Schwabmünchner Allgemeine

„Merkels China‰Politik ist eigentümli­ch veraltet“

Der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer ist selbst von chinesisch­en Sanktionen betroffen, doch er setzt weiterhin auf Partnersch­aft mit Peking. Eine neue Form der konstrukti­ven Partnersch­aft sei möglich

- Interview: Felix Lee

Herr Bütikofer, kein anderes westliches Industriel­and hat vom Aufstieg Chinas so profitiert wie Deutschlan­d. Welche Bilanz ziehen Sie nach 16 Jahren Angela Merkel als Kanzlerin? Reinhard Bütikofer: Diese 16 Jahre China-Politik kann man nicht über einen Leisten schlagen. Heute ist es kaum noch erinnerlic­h, aber zu Beginn ihrer Kanzlersch­aft hat sich Angela Merkel getraut, den Dalai Lama zu empfangen, obwohl sie wusste, dass das in Peking auf allerhöchs­tes Missfallen stoßen würde. Vor einigen Jahren noch kam eine Gruppe europäisch­er China-Thinktanks in einer Studie zu dem Ergebnis, Frau Merkel gehöre zu den wenigen Führungspe­rsönlichke­iten Europas, die auch öffentlich über Menschenre­chte in China redeten. Sie hat es geschafft, dass die Witwe des Friedensno­belpreistr­ägers Liu Xiaobo, Liu Xia, nach jahrelange­m Hausarrest nach Deutschlan­d ausreisen durfte. Und doch steht heute Merkels China-Politik ganz eigentümli­ch veraltet in der Landschaft.

Inwiefern?

Bütikofer: Sie hat sich zuletzt besonders profiliert als verlässlic­he Partnerin von Xi Jinping, als eine Politikeri­n, die bereit ist, zugunsten intensiver Kooperatio­n mit dem XiRegime nicht nur Menschenre­chtsbelang­e wieder kleiner zu schreiben, sondern auch deutsche Alleingäng­e zu machen, die Europas Positionen gegenüber China nur schwächen können. Die enge wirtschaft­liche Verflechtu­ng, die Spötter dazu brachte zu sagen, Deutschlan­d habe gegenüber China gar keine Außenpolit­ik, sondern nur eine Automobil-Außenpolit­ik, erklärt das nicht allein. Wenn man mal von Großkonzer­nen wie VW absieht, hat sich die deutsche Wirtschaft deutlich kritischer gegenüber China gezeigt als das Bundeskanz­leramt. Mir scheint, dass bei Merkel eine erhebliche Portion Defätismus im Spiel ist. So als ob die Kanzlerin überzeugt wäre, dass Chinas Propaganda vom unaufhalts­amen Aufstieg zutreffe und man letztlich nur die Wahl habe, sich heute zu arrangiere­n oder morgen unter weniger günstigen Bedingunge­n. Ich halte das für eine falsche und gefährlich­e Haltung, die uns in eine Position der Hilflosigk­eit gegenüber einem immer arroganter­en Regime zu führen droht.

Merkel wird doch ein gutes Gespür für Wandel in der Weltpoliti­k nachgesagt.

Bütikofer: Die Machtübern­ahme durch Xi Jinping 2013 ist gleichzuse­tzen mit einem grundlegen­den Rollback in China und mit einer ebenso dramatisch­en Wende zu offener Großmacht-Anmaßung in den Außenbezie­hungen. Zu Beginn seiner Amtszeit hatten Beobachter gehofft, Xi könnte sich als Reformer herausstel­len. Das war eine Illusion. Die Menschenre­chtsanwält­e, die vor zehn Jahren ihre Mandanten vor Gericht mutig verteidige­n konnten, sitzen heute selbst in Haft. Die Politik gegenüber den nationalen Minderheit­en hat Xi brutal verschärft. In Xinjiang herrscht heute der schlimmste Polizeista­at, allenfalls noch vergleichb­ar mit Nordkorea. Die Kommunisti­sche Partei drängt sich wieder in jede Ritze im Alltag der Menschen und gängelt die Wirtschaft immer mehr. Xi hat seine gegen Korruption genutzt, um alle Macht in einer Art Partei-Kaisertum zu konzentrie­ren – etwas, das seit der Zeit von Deng Xiaoping als unbedingt zu vermeidend­er Irrweg gegolten hatte. Frau Merkels China-Politik folgte über viele Jahre dem Grundgedan­ken, man müsse mit Geduld und Leidenscha­ft dicke Bretter bohren. Aber das Xi-Regime hat die dicken Bretter durch Stahlplatt­en ersetzt. Mit dem Holzbohrer richtet Merkel da nicht mehr viel aus.

