Heimatland ist abgebrannt
Chris O’Connor fand im Örtchen Lytton sein Zuhause, er pflanzte Wälder und war eine Zeit lang Bürgermeister. Dann kam erst die Rekordhitze und schließlich das Feuer. Nun sind 90 Prozent des Dorfes vernichtet. Wie ist das, Mr. O’Connor, wenn man alles verl
Lytton Chris O’Connor hatte sich gerade das linke Bein abgenommen, war auf die Veranda gerollt und in sein Buch versunken. Der Kalender zeigte den 30. Juni an, es war mal wieder Zeit für etwas Alltag. Gerade hatte es einen Hitzerekord nach dem anderen gegeben. Erst den Ortsrekord, dann den von British Columbia und am 29. Juni schließlich sogar den von Kanada. 49,6 Grad Celsius.
Dann also erwischte es Lytton. Der Ort, in dem O’Connor seit fast 40 Jahren lebt, dessen Wälder er pflanzte, dessen Sägemühle er leitete, in dem er seine Frau fand, den der Ex-Bürgermeister so gut kennt wie kaum jemand anders – dieser Ort sollte an diesem Tag durch die internationalen Medien gehen.
Die Bürger, auch O’Connor, waren nicht nur wegen der Hitze besorgt. Seit Tagen schon hatten die Hügel im Norden gebrannt. Aber am Morgen hatte der „Wildfire Service“den Waldbrand endlich unter Kontrolle gebracht – hieß es zumindest. Und so, versunken im Buch, merkte selbst O’Connor nicht, wie sich der Rauch über dem Ort langsam verfärbte – erst weiß, dann wurde es immer dunkler.
„Meine Frau kam gerade vom Einkaufen, als sie eine SMS bekam: Die Stadt brennt. Sie ist dann durch das Haus gelaufen, hat sich alles gegriffen, was sie tragen konnte. Unseren letzten Willen, die Versicherungspapiere. Wir hatten vielleicht 15 Minuten.“
In vielen Teilen Kanadas sind Waldbrände fast schon Alltag. Wer im Sommer ausgeht, checkt Thermometer und Rauchmeldungen. Neu ist, dass in dieser Saison die Feuer bereits im Juni begannen. Dass Lytton bis auf die Grundmauern niederbrannte – 90 Prozent des Ortes sind Schätzungen zufolge unbewohnbar –, war nur der Auftakt zur schlimmsten Waldbrand-Saison aller Zeiten.
Seitdem frisst sich das Feuer westwärts. Fast 900 000 Hektar, ungefähr ein Achtel der Fläche Bayerns, ist schon weg. Mehr als 1500 Waldbrände gab es von April bis Mitte August allein in British Columbia, der ganz im Westen Kanadas gelegenen Provinz. Das sind jetzt schon 200 mehr als der ZehnJahres-Schnitt, und die Saison dauert noch bis März kommenden Jahres. Auch Alberta oder der Norden brennen. Willkommen im Ausnahmezustand.
O’Connor zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Das Gesicht des 65-Jährigen ist von Falten durchzogen, er trägt einen Kurzhaarschnitt, Brille, einen beigefarbenen Hoodie. Beige ist die Farbe der Holzarbeiter. Seit kurzem ist er im Ruhestand, oder wie er es ausdrückt: Justin Trudeau, Kanadas Premierminister, bezahle ihn fürs Am-Leben-Bleiben. Dann muss O’Connor, beim Gedanken an das, was er gleich sagen wird, lachen.
„Als wir im Auto saßen, die Flammen die Straße runterkamen, sagte ich noch: Denise, wir haben mein Bein auf dem Küchentisch vergessen.“Er fragt, ob man es mal sehen wolle. Denise sei noch einmal ins Haus gerannt und habe es geholt. O’Connor nimmt den Laptop vom Schoß, an dem das Videogespräch stattfindet, und richtet ihn nach unten, bis die Kamera einen einbandagierten Stumpf einfängt. Das Bein musste vor zwei Jahren ab. Diabetes. Er habe auch noch Stahlplatten im Rücken und im Knie. „Man könnte mich schon fast Ironman nennen, bei so viel Metall, wie ich im und am Körper habe.“
Heute ist ein Mittwoch. Fast zwei Monate ist es jetzt her, dass O’Connor seine zwei Katzen, sein Haus, seine Nachbarschaft verloren hat. Er sitzt draußen vor seinem AirBnB. Seine Frau und er haben sich hier bis Oktober eingemietet. Das Hotel, in dem sie nach der Flucht unterkamen, bezahlte die Regierung nur für drei Wochen.
