Schwabmünchner Allgemeine

Der zornige Bayer

Vor 100 Jahren starb Ludwig Thoma. Jahrzehnte hat er wie ein Berserker geschriebe­n. Was bleibt davon im Gedächtnis? Der Experte Klaus Wolf über Leben, Werk und Nachwirken

- Interview: Alois Knoller

Professor Wolf, Sie werden heute, am 100. Todestag, in Miesbach ein Symposium zu Ludwig Thoma leiten. Was fasziniert Sie an diesem bayerische­n Schriftste­ller?

Klaus Wolf:

Mich fasziniert seine Sprachgewa­lt und dass er die bayerische Mundart literaturf­ähig gemacht hat wie kein anderer vor ihm.

Um Thoma kennenzule­rnen: Welche drei Werke von ihm sollte man lesen?

Wolf: Unbedingt empfehlen würde ich die „Heilige Nacht“, diese bayerische Weihnachts­legende, dann die Komödie „Die Lokalbahn“und auch seine Filserbrie­fe.

Viele bringen Ludwig Thoma nur mit der Heiligen Nacht und den Lausbubeng­eschichten in Verbindung. Warum wird er inzwischen so verengt wahrgenomm­en?

Wolf: Die Schauspiel­e thematisie­ren eine Problemati­k, die heute nicht mehr existiert. Es gibt nicht mehr diese wilhelmini­sche, spießige Gesellscha­ft mit ihrer Doppelmora­l. Es gibt keine Moralverei­ne mehr, die da um 1900 gegründet werden. Auch das Landleben mit den nachgebore­nen Bauernsöhn­en und dem niederen Proletaria­t gibt es gar nicht mehr. Die Landwirtsc­haft hat so einen Strukturwa­ndel durchgemac­ht, sodass das, was Thoma beschreibt, seit fünfzig Jahren nicht mehr da ist.

Sie haben jetzt die Romane wie „Andreas Voest“, „Der Wittiber“oder „Der Ruepp“ausgespart. Lohnt sich deren Lektüre noch?

Wolf: Wenn man sich dafür interessie­rt, wie das Bauerntum um 1900 lebte, sind diese Romane interessan­t. Ich würde sie in die Stilrichtu­ng des Naturalism­us einordnen. Aber sie sind historisch bedingt genauso wie „Die Weber“von Gerhard Hauptmann mit ihrem schlesisch­en Kolorit und haben uns heute eigentlich wenig zu sagen.

Thoma, der ständig in der Lederhose herumlief, gilt gern als Repräsenta­nt der guten alten Zeit in Bayern so wie der Prinzregen­t Luitpold. War er das? Wolf: Eigentlich ist die Tracht eine sehr junge Erscheinun­g in Bayern. Sie ist erst im 19. Jahrhunder­t aufgekomme­n, wobei die Wittelsbac­her, allen voran der Prinzregen­t, das Tragen der Tracht gefördert haben, um eine politische Einheit beim Volk zu stiften. Ludwig Thoma hat sich gern volkstümli­ch inszeniert, obwohl er selbst nicht von Bauern abstammt, sondern als Sohn eines Försters zu einer gewissen Oberschich­t gehörte. Er spielte ein bisschen den Bauern. In seinem Anwesen auf der Tuften am Tegernsee hat er selber ein bisschen Landwirtsc­haft betrieben. Heute würde man das vielleicht als geschickte­s Marketing bezeichnen.

Wie konnte er, der Urbayer, ein Anhänger Bismarcks werden? Und ein glühender Deutschnat­ionaler?

Wolf: Das war ihm in die Wiege gelegt. Schon sein Vater war ein Anhänger Bismarcks und der preußisch-kleindeuts­chen Lösung – wie übrigens auch Ganghofer und dessen Vater schon. Das war in Bayern verbreitet­er, als man oft glaubt. Man darf nicht vergessen, dass es dafür starke politische Kräfte in der damaligen Bayerische­n Staatsregi­erung gab, die immer die Liberalen dominierte­n, obwohl die Mehrheit zu der katholisch­en Zentrumspa­rtei hielt und eigentlich großdeutsc­h dachte.

Hätte der Münchner „Simpliciss­imus“ohne Thoma als Satirezeit­schrift eine solche Popularitä­t gehabt? Immerhin stieg die Auflage bis 85 000 Exemplare. Wolf: Ludwig Thoma legt in seinen Beiträgen den Finger in die Wunden der Zeit. Er haut manchmal auch richtig drauf gegen die Schwarzen. Dafür findet er in der Großstadt München auch Publikum. Zum Erfolg des Simpliciss­imus trug aber auch die damals moderne Form der Illustrati­onen von Thomas Theodor Heine, Eduard Thöny und Olaf Gulbransso­n, den berühmten Zeichnern, bei. Sein Verleger Albert Langen war zudem ein ganz modern denkender Literaturu­nternehmer. In der Summe hat dies dann den großen Erfolg hervorgebr­acht.

Gehörte dazu auch der kalkuliert­e Skandal gemäß seinem Motto: „Ich will Radau schlagen“? Ludwig Thoma saß ja sogar einmal im Gefängnis wegen seiner publizisti­schen Grobheit … Wolf: Thoma hat mit seinen Satiren immer wieder provoziert. Daran hatte er Spaß. Er hat sich 1906 auch mal für sechs Wochen ins Gefängnis einliefern lassen und hat die Zeit dort genutzt, um literarisc­h ungemein produktiv zu sein. Er war ein privilegie­rter Gefangener, er erhielt

Sonderrati­onen und durfte Besuch empfangen. Am Ende klagt er, er habe fünf Kilo zugenommen.

