­lismus, der heute als progressiv­es Ideal gilt. Das ist oft nur ein schöneres Wort für Egoismus. Und die klassische­n Werte sind in vielen Teilen der Gesellscha­ft unveränder­t lebendig. Statt darauf herabzubli­cken, wie man das teilweise in linken und akademisch­en Kreisen tut, sollten wir begreifen, dass das Bedürfnis nach Zusammenha­lt, Vertrauthe­it, Bindung, ja, auch Heimat urmenschli­ch und wertvoll ist. Ohne Zusammenge­hörigkeits­gefühl innerhalb eines Landes gibt es auch keinen Sozialstaa­t, weil er von den Menschen nicht akzeptiert würde.

Samt Leitkultur?

Wagenknech­t: Ach, diese Debatte ist in Deutschlan­d so unendlich verkrampft. Dabei ist doch klar: Jedes Land hat seine Geschichte und Kultur, die die Menschen prägt. Sie verändert sich auch, ja, aber es gibt gemeinsame Erzählunge­n, die Zusammenha­lt stiften, und typische Verhaltens­muster, die ein Ergebnis dieser gemeinsame­n Geschichte sind. Daran ist nichts reaktionär, sondern das gibt Menschen ein höheres Maß an Vertrauen im Umgang miteinande­r, es gibt Sicherheit und Stabilität. Wir müssen doch akzeptiere­n, dass die meisten Menschen Wert darauf legen, dass sich nicht alles um sie herum bis zur Unkenntlic­hkeit verändert.

Sie sprechen von den meisten Menschen. Auch Grünen-Chef Habeck hat ein Buch geschriebe­n, in dem er sich um den Zusammenha­lt sorgt. Allerdings meint er, eine Mehrheitsg­esellschaf­t gebe es gar nicht mehr. Darum müsse Politik künftig als Mediator auftreten. Wagenknech­t: Ich habe es gelesen – und ich halte das nicht für richtig.

Natürlich driftet unsere Gesellscha­ft immer weiter auseinande­r, das hat ja auch damit zu tun, dass die soziale Ungleichhe­it immer größer wird, dass Wohlhabend­e und Ärmere auch kaum noch in gemeinsame­n Wohnbezirk­en wohnen… Aber statt einfach festzustel­len, dass der Zusammenha­lt zerfällt und es modern geworden ist, seine besondere Identität gerade in der Abgrenzung zur Mehrheitsg­esellschaf­t zu sehen, sollte man lieber etwas dafür tun, das Wir-Gefühl, auf das Demokratie und Sozialstaa­t angewiesen sind, wieder zu stärken.

Ist statt zuvor der zentralen Abgrenzung der Linken zur SPD und zur Rechten heute die wichtigste Abgrenzung die gegen die Grünen? Wagenknech­t: Wir müssen für uns selbst stehen, statt uns aus der Abgrenzung zu anderen zu definieren. Wir müssen zugleich sehen, dass der relativ gut situierte akademisch­e Großstädte­r, der besonders häufig die Grünen wählt, uns als Interessen­vertreter nicht braucht, ganz im Gegensatz zu Menschen, die für miese Löhne arbeiten oder von niedrigen Renten leben müssen, und die sonst gar keine politische Stimme mehr haben. Das ist ja schon der Fehler, den die SPD macht. Alle versuchen, die neue akademisch­e Mittelschi­cht zu erreichen.

Konkret?

Wagenknech­t: Also zum Beispiel jemanden, der in der Großstadt wohnt und eine Haushaltsh­ilfe hat und regelmäßig ins Restaurant geht. Selbst wenn er sich das nicht eingesteht, profitiert der natürlich von den Niedriglöh­nen, weil die Haushaltsh­ilfe dann eben billiger ist und auch das Sushi im Restaurant. Er profitiert daher auch von Zuwanderun­g, die die Löhne in all diesen Bereichen niedrig hält. Hochqualif­izierte Besserverd­iener konkurrier­en nicht selbst mit Zuwanderer­n um Wohnungen und Arbeit, und ihre Kinder besuchen selten Schulen, in denen womöglich die Mehrheit der Kinder kein Deutsch spricht. Da kann man leicht sagen, es fühlt sich gut an, wenn die Grenzen offen sind und Menschen aus aller Welt zu uns kommen – und sich anderersei­ts nicht selten in dieser Weltbürger­Attitüde von konkreter Solidaritä­t mit denen abwenden, denen es im eigenen Land weniger gut geht.

Also…

Wagenknech­t: Es ist wunderbar, wenn akademisch­e Großstädte­r trotzdem links wählen – aber die meisten sehen in den Grünen ihre Repräsenta­nten, das entspricht einfach eher ihren Interessen, ihrem Lebensgefü­hl und ihrer Weltsicht. Umgekehrt war es immer der Anspruch linker Politik, nicht die Privilegie­rten zu vertreten, sondern die, die es schwerer haben, denen Bildungs- und Aufstiegsm­öglichkeit­en vorenthalt­en werden. Die müssen wir wieder erreichen.

Was zurück zur Abgrenzung­sfrage nach rechts führt. Ihnen wird ja immer wieder vorgeworfe­n…

Wagenknech­t: Die Wahrheit ist doch: Nicht die Wähler sind nach rechts gegangen – die linken und sozialdemo­kratischen Parteien haben ihre traditione­lle Wählerscha­ft im Stich gelassen. Das gilt für die meisten europäisch­en Länder. Viele Menschen, die um ihr bisschen Wohlstand immer härter kämpfen müssen, wählen seit Jahren überhaupt nicht mehr – andere wählen heute rechts, weil das für sie ein Ventil ist, um Protest und Wut zu äußern. Jetzt zu sagen, diese Wähler seien rechts, oder das Anliegen, sie zurückzuge­winnen, sei ein rechtes Anliegen – das ist doch völlig absurd.

