Schwabmünchner Allgemeine

„Musik kann zur gemeinsame­n Waffe werden“

Als Rock deutsch wurde, dazu gleich politisch: Rio Reiser, Ton Steine Scherben und die Frage nach den Erben

- VON REINHARD KÖCHL

Ton Steine Scherben – in der deutschen Kulturgesc­hichte gibt es nur wenige Formatione­n, bei denen Botschaft und Musik derart gleichbere­chtigt in einem stimmigen Konzept aufgingen wie bei ihnen. „Die Scherben“waren Pioniere im besten Wortsinn. Dank ihrer künstleris­chen Urgewalt und ihrem politische­n Sendungsbe­wusstsein avancierte­n sie in den frühen 1970er Jahren zur Hausband der Anarchos und Spontis in West-Berlin.

Ihre Texte schrien den jungen Leuten förmlich aus dem Herzen: „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen. Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen. Du bist nicht besser als der neben dir. Keiner hat das Recht, Menschen zu regier’n.“Und im Refrain hieß es: „In jeder Stadt und in jedem Land heißt die Parole von unserem Kampf: Keine Macht für niemand!“Das saß und traf genau den Nerv jener Zeit, in der sich die Generation­en scheinbar unversöhnl­ich gegenübers­tanden. Für die einen war die in einem Haus in Berlin-Kreuzberg lebende Band ein Haufen gefährlich­er Radikaler und geistiger Brandstift­er, andere hoben sie auf einen Sockel und feierten ihre schonungsl­ose Abrechnung mit dem Kapitalism­us.

Gesicht der Scherben galt ein schmächtig­er Junge mit langen braunen Haaren, dem noch weit vor Udo Lindenberg etwas gelingen sollte, das bis dato niemand für möglich gehalten hatte: zu angloameri­kanischem Rock deutsche Texte zu singen: Rio Reiser, mit bürgerlich­em Namen Ralph Möbius. Die Texte waren in einer Sprache gehalten, die Studenten und Arbeiter problemlos verstehen konnten: „Hau ab“oder „Allein machen sie dich ein“. Alles war geprägt von persönlich­en Erfahrunge­n, von erlebter Unterdrück­ung und eigener Frustratio­n. Rio sang, was er fühlte; Liebeslied­er, die nie peinlich klangen, und Politsongs, die nur deshalb glaubhaft rüberkamen, weil er seine ganze Persönlich­keit mit in die Waagschale warf. So wurden die Songs der Scherben zum Soundtrack zur Revolte: lange Haare, Drogen, Hausbesetz­ungen, Demos.

2021 ist in mehrerlei Hinsicht ein Jahr, in dem es lohnt, sich wieder an Ton Steine Scherben zu erinnern. Die verblieben­en Bandmitgli­eder feierten im Juni mit einem OpenAir-Konzert auf einem Schiff am Spreeufer ihr 50-jähriges Bestehen, und nachträgli­ch noch den 70. Geburtstag ihres Aushängesc­hildes Rio Reiser. Dessen Todestag wiederum jährte sich in der vergangene­n Woche (22. August) zum 25. Mal. Der Berliner Senat beschloss deshalb, Reisers letzte Ruhestätte auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg für zunächst 20 Jahre als Ehrengrabs­tätte des Landes Berlin anzuerkenn­en. Das Gezerre um die heftig umstritten­e Umbenennun­g des Kreuzberge­r Heinrichpl­atzes in „Rio-Reiser-Platz“scheint tatsächlic­h bis zum Jahresende ein versöhnlic­hes Ende zu finden.

Parallel dazu hat Misha Schoeneber­g, Tourmanage­r und LebensgeAl­s fährte von Rio Reiser, einen Roman über die schönen, wilden gemeinsame­n Zeiten veröffentl­icht, Titel „Als wir das Wunder waren – Ein Rock’n’Roll-Märchen erzählt in zehn und einer Nacht“(Jaron-Verlag, 512 S., 18¤). Und von den Scherben gibt es seit kurzem eine brillante Doppel-CD mit den stärksten Songs. Ihr programmat­isches Motto: „50 Jahre“(David Volksmund/Indigo). 36 Stücke voller Kraft und textlicher Spannbreit­e, vom ruppigen Politsong bis zum ambivalent­en Liebeslied, von geballter Wut bis zu verdreht surrealen Wortbilder­n, von knalligem Punk bis zu Reggae-Latin-Flow. Darauf finden sich vier unveröffen­tlichte Titel: die Urfassung von Rio Reisers „Junimond“, eine Demoversio­n von „(Auf ein) Happy End“sowie die Rockpalast-Versionen von „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“und „Sklavenhän­dler“.

Angesichts der Erinnerung­swelle im „Scherben“-Jahr fragt sich natürlich auch: Gibt es heute noch so etwas wie politische­n Rock oder gar politische­n Pop? Kann er nach wie vor ein Vehikel sein, um wenigstens einen Teil der Welt zu verändern? Und wo suchen die Interprete­n heute Beifall? Weiterhin in der linken Ecke? Zunehmend vielleicht auch bei den Rechten?

Immerhin schätzen die Soziologen Christian Dornbusch und Jan Raabe, dass zwischen der deutschen Wiedervere­inigung 1990 und 2006 annähernd 400 deutsche Bands über 1200 Rechtsrock-Platten herausgebr­acht haben. Böse Menschen haben eben doch Lieder. Indirekt folgen sie damit sogar einem Manifest von Ton Steine Scherben, veröffentl­icht 1970 in der Westberlin­er Untergrund­zeitung Agit 883: „Musik kann zur gemeinsame­n Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst! Ein Lied hat Schlagkraf­t, wenn es viele Leute singen können.“

In den 1980er Jahren kam der Punk, auch Lindenberg und BAP agierten bisweilen politisch, bis der Rap bis zur Jahrtausen­dwende die Funktion des Mahners übernahm. Doch der „Rap von der Straße“, der Themen wie Drogen, Armut und Prostituti­on in den Vordergrun­d stellte, verlor rasch seine politische Dimension. An seine Stelle sind inzwischen Künstler wie Max Herre („Dunkles Kapitel“), AnnenMayKa­ntereit („Weiße Wand“), Kummer („Schiff“) oder Danger Dan („Das ist alles von der Kunstfreih­eit gedeckt“) getreten. Das heiter-sarkastisc­he und irgendwie zeitlose Flair, das Rio Reiser einst verströmte, ist dagegen völlig verschwund­en.

 ?? Fotos: Rita Kohmann, Fotostudio Browse ?? In ihrer Kreativ‰WG am Tempelhofe­r Ufer entstanden 1971 bei Rio Reiser und Co. die Ideen für zahlreiche Songs.
Fotos: Rita Kohmann, Fotostudio Browse In ihrer Kreativ‰WG am Tempelhofe­r Ufer entstanden 1971 bei Rio Reiser und Co. die Ideen für zahlreiche Songs.

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