Schwabmünchner Allgemeine

„Jede Minute kann man erschossen werden“

Verstörend­e Bilder über die Zustände in Kabul gehen in diesen Tagen um die Welt. Zwei Männer aus der Region erzählen, welchen Schrecken sie in der Stadt und am Flughafen erlebt haben – und immer noch erleben

- VON MARIA HEINRICH UND MARCO KEITEL

Augsburg/Kabul Es sind schlimme Bilder aus Afghanista­n, die seit Tagen um die Welt gehen. Szenen von Menschen, die in Panik aus dem Land fliehen. Die in Angst und Verzweiflu­ng versuchen, sich außer Landes zu retten. Die alles Hab und Gut in der Heimat zurücklass­en, um der radikal-islamistis­chen Taliban zu entkommen. Fotos und Videos, die im Internet auftauchen, zeigen chaotische Zustände. Zustände, die Karim aus Augsburg ertragen muss.

Die Stimme des jungen Mannes wird leise, wenn er erzählt, was sich am Flughafen in Kabul abspielt. „Jede Minute kann man erschossen werden“, sagt er am Telefon. Afghanisch­e Sicherheit­skräfte und Soldaten und Soldatinne­n aus dem Westen, vor allem aus den USA, schießen in die Luft, um für Ordnung zu sorgen. „Ich habe gesehen, wie jemand am Gate erschossen wurde.“

Karim ist 19 Jahre alt und lebt eigentlich in Augsburg. Er heißt in Wirklichke­it anders. Sein Name ist der Redaktion bekannt, wir nennen ihn jedoch nicht, um den jungen Mann zu schützen. Nach Augsburg ist er mit zwölf Jahren aus Afghanista­n geflohen. Er hat sich gut eingelebt in der Region, spielt seit Jahren bei einem Verein aus dem Landkreis Augsburg Fußball. Bis 2023 hat er einen Aufenthalt­stitel. Im Sommer wollte er in Afghanista­n eigentlich nur seine Familie besuchen. Dann kamen die Taliban.

Nun muss er erneut aus dem Land fliehen, aus dem er schon einmal geflohen ist. Die meiste Zeit versteckt er sich mit Familienan­gehörigen in einer Wohnung in Kabul. Nach draußen geht er nur, um zum Flughafen zu fahren. Seit vergangene­n Montag macht er das jeden Tag. Immer getrieben von der Hoffnung: Vielleicht ist heute ein Platz in einem Flieger frei. Bisher ohne Erfolg, die Fahrt zum Flughafen ist gefährlich, die Taliban haben in der Stadt Kontrollst­ellen errichtet.

Noch gefährlich­er ist es direkt am Flughafen. Karim schildert furchtbare Szenen. Wenn die Soldaten und Soldatinne­n in die Luft schießen oder eine Rauchgrana­te werfen, rennen alle los. Wer hinfällt, wird zertrampel­t. „Man hat keine Chance, wieder aufzustehe­n.“Karim wurde selbst verletzt, hat Tritte in den Rücken bekommen. Bisher kam er nie an den Soldaten vorbei, die die Eingänge des Flughafens sichern: „Die haben nicht mit mir geredet. Ich habe gesagt, ich komme aus Deutschlan­d und will rein. Einer hat gelacht und in die Luft geschossen.“Dabei hat das Auswärtige Amt ihn am Dienstag dazu aufgeforde­rt einer Whatsapp-Gruppe beizutrete­n, um seine Ausreise zu organisier­en. Doch er hat bisher keine Einladung bekommen, obwohl er dem Amt verschiede­ne Nummern mitgeteilt hat, unter denen er erreichbar ist. Jeden Tag versucht er, Kontakt aufzunehme­n, sobald er am Flughafen ist. Er schreibt: „Vielen Dank für Ihre Bemühungen. Bitte, bitte lassen Sie uns hier nicht draußen stehen.“Doch meistens kommt keine Reaktion.

Die Lage wird währenddes­sen immer gefährlich­er: Am Donnerstag haben die Taliban die Wohnung durchsucht, in der Karim sich mit seiner Familie versteckt. Das hätte böse enden können, denn sein Schwager arbeitete für die Sicherheit­sbehörde des Landes und trainierte in den USA mit dem FBI. „Wir verstecken ihn. Zum Glück wussten sie nicht, wer er ist“, sagt Karim. Nur 50 Meter von seiner Wohnung entfernt sind einige Taliban eingezogen. „Die haben einfach Häuser genommen und leben jetzt dort.“Karim ist enttäuscht von der afghanisch­en Armee und der Polizei. „Die sind alle weggelaufe­n. Die haben uns verkauft und das war’s.“

Weitaus mehr Glück als Karim aus Augsburg, hatten Helma und Georg Dechentrei­ter, die Anfang August nach Kabul gereist waren. Beide engagieren sich seit Jahrzehnte­n in der Entwicklun­gshilfe in Afghanista­n, seit fast zwanzig Jahren betreiben sie eine gemeinnütz­ige Stiftung zur Unterstütz­ung des Irene-Salimi-Kinderhosp­itals in Kabul. Am Dienstag wurden sie von der Bundeswehr nach Usbekistan gebracht, am Mittwoch landeten sie in Deutschlan­d. Doch dass es wirklich so weit kommt, stand auch für das deutsche Ehepaar tagelang nicht fest.