Die O’Connors waren gut versichert, viele der Nachbarn nicht. Manche kamen in einem ehemaligen Bibelcamp der First Nations, der indigenen Völker, mit dem Namen „Camp Hope“unter – Lager der Hoffnung. Manche leben in einem Holzfäller-Camp. Doch auch die O’Connors wissen nicht, wie es nach dem Oktober weitergehen wird.
Im Zentrum Lyttons wohnten etwa 250 Menschen, drumherum sollen an die 1500 weitere gesiedelt haben – in der Regel indigene. „Wir wissen es nicht genau, wie viel wir eigentlich sind. Wir schätzen es nur anhand der Patientenakten unseres Dorfarztes“, sagt O’Connor.
Was sicher ist: Dessen Praxis steht nicht mehr. Genauso wie das Museum für Chinesische Geschichte, das 2017 eröffnete. Oder das Rathaus, das sich bis vor kurzem noch in einem Trailer befand. Oder der Baumarkt, der Schnapsladen, die Touristeninformation und das Feuerwehrhaus, neben dem O’Connor mit seiner Frau wohnte.
„Ich mache unserer Truppe keinen Vorwurf. Sie taten alles, was sie konnten“, sagt O’Connor. Das Feuer habe alle überrascht. Wahrscheinlich habe ein Zugwaggon Funken geworfen, als er in den Süden des Dorfes einbremste. Der Funken traf auf das von der Rekordhitze ausgetrocknete Gras, und während alle noch mit dem Feuer im Norden beschäftigt waren, fraß sich das, was die Bewohner Lyttons entweder als „dicken, blau-schwarzen Wirbelsturm“oder als „Feuerwand“bezeichnen, durch den Ort. Nach 30 Minuten war alles vorbei, zwei Menschen waren tot und Lytton war in eine kriegsgebietsähnliche Schauerkulisse verwandelt.
Drei Autostunden in Richtung Westen und Norden geht der Kampf gegen die Flammen weiter. Doch was sind Autostunden schon für ein Maßstab, wenn die meisten Straßen gesperrt sind. Die Regierung hat allen Menschen im Umkreis der neuen Hotspots Flat Lake, White Rock Lake und Sparks Lake empfohlen, nicht das Haus zu verlassen. Videos aus dem Krisengebiet zeigen Autos, die bereits um 16 Uhr durch die Dunkelheit fahren, der Himmel schwarz vom Rauch.
Es regnet Asche in die Vorgärten der Menschen, die nach zwei Monaten an Bränden – und mindestens eiOntarios nem noch kommenden – verzweifelt sind. Dementsprechend unter Druck steht die Regionalregierung von British Columbia, vor allem, weil Premierminister John Horgan in der vergangenen Woche eine nicht wirklich kluge Entscheidung trifft. Während 300 Feuer brennen, 6000 Grundstücke evakuiert werden und sich die Menschen aus weiteren 22000 Häusern in Alarmbereitschaft halten sollen, fliegt der Sozialdemokrat in den Kurzurlaub in den Osten Kanadas.
4000 Hilfskräfte sind gerade im Einsatz, darunter 540 Feuerwehrleute aus der Provinz, aber auch 1200 von außerhalb. 200 Hubschrauber und Flugzeuge unterstützen zusätzlich. Trotzdem sind es zu wenige. Die Überforderung vor Ort ist letzten Dienstag bei einer Lagebesprechung zu beobachten, als die sogenannten „Fire Information Officers“erklären, warum man diese Flanke aufgeben und warum man jene unbedingt halten müsse.
Eindämmen tut man mit Wasseroder Lehmlinien, die durch die Wälder gezogen werden. Hubschrauber werfen entweder Löschwasser ab oder bringen Rettungstrupps in das Feuer, die dann dortbleiben, bis der Brand gelöscht ist. Viele Hilfskräfte bauen auch einfach notdürftig die Straßen aus, damit schweres Gerät überhaupt in das unwegsame Gelände vorrücken kann.
Die Ostflanke zu Vernon, einer Stadt mit mehr als 40000 Einwohnern, ist gerade die größte Sorge. In der Nacht hat es extreme Feuer gegeben, die der Wind in Richtung Stadt drückt. Die meisten der fast 300 Feuerwehrleute seien an der Ostfront der Brände, heißt es. Man werde jetzt mit Thermal-Scannern arbeiten. Die Strategie lautet: „Seek and Destroy“– Suchen und Zerstören, denn die Flammen dürften auf keinen Fall um den See herum kommen, sagt einer der Officers.
Jeder weiß es, aber keiner sagt es: Vernon hätte wohl sonst kaum mehr eine Chance.