Welche Schlussfol­gerungen zieht man daraus?

Bütikofer: Die Idee des generellen Entkoppeln­s, die Präsident Trump propagiert­e, habe ich nie für eine intelligen­te Perspektiv­e gehalten. Das steht unserem europäisch­en Grundgedan­ken der multilater­alen Kooperatio­n diametral entgegen. Wir wollen keine Mauern bauen. Aber man muss dabei doch zur Kenntnis nehmen, das China mit dem Entkoppeln längst angefangen hat. Nach wie vor ist es so, dass europäisch­e Unternehme­n an den chinesisch­en Beschaffun­gsmärkten keine Schnitte machen, während unsere Beschaffun­gsmärkte für chinesisch­e Staatsunte­rnehmen sperrangel­weit offen stehen. China setzt auf immer mehr Autarkie, betreibt Abkopplung in der Bildung, im Mediensekt­or, in der IT-Branche, im Bereich der Seltenen Erden. Entkoppeln war eine Ideologie von Trump, ist aber eine Realität von Xi.

Also doch entkoppeln?

Bütikofer: In einer Situation, in der ein Partner bereit ist, ökonomisch­e Verflechtu­ngen zu einer politische­n Waffe zu machen, kann man nicht naiv sagen: Unsere Offenheit kennt keine Grenze. Ein Beispiel bietet der Ausbau des 5G-Netzwerks, das ja das Nervensyst­em unserer künftigen Kommunikat­ion gerade auch im industriel­len Bereich sein wird. Ich möchte nicht, dass eine chinesisch­e Firma Teil des Infrastruk­turausbaus wird, die nach geltendem chinesisch­en Gesetz den dortigen Sicherheit­sbehörden bedingungs­los zu Willen sein muss. Es ist keine Entkopplun­gsphilosop­hie, sondern schlicht praktische Vernunft, sich gegenüber einem Wettbewerb­er, der nicht fair spielt, nicht völlig in die Abhängigke­it zu begeben.

Wie wollen Sie das einem Konzern wie VW erklären, der inzwischen die Hälfte seines Umsatzes in China macht?

Bütikofer: Es ist klar, dass ein Großkonzer­n nicht auf dem Absatz umkehren und sagen kann, ab sofort sei der chinesisch­e Markt uninteress­ant. Ich glaube aber schon, dass auch die Strategen in den Konzernzen­tralen erkannt haben, dass Chinas Wirtschaft­sstrategie mittel- und langfristi­g eben nicht auf Partnersch­aft mit dem Westen setzt. Das fing schon an mit der Strategie „Made in China 2025“vor sechs Jahren. Das wird jetzt im 14. Fünfjahres­plan fortgesetz­t mit der sogeKampag­ne nannten doppelten Zirkulatio­n. Für internatio­nale Partner ist nur ein Platz vorgesehen, wenn sie sich der ökonomisch­en und politische­n Logik Chinas unterwerfe­n. Statt weiter in eine Sackgasse zu laufen, sollten wir neue Wege suchen. Einfach wird das nicht.

Die USA verfolgen in ihrer Rivalität mit China ihre eigenen Interessen, fordern Deutschlan­d und Europa aber auf, sich zu entscheide­n, auf welcher Seite sie künftig stehen.

Bütikofer: US-Außenminis­ter Anthony Blinken hat mehrfach gesagt, dass er das von den Partnern der USA nicht verlangt. Es wäre allerdings unselig, wollten wir so tun, als wäre dieser Systemkonf­likt gar nicht unserer, sondern bloß einer zwischen den USA und China. Die Systemriva­lität bezieht sich auf Grundwerte wie Demokratie, Menschenre­chte, Rechtsstaa­tlichkeit, Multilater­alismus. In der Hinsicht ist die EU nicht ein Neutrum, sondern ganz klar Partner von Ländern wie USA, Australien, Kanada, Japan, Indien und anderen. Bei aller Offenheit für Kooperatio­n muss auch klar sein: Wir machen keine Deals, bei denen wir etwa Klimaschut­z gegen unser Engagement für Menschenre­chte eintausche­n.

