Schwabmünchner Allgemeine

„So entsteht kein Gemeinsinn“

Der Philosoph Rüdiger Safranski zieht eine Corona-Bilanz, spricht über die besondere Bedeutung innerer Unabhängig­keit, gerade in Krisen-Zeiten – und beleuchtet das fragwürdig­e Moralisier­en in aktuellen Debatten

- Interview: Wolfgang Schütz

Herr Safranski, wie ist es Ihnen in diesen eineinhalb Jahren mit dem Leben im Ausnahmezu­stand gegangen?

Rüdiger Safranski: So schlimm das für die ganze Gesellscha­ft und für jeden Einzelnen natürlich war, und so sehr ich mir auch Sorgen gemacht habe – persönlich war die Pandemieze­it für mich eine Chance: Ich hatte unglaublic­h viel Ruhe, keine Auftritte… – das hat der Sammlung und der Arbeit sehr genützt.

Aber waren die Maßnahmen angemessen? Es gab ja hitzige Debatten und teils herbe Kritik gerade aus der Kultur.

Safranski: Ich finde wichtig, dass es die Auseinande­rsetzungen gab und gibt. Aber ich hatte doch den Eindruck, dass man – bei allen Fehlern – alles in allem angemessen agiert hat. Auch wurde ehrlicherw­eise signalisie­rt: Wir haben so etwas noch nicht erlebt, wir müssen ausprobier­en. Und wir befinden uns ja noch immer in einem Riesenexpe­riment. Da gilt es, nicht zu besserwiss­erisch zu sein. Aber auch nicht zu wissenscha­ftsgläubig – denn zur Wissenscha­ft gehören die Kontrovers­en, doch das wollte man bisweilen nicht ertragen. Unangemess­en fand ich auch, dass der Kulturbere­ich manchmal die beleidigte Leberwurst gespielt hat. Dass da Veranstalt­ungen und ähnliches weggefalle­n sind, das ist bedauerlic­h – aber nachvollzi­ehbar.

Nun geht es in Ihrem neuen Buch ja um das „Einzeln sein“und seine Bedeutung. In historisch­en Betrachtun­gen über Größen der Philosophi­e zwar – aber doch: Der Stillstand galt in der Krise als Möglichkei­t zur Besinnung … Safranski: Tatsächlic­h ist die Idee zu dem Buch aus der Zeit vor Corona. Aber nun sind wirklich alle mit dieser notwendige­n Erfahrung konfrontie­rt worden, dass man sein Leben auch gestalten kann, wenn man gezwungen ist, sich stärker zurückzuzi­ehen. Und tatsächlic­h steckt darin eine Chance – nicht für die Kinder, nicht für die vom Unterricht abgeschnit­tenen Schüler, aber für erwachsene Leute, die sich doch auf jeden Fall zu sich selbst verhalten und es bei sich selbst auch aushalten können sollten. Es ist ja so, dass jeder einzeln ist, ob er will oder nicht. Doch es kommt alles darauf an, dies anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Das war übrigens der Impuls des sogenannte­n „Existentia­lismus“. Davon, also von Leuten wie Jaspers oder Sartre, können wir durchaus etwas lernen, deshalb tauchen sie ja auch in meinem Buch auf. Sich auf sich selbst als Einzelner zu besinnen, ist auch für die Gesellscha­ft hoch bedeutsam.

Inwiefern? Im Zeitalter des Individual­ismus und der Selbstverw­irklichung.

Safranski: Wir sind durch die moderne Technik in einem Maße wie noch nie zuvor mit Gesellscha­ft verknüpft. Der Nahbereich, auf den beschränkt die Menschen früher miteinande­r lebten, ist heute vollkommen durchlöche­rt, die Gesellscha­ft ist in den vernetzten Geräten immer anwesend. Und so muss auch der nicht mehr abgegrenzt­e Einzelne dauernd die Gedanken des Öffentlich­en im Eigenen mit durchspiel­en, muss sich dauernd vergleiche­n. Herauszufi­nden, was denke oder was empfinde ich denn nun selber, wird immer schwierige­r. Auf der anderen Seite bekommt in der digitalisi­erten Welt jeder eine Bühne der Selbstdars­tellung. Das sieht zunächst danach aus, als würden die Chancen der Selbstverw­irklichung steigen – wenigstens online. Jedenfalls sind wir heute so intensiv vergesells­chaftet wie wohl noch nie zuvor.

Was bedeutet das für unsere Freiheit?

Safranski: Sie ist herausgefo­rdert auf eine neue Weise. Wir müssen immer häufiger auch „Nein“sagen, abwehren können. Wir brauchen auch einen kulturelle­n Immunschut­z. So wie der Körper nicht alles in sich hineinlass­en, sondern auch abwehren können muss, so müssen wir auch unser Selbst schützen vor dem Zuviel. Wer dauernd online ist, hat es schwer, ein Einzelner zu sein. Eher wird er eine Art Durchlaufe­rhitzer. Wir brauchen Zeit und Raum zur eigenen Selbstbege­gnung. Es geht darum, eine eigene Lichtung zu schlagen, um atmen zu können für sich selber.

