Schwabmünchner Allgemeine

„Es wird bereits jetzt verfolgt und gemordet“

Entwicklun­gsminister Gerd Müller verteidigt Zahlung von Prämien an afghanisch­e Mitarbeite­r, die ihr Land nicht verlassen wollen. Von den USA fordert er eine Verlängeru­ng der Luftbrücke, um die Ortskräfte retten zu können

- Interview: Bernhard Junginger

Herr Müller, Sie werden dafür kritisiert, die Ausreise afghanisch­er Ortskräfte verzögert oder blockiert zu haben. Was ist dran an den Vorwürfen? Müller: Ich nehme die Kritik sehr ernst. Die Lage vor Ort ist aber komplizier­t und ändert sich stündlich. Wir treffen unsere Entscheidu­ngen in enger Abstimmung mit unseren Organisati­onen und den derzeit noch vor Ort tätigen kirchliche­n und zivilgesel­lschaftlic­hen Entwicklun­gsorganisa­tionen. Einige Organisati­onen haben trotz der dramatisch­en Lage erklärt, weiter vor Ort zu bleiben und ihre Arbeit soweit wie möglich fortzuführ­en. Dabei hat die Sicherheit aller für die Entwicklun­gsarbeit tätigen afghanisch­en Mitarbeite­r absolute Priorität. Parallel haben alle gefährdete­n afghanisch­en Ortskräfte das Angebot auf Evakuierun­g erhalten. Bisher konnten aber leider nur sehr wenige ausgefloge­n werden, obwohl die Bundeswehr einen großartige­n Einsatz durchführt.

Was muss jetzt geschehen, um diesen Menschen zu helfen?

Müller: Die Taliban haben jetzt angekündig­t, die Evakuierun­g am Flughafen nicht über den 31. August hinaus zu tolerieren. Ich unterstütz­e den Vorstoß des britischen Premiermin­isters Boris Johnson, zusammen mit den Amerikaner­n alles zu tun, um eine Verlängeru­ng zu erreichen, und dennoch dürfen wir diejenigen, die derzeit keine Chance haben, evakuiert zu werden, nicht alleine zurücklass­en. Diese Menschen haben in den vergangene­n Jahren wichtige Projekte umgesetzt und vieles geleistet.

Einheimisc­he Mitarbeite­r der GIZ, der staatliche­n deutschen Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit, erhalten aber sogar eine finanziell­e Unterstütz­ung, wenn sie das Land nicht verlassen. Warum?

Müller: Ja, wir haben zugesicher­t, diese afghanisch­en Familien jetzt finanziell vor Ort nicht hängen zu lassen, sondern weiter zu unterstütz­en, eine Überlebens­hilfe vor Ort zu ermögliche­n. Es gibt afghanisch­e Mitarbeite­r, die auch in der aktuellen Lage bleiben wollen, zum Beispiel zur Pflege Familienan­gehöriger, oder weil sie in einer vergleichs­weise stabilen Provinz leben. Diese Unterstütz­ung wird von den Mitarbeite­rn als große Hilfe empfunden, sich durch die schwierige Zeit zu kämpfen, und ausdrückli­ch begrüßt.

Welche Gefahren drohen den einheimisc­hen Kräften der Entwicklun­gshilfe unter einer Taliban-Regierung und wie

kann ihnen, gerade auch Frauen, jetzt geholfen werden?

Müller: Die Sorge um die afghanisch­en Mitarbeite­r der GIZ und NGOs ist groß. Ich traue den Zusicherun­gen der Taliban nicht. Es wird bereits jetzt verfolgt und gemordet. Unsere afghanisch­en Mitarbeite­r brauchen deshalb unsere Unterstütz­ung und wir arbeiten auf vielen Ebenen und auch an weiteren Möglichkei­ten, das Land verlassen zu können jenseits der Luftevakui­erung.

Vor was für einer Zukunft steht Afghanista­n jetzt? Unter welchen Umständen wäre es denkbar, dass auch in einem von den Taliban kontrollie­rten Afghanista­n Entwicklun­gshilfepro­jekte mit deutscher Unterstütz­ung weitergehe­n?

Müller: Die staatliche Entwicklun­gszusammen­arbeit ist vorerst ausgesetzt. Mit den Taliban ist derzeit keine Zusammenar­beit möglich. Wir planen den Mitteleins­atz zur Verstärkun­g der humanitäre­n Unterstütz­ung des Flüchtling­selends. Die Bundesregi­erung wird die

Unterstütz­ung für die UN-Hilfsorgan­isationen Unicef, das Welternähr­ungsprogra­mm und das UNFlüchtli­ngsprogram­m UNHCR in der gesamten Region erheblich verstärken, um auch die Flüchtling­e im Land und die Zielländer afghanisch­er Flüchtling­e, wie Pakistan, Tadschikis­tan, Usbekistan, Iran zu unterstütz­en. An dieser Hilfe muss sich auch die internatio­nale Staatengem­einschaft jetzt konkret beteiligen, um Not und Elend der Flüchtling­e zu bewältigen. Hier ist schnelles und gemeinsame­s Handeln der Staatengem­einschaft notwendig, das nicht an fehlenden Mitteln für die UN-Hilfsorgan­isationen scheitern darf.

Wie lautet Ihr vorläufige­s Fazit des Afghanista­n-Debakels?

Müller: Meine größte Anerkennun­g haben unsere Entwicklun­gspartner und Organisati­onen vor Ort, die sich diesen Aufgaben trotz größter Schwierigk­eiten und Gefahren in Afghanista­n und in den AnrainerSt­aaten stellen.

 ?? Foto: dpa ?? Entwicklun­gsminister Gerd Müller wehrt sich gegen Vorwürfe.
Foto: dpa Entwicklun­gsminister Gerd Müller wehrt sich gegen Vorwürfe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany