„So entsteht kein Gemeinsinn“
Der Philosoph Rüdiger Safranski zieht eine Corona-Bilanz, spricht über die besondere Bedeutung innerer Unabhängigkeit, gerade in Krisen-Zeiten – und beleuchtet das fragwürdige Moralisieren in aktuellen Debatten
Herr Safranski, wie ist es Ihnen in diesen eineinhalb Jahren mit dem Leben im Ausnahmezustand gegangen?
Rüdiger Safranski: So schlimm das für die ganze Gesellschaft und für jeden Einzelnen natürlich war, und so sehr ich mir auch Sorgen gemacht habe – persönlich war die Pandemiezeit für mich eine Chance: Ich hatte unglaublich viel Ruhe, keine Auftritte… – das hat der Sammlung und der Arbeit sehr genützt.
Aber waren die Maßnahmen angemessen? Es gab ja hitzige Debatten und teils herbe Kritik gerade aus der Kultur.
Safranski: Ich finde wichtig, dass es die Auseinandersetzungen gab und gibt. Aber ich hatte doch den Eindruck, dass man – bei allen Fehlern – alles in allem angemessen agiert hat. Auch wurde ehrlicherweise signalisiert: Wir haben so etwas noch nicht erlebt, wir müssen ausprobieren. Und wir befinden uns ja noch immer in einem Riesenexperiment. Da gilt es, nicht zu besserwisserisch zu sein. Aber auch nicht zu wissenschaftsgläubig – denn zur Wissenschaft gehören die Kontroversen, doch das wollte man bisweilen nicht ertragen. Unangemessen fand ich auch, dass der Kulturbereich manchmal die beleidigte Leberwurst gespielt hat. Dass da Veranstaltungen und ähnliches weggefallen sind, das ist bedauerlich – aber nachvollziehbar.
Nun geht es in Ihrem neuen Buch ja um das „Einzeln sein“und seine Bedeutung. In historischen Betrachtungen über Größen der Philosophie zwar – aber doch: Der Stillstand galt in der Krise als Möglichkeit zur Besinnung … Safranski: Tatsächlich ist die Idee zu dem Buch aus der Zeit vor Corona. Aber nun sind wirklich alle mit dieser notwendigen Erfahrung konfrontiert worden, dass man sein Leben auch gestalten kann, wenn man gezwungen ist, sich stärker zurückzuziehen. Und tatsächlich steckt darin eine Chance – nicht für die Kinder, nicht für die vom Unterricht abgeschnittenen Schüler, aber für erwachsene Leute, die sich doch auf jeden Fall zu sich selbst verhalten und es bei sich selbst auch aushalten können sollten. Es ist ja so, dass jeder einzeln ist, ob er will oder nicht. Doch es kommt alles darauf an, dies anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Das war übrigens der Impuls des sogenannten „Existentialismus“. Davon, also von Leuten wie Jaspers oder Sartre, können wir durchaus etwas lernen, deshalb tauchen sie ja auch in meinem Buch auf. Sich auf sich selbst als Einzelner zu besinnen, ist auch für die Gesellschaft hoch bedeutsam.
Inwiefern? Im Zeitalter des Individualismus und der Selbstverwirklichung.
Safranski: Wir sind durch die moderne Technik in einem Maße wie noch nie zuvor mit Gesellschaft verknüpft. Der Nahbereich, auf den beschränkt die Menschen früher miteinander lebten, ist heute vollkommen durchlöchert, die Gesellschaft ist in den vernetzten Geräten immer anwesend. Und so muss auch der nicht mehr abgegrenzte Einzelne dauernd die Gedanken des Öffentlichen im Eigenen mit durchspielen, muss sich dauernd vergleichen. Herauszufinden, was denke oder was empfinde ich denn nun selber, wird immer schwieriger. Auf der anderen Seite bekommt in der digitalisierten Welt jeder eine Bühne der Selbstdarstellung. Das sieht zunächst danach aus, als würden die Chancen der Selbstverwirklichung steigen – wenigstens online. Jedenfalls sind wir heute so intensiv vergesellschaftet wie wohl noch nie zuvor.
Was bedeutet das für unsere Freiheit?
Safranski: Sie ist herausgefordert auf eine neue Weise. Wir müssen immer häufiger auch „Nein“sagen, abwehren können. Wir brauchen auch einen kulturellen Immunschutz. So wie der Körper nicht alles in sich hineinlassen, sondern auch abwehren können muss, so müssen wir auch unser Selbst schützen vor dem Zuviel. Wer dauernd online ist, hat es schwer, ein Einzelner zu sein. Eher wird er eine Art Durchlauferhitzer. Wir brauchen Zeit und Raum zur eigenen Selbstbegegnung. Es geht darum, eine eigene Lichtung zu schlagen, um atmen zu können für sich selber.