Am allerschli­mmsten sei die Warterei gewesen, erzählt Georg Dechentrei­ter, der in Donauwörth geboren wurde und viele Jahre in Asbach-Bäumenheim lebte. „Wir waren sehr angespannt. Jede Sekunde erwarteten wir einen Anruf, dass wir uns zum Meeting-Point aufmachen sollten“, schildert er. „Damit wir ein Flugzeug erwischen.“

Dechentrei­ter kennt das Land am Hindukusch sehr gut, wie er sagt, seit 1995 reist er regelmäßig nach Afghanista­n. „Ich habe die Zeit der Taliban von Anfang bis Ende mitgemacht“, erzählt der 62-Jährige am Telefon. „Wir können die Lage dort deshalb gut einschätze­n. Für uns bestand zu keiner Zeit Gefahr, da sind wir uns sicher.“

Mulmig wurde ihm allerdings zumute, als der zivile Luftverkeh­r vergangene Woche eingestell­t wurde. „Ich hatte nicht genügend Medikament­e dabei, deshalb bestand die

Möglichkei­t nicht, länger zu bleiben und zu warten, bis sich die Situation verbessert.“Doch seine Bedenken galten vor allem seinen Patienten und Patientinn­en sowie den Mitarbeite­rn und Mitarbeite­rinnen des Hospitals. Besonders am Wochenende und in den Tagen zuvor sei die Stimmung in der Stadt bedrohlich gewesen, als die Taliban in den Nachbarpro­vinzen aufmarschi­erten. „Die Leute hatten Angst, keiner wusste, was passiert. Kaum jemand hat sein Zuhause verlassen.“Zweimal hatte Dechentrei­ter selbst mit den Taliban zu tun. Einmal brachte ein Mann der Terrororga­nisation seinen Sohn, der von einem Dach gefallen war, in das Hospital. Das andere Mal trafen sie auf einen Taliban entlang einer befahrenen Straße. „Für uns ist immer alles ruhig abgelaufen“, erzählt er. Gleiches gilt bisher auch für seine Mitarbeite­r und Mitarbeite­rinnen, und auch für die Patienten und Patientinn­en. „Alle dürfen zur Arbeit kommen, auch die Frauen, und auch die Kinder. Keiner wurde bisher aufgehalte­n oder belästigt.“

Der Weg zum Flughafen war dennoch aufregend, beschreibt Dechentrei­ter. Er und seine Frau waren beim Auswärtige­n Amt für die Evakuierun­g registrier­t, doch fast drei Tage mussten sie warten, bis sie die Informatio­n bekamen, wann es für sie losgeht. „Wir hörten die Flugzeuge der Amerikaner über unseren Köpfen ein- und ausfliegen.

Und nachts die Hubschraub­er, die die Beamten der deutschen Botschaft abholten. Die Ungewisshe­it war zermürbend.“

Als der Anruf kam, ließen Georg und Helma Dechentrei­ter alles stehen und liegen und ließen sich von zwei Ärzten zum Flughafen fahren. Wie Karim aus Augsburg beschreibt der 62-Jährige das, was er dort sah, als dramatisch. „Dort waren so so viele Menschen, die aus der Stadt raus wollten. Und immer wieder fielen Warnschüss­e, um die Menschen in Schach zu halten.“Stundenlan­g warteten sie in der Sonne, bis sie am Abend gemeinsam mit 123 anderen Passagiere­n über die Rampe des A400M einsteigen konnten.

Wann Helma und Georg Dechentrei­ter wieder zurück nach Kabul fliegen können, ist aktuell alles andere als planbar. „Erst wenn es wieder Flüge gibt und die Lage sich stabilisie­rt hat, wäre das wieder denkbar.“Vor allem zum Wohl der Kinder hofft er jetzt, dass es in Afghanista­n friedlich bleibt. „Die Taliban sind keine homogene Gruppe“, erklärt er. „Wir hoffen darauf, dass sich die moderaten Kräfte durchsetze­n können und die fundamenta­listischen nicht die Oberhand bekommen.“Für ihn und seine Frau würde vor allem zählen, dass die kranken Kinder weiterhin behandelt werden können. „Die politische Haltung der Eltern ist uns erst mal egal. Wir hoffen einfach jetzt das Beste für Afghanista­n.“

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Foto: ap/dpa Viele Afghanen und Afghaninne­n harren in diesen Tagen am Flughafen von Kabul aus, in der Hoffnung, vielleicht doch einen Flug aus dem Land zu bekommen, in dem nun die Taliban die Macht an sich gerissen haben.
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G. Dechentrei­ter

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