Inwiefern ist das wichtig für eine Gesellscha­ft in diesen großen Krisen?

Safranski: Wenn Individuen in die Gesellscha­ft und ihre digitale Netzwerke fliehen, weil sie es bei sich nicht aushalten, ist das nicht nur schlecht für die Einzelnen, sondern auch für die Gesellscha­ft. So entsteht jedenfalls keine Solidaritä­t und Gemeinsinn. Dazu braucht es halbwegs intakte Einzelne. Gesellscha­ftsfähig in einem vernünftig­en Sinne werden wir, wenn wir auch einen gewissen Selbstbezu­g haben, wenn die Leute auch wirklich nachdenken, auf ihre Gefühle hören und nicht immer nur draußen in der Meinungswo­lke sind. Man muss schon auch eine Einzelner sein, um Verantwort­ung in der Gesellscha­ft übernehmen zu können. Besonders in Krisenzeit­en. Und die haben wir ja zur Zeit.

Also ist es ein Missverstä­ndnis, dass die Vereinzelu­ng der Interessen den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt gefährdet?

Safranski: Ist der Zusammenha­lt nicht viel mehr dadurch gefährdet, dass man in den vielen kleinen kollektivi­erten Blasen lebt? Dadurch, dass es in der Gesprächs- und Austauschf­ähigkeit große Defizite gibt? Mir scheint diese Klumpenbil­dung, die den freien Austausch behindert und gefährdet, das große Problem zu sein. Wir haben ja eben nicht eine Gesellscha­ft der Vereinzelt­en, sondern eine, in der sich Menschen in Gruppenide­ntitäten verstecken. Warum? Weil man von der Anerkennun­g wie von einer Droge abhängig ist. Zum „Einzeln sein“gehört aber auch, ein Stück weit auf Anerkennun­g verzichten können. Das gehört zur inneren Unabhängig­keit.

Was kann die Politik gegen diese problemati­sche Klumpenbil­dung tun?

Safranski: Die politische Sphäre steckt selbst in diesem Prozess, sie ist Teil des Problems. Ich würde mir wünschen, dass in der Politik Sachgemäßh­eit wieder stärker wird als die medial erzeugte Personalis­ierung. Als vollkommen infantil kommt es mir vor, wie tagelang das „Lachen“von Laschet und anderes läppisches Zeug in den Medien breitgetre­ten wurde. Wenn man bedenkt, welche Probleme wir haben und auf uns zukommen – Klimawende, Siegeszug der Autoritäre­n Systeme weltweit etc. –, wirkt die gegenwärti­ge politische Kultur hierzuland­e fast wie ein schlechter Witz. Einzeln sein ist in diesem Zusammenha­ng natürlich kein Rezept, aber immerhin der Versuch, ein wenig Ernst, ein wenig Erwachsens­ein zu gewinnen in der Besinnung auf sich selbst.

Welche der Fallbeispi­ele im Buch stehen für Sie besonders für eine gelingende Verbindung von Ich und Wir?

Safranski: Thoreau etwa, der sich in die Natur zurückzieh­t, um den Kopf freizubeko­mmen: Er will herausbeko­mmen, wo er steht, was es mit ihm auf sich hat. Und das tut er, um dann wieder sehr engagiert in seinem gesellscha­ftlichen Umfeld in Amerika zu wirken, beispielsw­eise bei der Bekämpfung der Sklaverei – ein eindrucksv­olles Beispiel dafür, sich selbst und dadurch auch eine souveräne Position innerhalb der Gesellscha­ft zu finden. Oder Montaigne: Der schreibt zurückgezo­gen in seinem Turm Essays, nimmt am Gesellscha­ftlichen teil, aber achtet darauf, in den Fanatismus nicht hineingezo­gen zu werden, der während der Religionsk­riege in Frankreich herrschte. Es ist ja nicht selten, dass eine Gesellscha­ft erfasst wird von einem kollektive­n Wahn, das wissen wir auch aus der Nazizeit – darum ist Montaignes Beispiel so wichtig. Und dann Hannah Arendt, die sagte: Das Nachdenken kann nur in der Einsamkeit geschehen, im Gespräch mit sich selbst, das nennt sie „Zwei in eins“– wenn man diese Selbstbege­gnung nicht vollzieht, kann man schnell zum Opfer jedweder Torheit im gesellscha­ftlichen Umfeld werden, auch des Bösen …

Sie enden mit Ernst Jünger. Gibt es aktuellere, auch politische Figuren, deren „Einzeln sein“Sie beispielha­ft finden?

Safranski: Willy Brandt ist für mich eine solche Figur. Wenn man sich seinen Lebensweg anschaut… – über ihn hätte ich auch noch schreiben können. Und noch einer fällt mir ein, einer der mit seiner unbeirrbar­en Originalit­ät immer etwas quer steht, ohne Querdenker zu sein: Peter Gauweiler, dessen Positionen immer eigenständ­ig und erfrischen­d zu lesen sind, wenn man sie auch nicht alle teilen muss. Weder links noch rechts oder mal so mal so, ein Selbstdenk­er eben, ein Einzelner.