Inwiefern ist das wichtig für eine Gesellschaft in diesen großen Krisen?
Safranski: Wenn Individuen in die Gesellschaft und ihre digitale Netzwerke fliehen, weil sie es bei sich nicht aushalten, ist das nicht nur schlecht für die Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft. So entsteht jedenfalls keine Solidarität und Gemeinsinn. Dazu braucht es halbwegs intakte Einzelne. Gesellschaftsfähig in einem vernünftigen Sinne werden wir, wenn wir auch einen gewissen Selbstbezug haben, wenn die Leute auch wirklich nachdenken, auf ihre Gefühle hören und nicht immer nur draußen in der Meinungswolke sind. Man muss schon auch eine Einzelner sein, um Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen zu können. Besonders in Krisenzeiten. Und die haben wir ja zur Zeit.
Also ist es ein Missverständnis, dass die Vereinzelung der Interessen den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet?
Safranski: Ist der Zusammenhalt nicht viel mehr dadurch gefährdet, dass man in den vielen kleinen kollektivierten Blasen lebt? Dadurch, dass es in der Gesprächs- und Austauschfähigkeit große Defizite gibt? Mir scheint diese Klumpenbildung, die den freien Austausch behindert und gefährdet, das große Problem zu sein. Wir haben ja eben nicht eine Gesellschaft der Vereinzelten, sondern eine, in der sich Menschen in Gruppenidentitäten verstecken. Warum? Weil man von der Anerkennung wie von einer Droge abhängig ist. Zum „Einzeln sein“gehört aber auch, ein Stück weit auf Anerkennung verzichten können. Das gehört zur inneren Unabhängigkeit.
Was kann die Politik gegen diese problematische Klumpenbildung tun?
Safranski: Die politische Sphäre steckt selbst in diesem Prozess, sie ist Teil des Problems. Ich würde mir wünschen, dass in der Politik Sachgemäßheit wieder stärker wird als die medial erzeugte Personalisierung. Als vollkommen infantil kommt es mir vor, wie tagelang das „Lachen“von Laschet und anderes läppisches Zeug in den Medien breitgetreten wurde. Wenn man bedenkt, welche Probleme wir haben und auf uns zukommen – Klimawende, Siegeszug der Autoritären Systeme weltweit etc. –, wirkt die gegenwärtige politische Kultur hierzulande fast wie ein schlechter Witz. Einzeln sein ist in diesem Zusammenhang natürlich kein Rezept, aber immerhin der Versuch, ein wenig Ernst, ein wenig Erwachsensein zu gewinnen in der Besinnung auf sich selbst.
Welche der Fallbeispiele im Buch stehen für Sie besonders für eine gelingende Verbindung von Ich und Wir?
Safranski: Thoreau etwa, der sich in die Natur zurückzieht, um den Kopf freizubekommen: Er will herausbekommen, wo er steht, was es mit ihm auf sich hat. Und das tut er, um dann wieder sehr engagiert in seinem gesellschaftlichen Umfeld in Amerika zu wirken, beispielsweise bei der Bekämpfung der Sklaverei – ein eindrucksvolles Beispiel dafür, sich selbst und dadurch auch eine souveräne Position innerhalb der Gesellschaft zu finden. Oder Montaigne: Der schreibt zurückgezogen in seinem Turm Essays, nimmt am Gesellschaftlichen teil, aber achtet darauf, in den Fanatismus nicht hineingezogen zu werden, der während der Religionskriege in Frankreich herrschte. Es ist ja nicht selten, dass eine Gesellschaft erfasst wird von einem kollektiven Wahn, das wissen wir auch aus der Nazizeit – darum ist Montaignes Beispiel so wichtig. Und dann Hannah Arendt, die sagte: Das Nachdenken kann nur in der Einsamkeit geschehen, im Gespräch mit sich selbst, das nennt sie „Zwei in eins“– wenn man diese Selbstbegegnung nicht vollzieht, kann man schnell zum Opfer jedweder Torheit im gesellschaftlichen Umfeld werden, auch des Bösen …
Sie enden mit Ernst Jünger. Gibt es aktuellere, auch politische Figuren, deren „Einzeln sein“Sie beispielhaft finden?
Safranski: Willy Brandt ist für mich eine solche Figur. Wenn man sich seinen Lebensweg anschaut… – über ihn hätte ich auch noch schreiben können. Und noch einer fällt mir ein, einer der mit seiner unbeirrbaren Originalität immer etwas quer steht, ohne Querdenker zu sein: Peter Gauweiler, dessen Positionen immer eigenständig und erfrischend zu lesen sind, wenn man sie auch nicht alle teilen muss. Weder links noch rechts oder mal so mal so, ein Selbstdenker eben, ein Einzelner.