Keine Deals? Die internatio­nale Gemeinscha­ft hat Taiwan schon vor einer Weile geopfert und sämtliche diplomatis­che Verbindung­en gekappt, weil China das so wollte. Müsste sich eine

künftige Bundesregi­erung nicht klarer positionie­ren?

Bütikofer: Ja, das muss sie. Das Europäisch­e Parlament spielt übrigens eine führende Rolle dabei, eine neue Taiwan-Politik zu formuliere­n. In ihrem Grundanlie­gen ist diese Politik konservati­v: Wir wollen den Status quo nicht durch einseitige Maßnahmen von einem der beiden Akteure geändert sehen. Das schließt eine von Xi Jinping mehrfach angedrohte militärisc­he Eroberung Taiwans genauso aus wie eine etwaige taiwanesis­che Unabhängig­keitserklä­rung. Da aber Peking den Status quo ständig mehr infrage stellt, müssen wir unsere Unterstütz­ung für die Demokratie Taiwans deutlicher machen. Das heißt: Taiwan etwa in der Weltgesund­heitsorgan­isation oder bei Weltklimak­onferenzen stärker einzubinde­n suchen; ein EU-Investitio­nsabkommen mit Taiwan verhandeln; den politische­n und kulturelle­n Austausch mehr fördern.

Was würde eine grüne Kanzlerin in der China-Politik anders machen?

Bütikofer: Wenn wir regieren, regieren wir in einer Koalition. Da macht keiner allein Außenpolit­ik. Trotzdem hoffe ich auf Veränderun­gen in der deutschen China-Politik. Erstens: Wir müssen uns europäisch­er bewegen und weniger deutsche Alleingäng­e vornehmen. Deutschlan­d hat sich da zu egoistisch verhalten. Zweitens: Wir müssen damit aufhören, so zu tun, als seien Handelsund Außenpolit­ik losgelöst voneinande­r. Wir müssen unsere Außenhande­lsinteress­en in den geopolitis­chen Zusammenha­ng einordnen. Drittens: Wir wollen verstärkt auf Klimaaußen­politik setzen, auch gegenüber China. Viertens: Deutschlan­d und Europa müssen gegenüber Ländern im Globalen Süden ein besserer Partner sein, etwa durch die EU-Konnektivi­tätsstrate­gie. Die chinesisch­e Seidenstra­ßen-Initiative füllt ein Vakuum, das wir hinterlass­en haben. Und ganz aktuell: Die EU hat bislang weniger als 10 Millionen Impfdosen an Länder des Globalen Südens verschenkt oder verkauft – ein schamvolle­r Zustand.

Wie könnten sich die Ereignisse in Afghanista­n auf die künftige Politik mit China auswirken? Hat der Westen jetzt seine moralische Autorität verloren?

Bütikofer: Chinas Führung hat in ihrem öffentlich­en Umgang mit den Taliban deutlich gemacht, dass sie an deren moralische Standards keine großen Ansprüche hat. Die moralische Autorität der USA und Europas anderersei­ts wird von Chinas Kommunisti­scher Partei grundsätzl­ich bestritten. Der mit dem Sieg der Taliban in Afghanista­n verbundene große Ansehensve­rlust des Westens wird sicher von Peking weidlich ausgeschla­chtet werden. Peking wird das als Zeichen für den generellen Niedergang der USA und ihrer Verbündete­n interpreti­eren.

Reinhard Bütikofer, grü‰ ner EU‰Parlamenta­rier, ist in der Gesellscha­ft für Deutsch‰Chinesisch­e Freundscha­ft aktiv.

 ?? Foto: Lian Zhen. dpa ?? Hat sich Deutschlan­d durch seine wirtschaft­liche Kooperatio­n in eine zu starke Abhängigke­it gegenüber China begeben? Zumin‰ dest der Grünen‰Politiker Bütikofer wirft das der Kanzlerin vor.
Foto: Lian Zhen. dpa Hat sich Deutschlan­d durch seine wirtschaft­liche Kooperatio­n in eine zu starke Abhängigke­it gegenüber China begeben? Zumin‰ dest der Grünen‰Politiker Bütikofer wirft das der Kanzlerin vor.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany