Großes Erzählkino wie selten
„Doch das Böse gibt es nicht“: Plädoyer gegen die Todesstrafe
Die Ampel hat längst auf grün geschaltet, aber Heshmat (Ehsan Mirhosseini) fährt nicht los. Sein Auto steht einsam auf der Straße, während der Fahrer stur geradeaus starrt. In den dreißig Filmminuten davor hat das Publikum Heshmat als fürsorglichen Familienvater kennengelernt, der morgens früh von der Nachtschicht nach Hause fährt, am Mittag die Frau von der Arbeit abholt, liebevoll mit dem leicht verzogenen Töchterchen und der gebrechlichen Großmutter umgeht. Mit seiner Familie führt er ein ausgefülltes, bürgerliches Leben ohne finanzielle Sorgen. Einmal im Monat bekommt er eine Sonderration Reis. Erst am Ende der ersten Episode von Mohammad Rasoulofs „Doch das Böse gibt es nicht“versteht man, wofür die Naturalienprämie ausgegeben wird. Heshmat kocht in seinem Büro einen Tee, während fünf Leuchten neben dem Sichtfenster in der Wand rot blinken. Dann wechselt auch hier das Licht auf grün und nach einem Kontrollblick drückt Heshmat den Knopf. Das nächste Bild ist ein Schock. Mit dem Knopfdruck fällt die Klappe nach unten und die Beine von fünf Gehängten zappeln in der Luft.
Mit „Doch das Böse gibt es nicht“, der bei der Berlinale 2020 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, legt der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof ein entschiedenes Plädoyer gegen die Todesstrafe vor, der in den letzten sechs Jahren in seinem Heimatland weit über 2000 Menschen zum Opfer fielen. In vier einzelnen Geschichten widmet sich Rasoulof denjenigen, die die Hinrichtungen der Gefangenen vollstrecken.
In vielen anderen Gefängnissen sind die Hinrichtungen nicht automatisiert. Hier müssen junge Wehrdienstleistende den Hocker unter den Füßen der Verurteilten wegziehen. Ein neuer Rekrut kann das mit seinem Gewissen nicht vereinbaren und bricht mit Waffengewalt aus dem Todestrakt aus. Ein anderer lässt sich darauf ein. Schließlich gibt es nach jeder Hinrichtung drei Tage Urlaub und er möchte seiner Freundin zum Geburtstag einen Heiratsantrag machen.
Äußerst sensibel tastet Rasoulof das moralische Feld um die Todesstrafe ab. Ganz eng verzahnt er das Private mit dem Politischen und zeigt, wie die Schuldverstrickungen das bürgerliche Familienleben, die romantische Liebe in ländlicher Idylle oder das Verhältnis zwischen Vater und Tochter nachhaltig vergiften. Eindringlich verdeutlicht der Film, dass es in einem autoritären Regime keine freien Entscheidungen geben kann und welche Konsequenzen das für die Betroffenen hat. Rasoulof, der seit der Cannes-Premiere seines Films „A Man of Integrity“(2017) Ausreiseverbot hat und zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde, hat den Film im Iran unter dem Radar der Zensurbehörden realisiert. Umso mehr überrascht die visuelle Brillanz und die schauspielerische Präsenz des herausragenden Ensembles – großes, politisches Erzählkino, wie man es im Kino nur noch selten zu sehen bekommt.