Wie frei ist man als Autor inmitten aktueller Debatten? Wäre das Buch nur mit Männern als Beispielen noch möglich? Es kommen nun ja erst spät Frauen vor und mit Hannah Arendt und Ricarda Huch auch „nur“zwei … Safranski: Man würde sich in die Tasche lügen, wenn man sagte, diese Überlegungen gibt es nicht. Aber man bemerkt schon auch die Gefahr der inneren Zensur, wenn ich zum Beispiel eine Art Frauenquote in mein Buch einführen wollte. Ich bin aber auch froh, den Titel „Einzeln sein“gefunden zu haben – weil er jenseits der Frage nach generischen Maskulinum oder Femininum liegt. „Der Einzelne“als Titel wäre heute – anders als vor zwanzig Jahren – womöglich ein Problem. Doch man darf sich auch nicht einschüchtern lassen. Ich halte es zum Beispiel in aller Regel weiter mit dem generischen Maskulinum, und ich verteufle nicht die, die das anders sehen, ich will nur nicht, dass mir das aufgeherrscht wird. Ich finde, da sollte jeder nach seiner Façon selig werden.
Aber Tendenzen zum moralisierenden Aufherrschen gibt es ja durchaus.
Safranski: Ja, diese Tendenz ist sehr stark. Die Moralisierung ist inzwischen bei der Grammatik angekommen. Aber vergessen wir nicht: Wer moralisch argumentiert, ist deshalb noch nicht moralisch. Wenn man einen Erich Kästner, dessen Bücher 1933 verbrannt wurden, nur unter Vorbehalt gelten lässt, weil er nicht ins Exil gegangen ist und darum eine verdächtige Figur sei – da muss man schon ziemlich ahnungslos sein in
Bezug auf den Nationalsozialismus. Das Problem beim Moralisieren ist die penetrante Selbstgerechtigkeit. Oft geht es in den Debatten nur darum, für sich selbst einen moralischen Mehrwert abzuschöpfen. Allerdings sollte man in den entsprechenden Situationen auch nicht zu weinerlich sein. Man muss auch einstecken können und nicht gleich jammern, so als sei kein offenes Wort mehr möglich.
Ihr Fokus im Buch liegt auch ausschließlich auf der westlichen Welt…
Safranski: Ja, in der westlichen Welt hat sich die Geburt des Individualismus ereignet, zuerst im alten Griechenland, dann in der Renaissance. Der Individualismus ist nicht eine Gegenbewegung gegen die Gesellschaft, sondern ist von ihr selbst hervorgebracht, im Westen jedenfalls. Übrigens: Fast die Hälfte meiner Bücher ist auch ins Chinesische übersetzt und dort erschienen. Ich bin nun wirklich gespannt, ob dieses Buch „Einzeln sein“auch in China erscheinen wird. Ich würde es eher bezweifeln. In China gilt das Einzeln sein nicht viel. Wie man überhaupt feststellen kann, dass Kulturen sich eben auch danach unterscheiden, ob sie mehr zum Wir-Pol oder dem Individualitäts-Pol tendieren.
Was führt Sie selbst auf die Spur zu sich? In einigen Beispielen im Buch spielt die Religion eine wichtige Rolle. Safranski: Ich würde von mir sagen, dass ich ein unterschwellig religiöser Mensch bin. Zwar nicht kirchlich gebunden, aber unzufrieden damit, dass das Metaphysische, das Sakrale und auch das Spirituelle im gesellschaftlichen Alltag und im allgemeinen Diskurs kaum eine Rolle spielt. Diese Eindimensionalität behagt mir nicht. Und da kommt nun wieder die Einzelheit ins Spiel. Ich muss mir eben einen ganz eigenen Zugang suchen, eine ganz eigene Sprache finden für solche Bereiche. Bei den sogenannten letzten Fragen muss man sich eben doch auf sich selbst verlassen können. Sonst ist man von allen guten Geistern verlassen und redet das ganze Zeug einfach mit, was so allgemein geredet wird. Was ich eigentlich denke, was ich eigentlich empfinde, merke ich erst, wenn ich auf mich selbst zurückkomme – als Einzelner.
Rüdiger Safranski, 76, ist Litera turwissenschaftler und Philosoph. Als Autor feierte er Erfolge mit Be trachtungen über die Romantik und die Zeit sowie mit Biografien etwa über Nietzsche, Goethe und Schiller. Sein neues Buch heißt „Ein zeln sein“(Hanser, 288 S., 26 ¤).
Die politische Kultur hierzulande wirkt fast wie ein schlechter Witz