Für die anderen Bezirke gibt es eigentlich eine gute Nachricht. Über Nacht hat es „nette zehn Millimeter“geregnet, sagt ein anderer Officer. Doch weil es im Ausnahmezustand keine guten Nachrichten geben kann: die nächste schlechte. Brennen Bäume weg, verliert der Boden Halt und es kommt zu Erdrutschen. Orte, die oft nur eine Straße
als Versorgungsweg haben, drohen abgeschnitten zu werden. Eine Bahnstrecke hat es schon erwischt.
Einen Tag später steht Kanadas Premier Trudeau am Hafen von Vancouver, der Hauptstadt von British Columbia, und sagt all die richtigen Dinge. Hemdsärmelig wie eh und je, rote Krawatte und hinter einem Pult mit der Aufschrift „Training 1000 Firefighters“, verspricht der selbst erklärte „Sohn British Columbias“noch vor der nächsten Waldbrand-Saison 500 Millionen kanadische Dollar, das meiste für eine bessere Ausrüstung – unter einer wiedergewählten liberalen Regierung. Natürlich, seit Sonntag ist ja wieder Wahlkampf. „Wir hätten dieses Jahr schon mehr helfende Hände gebraucht. Nächstes Jahr werden wir sie haben.“
Trudeau verkündet auch ein Klima-Anpassungsprogramm. Das Herz von British Columbia trocknet und brennt aus. So etwas wie „Lytton“soll nicht mehr passieren. „Lytton“ist nun ein geflügeltes Wort, aber vielleicht auch ein Anfang vom Kampf gegen das Klimachaos.
Chris O’Connor findet das lächerlich – abgesehen davon, dass er nicht glaubt, dass der Mensch etwas für oder gegen den Klimawandel tun kann: „Trudeau braucht die Stimmen aus British Columbia. Natürlich tut er so, als würde er sich für uns interessieren.“Außerdem: Für O’Connor, der an der Universität in Vancouver Forstwirtschaften studierte, löst eine „bessere Ausrüstung“
auch nicht das Problem. „Helikopter stoppen keinen Waldbrand, sondern Menschen.“Für ihn und viele andere der „alten Garde“der Feuerkämpfer liegt das Problem viel tiefer, in der Organisation.
Bis in die 80er und 90er Jahre gab es in jedem Bezirk Ranger-Büros. „Die kannten die Gegend auswendig. 24 Stunden war jemand anwesend, und sobald ein Feuer gemeldet wurde, war die Anweisung, alles zu tun, um dieses Feuer zu stoppen.“Mit „alles“meint er in diesem Zusammenhang auch „alles“. Der ganze Ort, alle, die Bagger lenken, Bäume fällen, Wasser schleppen konnten, hätten zusammengeholfen.
Vor 10 Uhr musste das Feuer gelöscht sein. Gegen die Hitze des Tages kam und kommt man heute noch kaum an. „Das haben wir alle in den Kopf geprügelt bekommen“, sagt O’Connor. „War es gefährlicher als heute? Klar. Aber am Ende hat es mehr Leute gerettet.“
Heute dagegen gäbe es nur mobile Teams, die teilweise hunderte Kilometer weg säßen, erst mal zur Gefahrenstelle fahren und die Gegend auskundschaften müssten. Wertvolle Zeit, die verloren sei. „So etwas macht mich sauer. Das ist unser Leben, das da in Flammen aufgeht.“
Lytton soll wieder aufgebaut werden. „Besser als je zuvor“, sagt O’Connor. Das wird jedoch noch mindestens zwei Jahre dauern. Bauarbeiter und Handwerker werden knapp sein – und damit teuer. Gleichzeitig fehlt den Einwohnern Lyttons die Lebensgrundlage. Mit ihren Häusern gingen auch die Jobs in Luft auf, sei es in der Stadt oder den Wäldern drumherum.
Letztens fuhr Chris O’Connor mit seinem Truck zu einem Konzert, das Hilfsorganisationen für die Evakuierten organisiert hatten. Auf dem Weg dahin kam er an Lytton vorbei, das erste Mal, seit er fliehen musste. Er sah die abgebrannten Hügel. Nicht mal bergab hätte die Regierung das Feuer aufhalten können, dabei sei dies das Einfachste auf der Welt, sagt er. Man lege einfach etwas unterhalb ein Feuer und lasse es hochwandern.
„35 Jahre lang habe ich hier Bäume gepflanzt, damit die Generation meiner Tochter davon ernten kann – umsonst“, sagt er. Und dann hält der Mann, der seine raue Art das ganze Gespräch über so zelebriert hat, inne. „Bei dem Anblick bin ich in Tränen ausgebrochen.“
Er hat auch noch Stahlplatten im Rücken und im Knie
Lytton soll wieder aufgebaut werden – „besser als zuvor“