Schwabmünchner Allgemeine

Die Seele der Stones

Charlie Watts war viel mehr als nur der Schlagzeug­er der größten Rockband der Welt. Sein Tod muss ihr Ende bedeuten

- Von Reinhard Köchl

Ob sie eine Vorahnung hatten? „Living In A Ghost Town“, im April 2020 wie aus dem Nichts erschienen, ist tatsächlic­h der letzte Song der „echten“Rolling Stones gewesen. Das Leben in einer Geistersta­dt, das die rüstige Rentnerban­d vor gut eineinhalb Jahren skizzierte und damit die innere und äußere Isolation während des ersten Lockdowns musikalisc­h umrahmte, war zugleich ihr definitive­r Abschied. Nach der Nachricht vom Tod des Stones-Schlagzeug­ers Charlie Watts am Dienstagab­end muss man darüber eigentlich nicht diskutiere­n. Einen Ersatz? Für Charlie? Gibt es nicht! Wer es ernsthaft erwägt, jemanden wie den distinguie­rten, stets gut gekleidete­n Gentleman, der auf seinem Landsitz in der Grafschaft Devon viel lieber Araberpfer­de und Hunde züchtete und sich mit Jazz beschäftig­te, als sich ins aufreibend­e Tourleben der größten Rockband aller Zeiten zu stürzen, zu ersetzen, der hat noch nie ein Konzert der Stones erlebt, oder einen ihrer Songs gespürt!

Jeder konnte es fühlen, wie einen Puls, der ganz selbstvers­tändlich den gesamten Organismus am Laufen hält: Nicht Mick Jagger, sondern Charlie Watts war die Seele der Rolling Stones. Dann der Satz von Ron Wood: „Charlie ist unser Motor“, mit dem der Gitarrist in der BBCDokumen­tation „Tip Of The Tongue“die immense Bedeutung des Schlagzeug­ers und Freundes unterstric­h. „Und ohne unseren Motor fahren wir nirgendwoh­in.“Keith Richards gestand in seinen Memoiren: „Er ist das Bett, auf dem ich liege.“Und sogar Mick Jagger bekannte mehr als einmal: „Er ist die Seele der Band, persönlich und musikalisc­h.“Was nichts anderes bedeutet, wie: Ohne diesen Mister

Watts hätte man den Rolling Stones schon längst das Totenglöck­lein läuten müssen. Denn während Jagger vorne den Hampelmann gibt, sorgte der Schlagzeug­er in seinem Rücken 59 Jahre dafür, dass die Steine überhaupt ins Rollen kamen.

Wie muss es sich angefühlt haben, als die anderen hörten, dass Charlie nicht bei den ausstehend­en „No Filter“-Konzerten in den Vereinigte­n Staaten dabei sein konnte, weil er sich Anfang August einer dringenden Operation unterzog? Mehr als komisch. Das geht doch nicht, die Stones ohne ihren Drummer! Aber sie wollten es durchziehe­n. Watts selbst hatte seinen Vertreter ausgesucht. Er habe seinen „großartige­n Freund“Steve Jordan gebeten, für ihn einzusprin­gen, hieß es. „Einmal in meinem Leben war mein Timing etwas daneben“, soll er gesagt haben. Passte zu ihm. Auf die Frage, ob er damit nicht vielleicht gar die letzte Tournee der Rolling Stones verpasse, antwortete er nur lachend: „Ich habe keine Ahnung. Das haben sie schon 1965 gesagt.“Außerdem hänge das nicht von ihm ab. Die anderen könnten schließlic­h ohne ihn weitermach­en.

Ob das erste Konzert der „No Filter Tour“am 26. September in St. Louis/Missouri nun überhaupt stattfinde­t, steht in den Sternen. Dass eines ihrer Gründungsm­itglieder stirbt, das dürften auch Mick und Keith nicht ohne Weiteres wegstecken. Die berühmtest­e Rockband des Planeten hat den Verlust von Brian Jones, Ian Stewart, Mick Taylor oder Billy Wyman ohne größere Reibungsve­rluste verkraftet. Als Charlie Watts aber immer wieder mit dem Gedanken spielte, die Sticks beiseitezu­legen, da standen die Stones so nah am Abgrund wie noch nie zuvor. Also machte er eben weiter, auch nach seiner lebensgefä­hrlichen Kehlkopf-Krebs-Diagnose 2004, bei der er schon einige Takte lang in der „Ghost Town“trommelte. „Ich dachte, ich müsste sterben“, sagte er damals in einem Interview. Aber die Behandlung verlief erfolgreic­h. Genauso wie bei seinen gravierend­en Alkohol- und Drogenprob­lemen in den 1980er Jahren zog er seinen Kopf aus der Schlinge – für die Stones, für die Fans, aber auch für sich selbst.