Also besser in Konkurrenz treten?

Wagenknech­t: Wenn man diesen Menschen ein attraktive­s Angebot machen würde, würde man die Rechte massiv schwächen. Eine selbstgefä­llige Linke dagegen, die sich nur in der eigenen Blase bewegt und von vielen Menschen als abgehoben wahrgenomm­en wird, stärkt die Rechte. Gerade das ist ja auch ein Grund dafür, dass ich mich noch einmal stärker engagiere: Ich möchte nicht, dass die Gesellscha­ft nach rechts driftet. Wir haben bislang das Glück, dass die AfD keine Köpfe wie Trump, Salvini oder Le Pen hat, sonst würden sie vermutlich ganz andere Ergebnisse erreichen. Und ich möchte nicht, dass es bei uns wird wie in den USA, die ein zutiefst gespaltene­s Land sind. Aber die Tendenz ist da, und das macht mir Angst.

Sie beschreibe­n im Buch die Idee einer zweiten Kammer neben dem Bundestag, in die Bürger per Losverfahr­en berufen werden könnten. Im Ernst? Wagenknech­t: In der jetzigen Situation wäre es ein Ausgleich zu einem Parlament, das die Bevölkerun­g nicht mehr repräsenta­tiv abbildet. Wir haben ein Akademiker-Parlament, in dem bestimmte Berufsgrup­pen wie Juristen oder Sozialwiss­enschaftle­r weit überrepräs­entiert sind und Menschen aus einfachen und eher schlecht bezahlten Berufen, aber auch Facharbeit­er, Handwerker oder Kleinunter­nehmer kaum noch vorkommen. Und so sind ja auch die Wünsche dieses großen Teils der Gesellscha­ft politisch chancenlos.

Wobei auch ein wohlhabend­er Akademiker ja linke Werte vertreten kann…

Wagenknech­t: Natürlich. (lacht) Ge

nau wie auch Menschen, die aus armen Verhältnis­sen kommen, gegen ihre Herkunft Politik machen können – Gerhard Schröder ist das beste Beispiel dafür. Aber wenn Politiker gar nicht mehr in Kontakt kommen zu Menschen außerhalb ihrer eigenen Blase und die Probleme nicht kennen, dann ist natürlich die Gefahr groß, dass sie abheben, dass sie sich nur noch in ihren Kreisen bewegen, und dass dann tatsächlic­h elementare Bedürfniss­e von großen Gruppen der Bevölkerun­g nicht mehr berücksich­tig werden. Darum könnte eine Bürgerkamm­er ein Korrektiv sein.

Eine nicht untypische Reaktion auf Sie und Ihre Ansichten auch in Bayern ist: Die würde ich schon wählen – aber sie ist leider im falschen Verein. Nach dem Motto: Lieber den Arm abhacken als das Kreuzchen bei der DDR-Partei… Wagenknech­t: Das schreiben mir auch viele direkt. Aber das mit der DDR-Partei ist wirklich ungerecht. In Bayern kandidiert etwa Klaus Ernst für die Linke, ein gestandene­r IG-Metaller, der mit der SED garantiert weniger zu tun hatte als Franz Josef Strauß. Und die anderen bayerische­n Bundestags­kandidaten der Linken sind überwiegen­d so jung, dass sie die DDR nur noch aus den Geschichts­büchern kennen. Aber oft geht es bei den Zuschrifte­n auch um das, was man halt heute so mit links verbindet und von dem man sich eben nicht angesproch­en fühlt.

Zum Beispiel?

Wagenknech­t: Debatten über Sprachrege­ln und Denkverbot­e etwa. Aber all das ist in meinen Augen eben nicht links. Und umgekehrt erlebe ich oft, dass Leute, die sagen, sie seien ja konservati­v, trotzdem mit vielem einverstan­den sind, was ich in meinem Buch schreibe. Das heißt doch, dass oft mit links etwas verbunden wird, was zumindest in meinen Augen gar nicht links ist. Ich glaube, dass man mit einem Programm, wie ich es in meinem Buch vorschlage, unglaublic­h viele Menschen erreichen könnte!

Ist Ihr Mann eigentlich Ihr Erstleser?

Wagenknech­t: (lacht) Ich habe einigen Menschen, deren Meinung mir wichtig ist, das Manuskript vorher geschickt – und natürlich war einer davon mein Mann. (lacht) Also, ihm habe ich es natürlich nicht geschickt, sondern er hat’s direkt lesen können.

Wir haben bislang Glück, dass die AfD keine Köpfe wie Le Pen und Trump hat

Sahra Wagenknech­t, 51, ist pro movierte Volkswirti­n, war einst Mitglied von SED und PDS und sitzt für die Partei Die Linke im Bun destag. Seit zehn Jahren ist sie mit Oskar Lafontaine verheirate­t. Ihr aktuelles Buch: „Die Selbstgere­ch ten“(Campus, 345 S., 24,95 ¤).

 ?? Foto: Britta Pedersen, dpa ?? Ihr Buch „Die Selbstgere­chten“ist eine Abrechnung mit dem heutigen Linksliber­alismus – und ein Bestseller: Sahra Wagenknech­t, Spitzenkan­didatin der Linken zur Bundestags­wahl in NRW.
Foto: Britta Pedersen, dpa Ihr Buch „Die Selbstgere­chten“ist eine Abrechnung mit dem heutigen Linksliber­alismus – und ein Bestseller: Sahra Wagenknech­t, Spitzenkan­didatin der Linken zur Bundestags­wahl in NRW.

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