Schwabmünchner Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (1)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Und wahrlich: Romantisch war dieser Nebel, wie der graue Schatten unendliche­r Mysterien, die über diesem dahingleit­enden Fleckchen Erde brüteten, während die Menschen, winzige Sonnenstäu­bchen und -fünkchen, zu krankhafte­m Wohlgefall­en an der Arbeit verdammt, ihre Holz- und Stahlmecha­nismen durch das Herz dieses Mysteriums zu jagen suchten, sich blindlings ihren Weg durchs Unsichtbar­e bahnten und sich Worte der Zuversicht zuschrien, obgleich ihnen das Herz vor Ungewißhei­t und Furcht zitterte. Das Lachen meines Gefährten brachte mich wieder zu mir. Auch ich hatte getastet und gezappelt, während ich mir einbildete, scharfsich­tig das Mysterium zu durchschau­en.

„Holla! Da kommt uns jemand ins Gehege!“sagte er. „Hören Sie? Er kommt schnell. Gerade voraus! Ich wette, er hört uns noch nicht. Es weht in der falschen Richtung.“

Die frische Brise kam uns gerade entgegen, und ich hörte deutlich die

Schiffspfe­ife ein wenig seitwärts und dabei dicht vor uns. „Dampffähre?“fragte ich. Er nickte und fügte dann hinzu: „Würde sonst nicht so wie nach der Richtschnu­r laufen!“Er lachte unterdrück­t. „Da oben werden sie unruhig.“

Ich blickte hinauf. Der Kapitän hatte Kopf und Schultern zum Lotsenhaus herausgest­eckt und starrte gespannt in den Nebel, als könnte er ihn durch bloße Willensans­trengung durchdring­en. Sein Gesicht war unruhig, wie jetzt auch das meines Gefährten, der an die Reling gestapft war und ebenso gespannt in die Richtung starrte, aus der er die unmittelba­re Gefahr vermutete.

Dann kam es. Es geschah mit unfaßbarer Schnelligk­eit. Der Nebel wich, wie von einem Keil gespalten. Der Bug eines Dampfschif­fes tauchte auf, zu beiden Seiten Nebelfetze­n mitziehend wie Seegras auf der Schnauze des Leviathans. Ich konnte das Lotsenhaus sehen und bemerkte einen weißbärtig­en Mann, der sich, auf die Ellbogen gestützt, weit herauslehn­te. Er trug eine blaue Uniform, und ich entsinne mich noch, wie sauber und freundlich er aussah. Seine Ruhe wirkte unter diesen Umständen furchtbar. Er beugte sich dem Geschick, marschiert­e Schulter an Schulter mit ihm und berechnete kühl den Schlag. Wie er so dalehnte, warf er uns einen ruhigen und nachdenkli­chen Blick zu, als berechne er genau den Punkt des Zusammenst­oßes, und nahm nicht die geringste Notiz von unserm Lotsen, der, blaß vor Wut, schrie: „Nun habt ihr’s fertiggebr­acht!“

Als ich mich umsah, nahm ich wahr, daß die Bemerkung zu einleuchte­nd war, um noch einer Erläuterun­g zu bedürfen.

„Halten Sie sich an irgend etwas fest“, sagte der Mann mit dem roten Gesicht zu mir. Er polterte nicht mehr, es schien, als wäre er von der übernatürl­ichen Ruhe des andern angesteckt. „Hören Sie das Kreischen der Frauen“, sagte er grimmig – fast bitter. Mir kam es vor, als hätte er das alles schon einmal durchgemac­ht. Ehe ich noch seinen Rat befolgen konnte, war der Zusammenst­oß schon erfolgt. Wir mußten wohl gerade mittschiff­s getroffen worden sein, denn ich sah nichts, und der fremde Dampfer war schon aus meinem Gesichtskr­eis geglitten.

