Die Politik setzt die AfghanistanTragödie fort
Kanzlerin Merkel hält eine Regierungserklärung, Parlamentspräsident Schäuble bringt das Leid auf den Punkt: „Es zerreißt einem das Herz.“Doch am Mittwochabend gibt es auch gute Nachrichten
Berlin Die dunklen Bilder aus Afghanistan dringen bis in das lichtdurchflutete Reichstagsgebäude. Unter der gläsernen Kuppel sind an diesem Mittwoch die Abgeordneten zu einer Sondersitzung des Bundestages zusammengekommen. Während draußen die Sonne scheint, geht es drinnen um Katastrophen. Um das Juli-Hochwasser im Westen Deutschlands, um die Corona-Pandemie, aber zuallererst geht es um die Lage in Afghanistan. Angehörige sämtlicher Parteien drücken ihr Mitgefühl mit den Menschen aus, die von den Taliban geradezu erdrückt werden. Trotz des Wahlkampfes halten sich die Abgeordneten mit übertriebenen Angriffen auf den jeweiligen politischen Gegner zurück, der Ton bleibt der Lage angemessen. Eine Sternstunde des Parlaments erleben die Beobachterinnen und Beobachter vor Ort allerdings nicht.
Es ist zunächst an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die brutale Lage in Kabul mit wohldurchdachten Worten zusammenzufassen. Wofür andere Rednerinnen und Redner nach ihm viele Sätze brauchen und trotzdem scheitern, reichen dem erfahrenen CDU-Politiker wenige Worte. „Die Verzweiflung der Menschen am Flughafen in Kabul zerreißt einem das Herz“, sagt Schäuble. „Es ist eine Tragödie für die Afghanen, die nun um ihr Leben fürchten – unter ihnen Frauen und Mädchen, die lernen durften, selbstbestimmt und selbstbewusst zu leben.“
Schäuble erinnert die vor ihm sitzenden Abgeordneten an ihre „moralische Verpflichtung“und mahnt: „Wir dürfen die Menschen nicht im Stich lassen!“Deutschland und seine Verbündeten seien mit ihrem Einsatz gescheitert und müssten jetzt zeigen, „dass wir immerhin der Niederlage gewachsen sind“. Genau das hätte die Klammer dieser Sondersitzung zu Afghanistan sein können. Doch das Parlament bleibt seltsam unbeweglich.
Kanzlerin Angela Merkel spricht erneut von „furchtbaren menschlichen Dramen“, die sich in Kabul abspielten. „Die Entwicklungen der letzten Tage sind furchtbar, sie sind bitter. Für viele Menschen in Afghanistan sind sie eine einzige Tragödie“,
bekräftigt die CDU-Politikerin. Sie erinnert an einen ehemaligen Leibwächter, der 2007 beim Afghanistan-Einsatz ums Leben kam, und gedenkt aller 59 Deutschen, die bei dem Versuch getötet wurden, die Sicherheit des Landes am Hindukusch zu verteidigen.
Warum die Rettung der afghanischen Ortskräfte nicht früher einsetzte? Die promovierte Physikerin Merkel sieht hier ein „Dilemma bei Entscheidungen dieser Art“. Hätte die Regierung nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die vielen Helferinnen und Helfer vor Ort abgezogen, wäre das einerseits sicherlich als vorausschauend gewertet worden, sagt sie. Anderseits wäre der Vorwurf laut geworden, man lasse die Afghanen und zahlreiche Projekte der Entwicklungszusammenarbeit im Stich.
Hinterher, macht Merkel in ihrer Schlussfolgerung deutlich, sei man eben immer schlauer. Niemand habe vorausahnen können, wie schnell die afghanische Regierung aufgeben und den Taliban weichen würde. Niemand habe gewusst, wie sich die USA verhalten, sagt die Regierungschefin.
Es sind Sätze wie diese, die Linkenfraktionschef Dietmar Bartsch später erneut zu der Einschätzung gelangen lassen, der AfghanistanEinsatz sei „der schwärzeste Punkt“in Merkels Amtszeit. GrünenKanzlerkandidatin Annalena Baerbock fordert einen internationalen
Afghanistan-Gipfel mit allen NatoMitgliedern und Anrainerstaaten.
Erst später kommt die Nachricht auf, dass die Gespräche des deutschen Diplomaten Markus Potzel in Katar mit Taliban-Vertretern über die Evakuierung von Menschen offenbar
Offenbar 100 Millionen Euro für Afghanistan
erfolgreich sind. Am Mittwoch twitterte er, die neuen Machthaber in Kabul hätten zugesagt, Afghanen auch nach dem 31. August mit zivilen Maschinen ausreisen zu lassen. Die Taliban bestätigten das in einer Mitteilung. Neben der Ausreisefrage ging es in den Gesprächen auch um Hilfszahlungen. Potzel bekräftigte nach eigenen Angaben die Zusage von 100 Millionen Euro humanitärer Soforthilfe für notleidende Menschen in Afghanistan. Eine Fortsetzung der Entwicklungshilfe schloss er nicht aus. „Die Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit wird von Bedingungen abhängen, so wie das auch mit der afghanischen Regierung in der Vergangenheit der Fall war.“