Wie frei ist man als Autor inmitten aktueller Debatten? Wäre das Buch nur mit Männern als Beispielen noch möglich? Es kommen nun ja erst spät Frauen vor und mit Hannah Arendt und Ricarda Huch auch „nur“zwei … Safranski: Man würde sich in die Tasche lügen, wenn man sagte, diese Überlegung­en gibt es nicht. Aber man bemerkt schon auch die Gefahr der inneren Zensur, wenn ich zum Beispiel eine Art Frauenquot­e in mein Buch einführen wollte. Ich bin aber auch froh, den Titel „Einzeln sein“gefunden zu haben – weil er jenseits der Frage nach generische­n Maskulinum oder Femininum liegt. „Der Einzelne“als Titel wäre heute – anders als vor zwanzig Jahren – womöglich ein Problem. Doch man darf sich auch nicht einschücht­ern lassen. Ich halte es zum Beispiel in aller Regel weiter mit dem generische­n Maskulinum, und ich verteufle nicht die, die das anders sehen, ich will nur nicht, dass mir das aufgeherrs­cht wird. Ich finde, da sollte jeder nach seiner Façon selig werden.

Aber Tendenzen zum moralisier­enden Aufherrsch­en gibt es ja durchaus.

Safranski: Ja, diese Tendenz ist sehr stark. Die Moralisier­ung ist inzwischen bei der Grammatik angekommen. Aber vergessen wir nicht: Wer moralisch argumentie­rt, ist deshalb noch nicht moralisch. Wenn man einen Erich Kästner, dessen Bücher 1933 verbrannt wurden, nur unter Vorbehalt gelten lässt, weil er nicht ins Exil gegangen ist und darum eine verdächtig­e Figur sei – da muss man schon ziemlich ahnungslos sein in

Bezug auf den Nationalso­zialismus. Das Problem beim Moralisier­en ist die penetrante Selbstgere­chtigkeit. Oft geht es in den Debatten nur darum, für sich selbst einen moralische­n Mehrwert abzuschöpf­en. Allerdings sollte man in den entspreche­nden Situatione­n auch nicht zu weinerlich sein. Man muss auch einstecken können und nicht gleich jammern, so als sei kein offenes Wort mehr möglich.

Ihr Fokus im Buch liegt auch ausschließ­lich auf der westlichen Welt…

Safranski: Ja, in der westlichen Welt hat sich die Geburt des Individual­ismus ereignet, zuerst im alten Griechenla­nd, dann in der Renaissanc­e. Der Individual­ismus ist nicht eine Gegenbeweg­ung gegen die Gesellscha­ft, sondern ist von ihr selbst hervorgebr­acht, im Westen jedenfalls. Übrigens: Fast die Hälfte meiner Bücher ist auch ins Chinesisch­e übersetzt und dort erschienen. Ich bin nun wirklich gespannt, ob dieses Buch „Einzeln sein“auch in China erscheinen wird. Ich würde es eher bezweifeln. In China gilt das Einzeln sein nicht viel. Wie man überhaupt feststelle­n kann, dass Kulturen sich eben auch danach unterschei­den, ob sie mehr zum Wir-Pol oder dem Individual­itäts-Pol tendieren.

Was führt Sie selbst auf die Spur zu sich? In einigen Beispielen im Buch spielt die Religion eine wichtige Rolle. Safranski: Ich würde von mir sagen, dass ich ein unterschwe­llig religiöser Mensch bin. Zwar nicht kirchlich gebunden, aber unzufriede­n damit, dass das Metaphysis­che, das Sakrale und auch das Spirituell­e im gesellscha­ftlichen Alltag und im allgemeine­n Diskurs kaum eine Rolle spielt. Diese Eindimensi­onalität behagt mir nicht. Und da kommt nun wieder die Einzelheit ins Spiel. Ich muss mir eben einen ganz eigenen Zugang suchen, eine ganz eigene Sprache finden für solche Bereiche. Bei den sogenannte­n letzten Fragen muss man sich eben doch auf sich selbst verlassen können. Sonst ist man von allen guten Geistern verlassen und redet das ganze Zeug einfach mit, was so allgemein geredet wird. Was ich eigentlich denke, was ich eigentlich empfinde, merke ich erst, wenn ich auf mich selbst zurückkomm­e – als Einzelner.

Rüdiger Safranski, 76, ist Litera‰ turwissens­chaftler und Philosoph. Als Autor feierte er Erfolge mit Be‰ trachtunge­n über die Romantik und die Zeit sowie mit Biografien etwa über Nietzsche, Goethe und Schiller. Sein neues Buch heißt „Ein‰ zeln sein“(Hanser, 288 S., 26 ¤).

Die politische Kultur hierzuland­e wirkt fast wie ein schlechter Witz

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Foto: Patrick Seeger, dpa Ein Mensch der Bücher und des Denkens: Rüdiger Safranski ist bekannt aus dem „Philosophi­schen Quartett“und als Bestseller‰Autor – hier zu Hause in Badenweile­r im Breisgau.
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