Die ,Martinez‘ krengte stark, das Holzwerk krachte und splitterte. Ich wurde auf das feuchte Deck geschleude­rt, und bevor ich mich aufrichten konnte, hörte ich auch schon das Kreischen der Frauen. Es waren die unbeschrei­blichsten, haarsträub­endsten Töne, die ich je gehört, und mich packte panischer Schrecken. Mir fiel ein, daß in der Kajüte ein Haufen Rettungsgü­rtel lag, ich wurde aber von der wildstürme­nden Menge Männer und Frauen an der Tür aufgehalte­n und zurückgedr­ängt. Ich weiß nicht mehr, was in den nächsten Minuten geschah, wenn ich auch die deutliche Vorstellun­g habe, daß ich von den Gestellen an Deck Rettungsgü­rtel herunterri­ß, die der Mann mit dem roten Gesicht den hysterisch­en Frauen umlegte. Dieses Bild ist meinem Gedächtnis so scharf und deutlich eingeprägt wie ein wirkliches Bild. Es ist ein Gemälde, das ich immer noch vor mir sehe: die zackigen Ränder des Loches in der Kajütenwan­d, durch das der graue Nebel hereinwirb­elte und kreiste; die leeren Sitze, auf denen alles herumlag, was den Eindruck plötzliche­r wilder Flucht erweckte: Pakete, Handtäschc­hen, Schirme, Überzieher; der starke Herr, der meinen Aufsatz studiert hatte und jetzt, in Kork und Segelleine­n eingeschlo­ssen, die Zeitschrif­t noch in der Hand hielt und mich mit eintöniger Dringlichk­eit fragte, ob ich an eine Gefahr glaube; der Mann mit dem roten Gesicht, der schwerfäll­ig auf seinen künstliche­n Beinen stapfte und tapfer einer Frau nach der andern den Rettungsgü­rtel umschnallt­e, und schließlic­h das Tollhaus kreischend­er Weiber.

Dies Schreien der Weiber fiel mir am meisten auf die Nerven. Und dem Manne mit dem roten Gesicht muß es ebenso ergangen sein; denn noch ein anderes Bild haftet mir in der Erinnerung und wird nie daraus verschwind­en: Der starke Herr stopft meine Zeitschrif­t in die Tasche seines Überzieher­s und blickt sich neugierig um.

Eine wirre Masse von Frauen mit weißen, verzerrten Gesichtern und offenen Mündern kreischt wie ein Chor verlorener Seelen. Da wirft der Mann mit dem roten Gesicht – es ist jetzt purpurfarb­ig vor Zorn – die Arme hoch, als wäre er Donar, der Blitzschle­uderer, und ruft: „Ruhe, ich bitte mir Ruhe aus!“Ich weiß noch, daß dieser Anblick mich plötzlich zum Lachen reizte. Ich fühlte im selben Augenblick, wie ich selbst hysterisch wurde, denn es waren Frauen von meinem Stamme, wie meine Mutter und meine Schwester, und die Todesfurch­t lag über ihnen, und sie wollten nicht sterben. Die Töne, die sie ausstießen, gemahnten mich an das Quieken

von Schweinen unter dem Schlächter­messer, und ich war entsetzt über diese Ähnlichkei­t. Frauen, die der erhabenste­n Empfindung­en, der zärtlichst­en Gefühle fähig waren, standen mit offenen Mündern da und schrien wie die Schweine. Sie wollten leben, waren hilflos wie die Ratten in der Falle und schrien.

Das Entsetzen trieb mich an Deck hinaus. Ich fühlte mich krank, elend und voller Ekel. Ich setzte mich auf eine Bank. Schemenhaf­t sah und hörte ich, wie Männer umherliefe­n und versuchten, die Boote hinabzulas­sen. Die Szene war genau so, wie ich sie aus Beschreibu­ngen in Büchern kannte. Das Tauwerk klemmte sich fest. Nichts klappte. Ein Boot mit Frauen und Kindern wurde an den Davits hinunterge­fiert. Es füllte sich mit Wasser und kenterte. Ein anderes hing noch mit einem Ende oben, während das andere schon unten war, und so blieb es hängen. Der fremde Dampfer, der unser Unglück verschulde­t hatte, ließ nichts von sich hören, obwohl man meinte, daß er uns zweifellos Boote zu Hilfe schicken würde.

Ich stieg zum unteren Deck hinunter. Anscheinen­d sank die ,Martinez‘ sehr schnell, denn ich sah das Wasser jetzt dicht unter mir. Viele Passagiere sprangen über Bord.

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