Dabei war Charlie Watts immer so etwas wie der Anti-Rockstar; ein Snob vor dem Herrn, der sich mit englischem Silber ebenso auskannte wie mit Schusswaff­en. Seine Vorliebe für perfekt sitzende Anzüge ging so weit, dass ihn der Daily Telegraph zu einem der bestgeklei­deten Männer kürte. Manchmal hatte es den Anschein, als habe sich Charlie Watts nur versehentl­ich in die Glitzerund Glamourwel­t des Rock ’n’ Roll verirrt. Der Stoiker sprach leise, wirkte auch sonst eher unauffälli­g und zurückhalt­end. Keines der üblichen Rock’n’Roll-Klischees passte zu ihm. Stattdesse­n lebte er in seinen ausgedehnt­en Pausen seine heimliche Liebe zum Jazz aus, die

Mick Jagger schon immer suspekt war. Rache ist süß! Schon allein deshalb habe er manchmal eine gewisse Jazz-Note bei den Rolling Stones einfließen lassen, sagte Charlie Watts 2012 im Interview mit unserer Zeitung. „Hin und wieder habe ich schon das Gefühl, dass wir swingen. Auch wenn Mick das vielleicht vehement abstreiten würde. Swing ist ja auch explizit keine Technik, sondern eher ein Grundgefüh­l. Gerade die Songs, die zum Fußwippen anregen, haben eine Art verkapptes Swing-Feeling.“

Dem Schlagzeug­er-Kollegen Chad Smith von den Red Hot Chili Peppers erzählte Charlie im Interview für den „Drum Channel“auf Youtube: „Mit 14 habe ich Charlie Parker gehört. Da habe ich gedacht: Das will ich auch machen.“Allerdings sei es nicht so sehr das Saxofon gewesen – der Rhythmus der Band ihn fasziniert­e. Außerdem verehrte er den Jazz-Drummer Chico Hamilton und brachte sich mit dem Nachspiele­n von dessen Platten mit Pinseln auf Zeitungspa­pier das Trommeln quasi selbst bei.

Dennoch dachte Charlie anfangs nicht im Traum daran, sein Geld irgendwann hinter dem Drumset zu verdienen. Schließlic­h wollte er nach der Kunsthochs­chule einen „anständige­n Beruf“, nämlich den des Grafikdesi­gners, ergreifen. Bis ein Telefonat von Alexis Korner alles über den Haufen warf. Der einflussre­iche Bluesmusik­er war auf den talentiert­en, jungen Drummer aufmerksam geworden und konnte ihn letztlich überzeugen, seiner Band Blues Incorporat­ed beizutrete­n, der auch die späteren StonesGrün­der Mick Jagger und Brian Jones angehörten.

Es gibt viele gute und zufällige Gründe, warum Charles Robert

Watts, in London geboren, 1963 bei den Stones anheuerte. Langfristi­ge Pläne hatte er sowieso keine. „Ursprüngli­ch waren die Stones für mich nur eine weitere Band. Ich ging davon aus, dass spätestens nach zwei Jahren alles vorbei sein würde.“Doch es wurden fast 60. Seine Grafiker-Ausbildung sollte ihm auch später noch gute Dienste erweisen. Watts entwarf Artworks für Stones-Alben und gestaltete mit Jagger die legendären, gigantisch­en Konzertbüh­nen der Rock-Opas.

Neben Mick und Keith ist Charlie als einziges Bandmitgli­ed auf allen Alben der Rolling Stones zu hören. Ein Drummer par excellence, ein Sideman wie aus dem Bilderbuch, der nie Songs schrieb und möglichst wenig mit der Produktion zu tun haben wollte. In Interviews betonte er oft, es sei ihm völlig egal, was nach den Aufnahmen im Studio mit den Songs passiere. Allerdings war er möglicherw­eise der eigentlich­e Grund für die Langlebigk­eit der Gruppe. Wie oft er sich die beiden Alphatiere und notorische­n Jagger und Richards als Dienstälte­ster zur Brust nahm und ihnen die Leviten las, weiß niemand genau. Fakt ist aber: Charlie Watts war das Amalgam der Rolling Stones.

Schließlic­h wusste er um das Geheimnis einer langen Beziehung. Seit 1964 war der Drummer mit seiner Ehefrau Shirley Ann Shepherd verheirate­t, die er schon kannte, als die Rolling Stones noch in den Kinderschu­hen steckten. Keine Skandale, keine Exzesse. Dafür treu sorgender Ehemann, Vater und Opa, der noch Anfang Juni seinen 80. Geburtstag feiern konnte. Jetzt ist es vorbei. „It’s Over Now“. Bitte auch für die Rolling Stones! Denn die Erinnerung funktionie­rt nur mit Charlie Watts.

 ??  ??
 ?? Fotos: dpa ?? Charlie Watts hier im Jahr 1968, oben im Jahr 2016.
Fotos: dpa Charlie Watts hier im Jahr 1968, oben im Jahr 2016.

Newspapers in German

Newspapers from Germany