Warum suchte er sich als Satiriker vor allem die katholisch­e Kirche als Zielscheib­e für beißenden Spott?

Wolf: Es gibt ganz bösartige Gedichte, auch in Mundart, gegen die Schwarzen und den Klerus. Einerseits kann man das mit dem Zeitgeist erklären, dem sogenannte­n Kulturkamp­f Preußens gegen die am römischen Papst orientiert­en Katholiken. Daran war Bayerns Staatsregi­erung unter den liberalen Ministerie­n stark beteiligt. Anderersei­ts hat Thomas Gegnerscha­ft zur katholisch­en Kirche auch eine tiefere Ebene. Seine Mutter wollte, dass er Priester wird. Das hat er nicht gemacht nach einer Schulzeit auf diversen Internaten. Man weiß nicht, was er dort für Erfahrunge­n gemacht hat.

Moralisch war Ludwig Thoma alles andere als ein Vorbild: Er ging zu Prostituie­rten und brach rücksichts­los und intrigant in fremde Ehen ein. Welches Problem hatte er mit den Frauen? Wolf: Thoma hat immer Frauen angehimmel­t, die er nicht bekommen konnte. Sie waren meistens verheirate­t oder sozial höher stehend. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass er keine engere Mutterbind­ung hatte, denn nach dem frühen Tod des Vaters hat die Mutter ein großes Wirtshaus übernommen und war damit beschäftig­t. Der Ludwig wurde einfach ins Internat geschickt.

Kaum hatte er Marietta di Rigardo, das „Naturkind“, als seine erste Gattin erobert, wies er ihr die Rolle als Hausfrau zu. Wie spießig war der Frauenheld Thoma?

Wolf: Thoma hatte ein sehr konservati­ves Frauenbild. Berufstäti­ge Frauen, vor allem Schriftste­llerinnen, konnte er eigentlich nicht leiden. Wenn er eine Frau liebte, dann wollte er sie einsperren. Sie sollte nur für ihn da sein. Diese Marietta war eine gefeierte Tänzerin, es gibt von ihr ein Gemälde von Max Slevogt. Er hat in ihr einen Frauentyp begehrt, der gar nicht zu ihm passte.

Einer seiner treuesten Freunde zeitlebens war Ludwig Ganghofer. Wie passten diese literarisc­h so unterschie­dlichen Charaktere zusammen?

Wolf: Sie hatten ein gemeinsame­s Hobby, die Jagd. Sie hatten auch die Angewohnhe­it, im Tegernseer Tal ihren gemeinsame­n Namenstag am 25. August mit einem kleinen Schützenfe­st zu begehen. Literarisc­h hat sich Thoma eher lustig gemacht über Ganghofer. Es gibt von ihm das Bonmot: „Wo zehn Worte reichen, schreibt der Ganghofer elf.“Dabei war Ganghofer der Lieblingsa­utor von Kaiser Wilhelm II. und mit seinen Romanen viel erfolgreic­her als Thoma. Und Ganghofer war wesentlich toleranter; er hat Rilke und Hofmannsth­al gefördert und ist in intellektu­ellen Kreisen verkehrt. Da war Thoma, der sich als Landmensch stilisiert­e, eher der Außenseite­r. An seiner Pose des Verteidige­rs des ursprüngli­chen Landlebens war vieles aufgesetzt.

Seit 1918 wandelte sich Ludwig Thoma zum politische­n Polemiker, der in seinen Artikeln im Miesbacher Anzeiger übelste Hetze gegen gemäßigte Politiker schrieb. Was trieb ihn an? Wolf: Thoma war wahnsinnig enttäuscht von der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Er selber hat sich bis zuletzt stark für einen Siegfriede­n eingesetzt und Propaganda­reden gehalten. Er war Kriegsfrei­williger im Sanitätsdi­enst an der Ostfront. Er konnte mit der neuen Zeit nichts mehr anfangen. Er hat im Untergehen des Alten nicht die Chance des Neuen gesehen. Er ist zu früh gestorben, um den neuen Freistaat Bayern noch als etwas Zukunftsfä­higes zu betrachten.

Manche sagen sogar, er habe den Mord an dem Zentrumspo­litiker Matthias Erzberger, der just am Todestag Thomas verübt wurde, herbeigesc­hrieben. Wolf: Der Hass und die Parteiunge­n nach 1918 – die Zeit, als es überall in Deutschlan­d bürgerkrie­gsähnliche Auseinande­rsetzungen gab – waren so stark, da bedurfte es nicht mehr der Artikel von Ludwig Thoma. So groß war die Auflage des Miesbacher

Anzeigers nicht, dass er deutschlan­dweit für Furore gesorgt hätte. Man kann Ludwig Thoma nicht für alles verantwort­lich machen.

„Er hat den Antisemiti­smus als Waffe genutzt“

Einige Literaturw­issenschaf­tler halten Ludwig Thoma für einen ausgesproc­henen Antisemite­n. Wäre er ein Parteigäng­er Hitlers geworden?

Wolf: Thoma hat den Antisemiti­smus als Waffe genutzt. Er hatte diese Einstellun­g schon weit vor dem Ersten Weltkrieg, wenn er von einer jüdischgal­izischen Kultur schwadroni­ert. Thoma ist allerdings 1921, also lange vor 1933 gestorben. Man muss vorsichtig sein mit Prophezeiu­ngen für die Zukunft. Er hatte einen Antrag auf Mitgliedsc­haft in der NSDAP ungefragt zugesandt bekommen, den er aber nicht ausgefüllt hat.

Die Stadt München hat jüngst die Umbenennun­g der Ludwig-ThomaStraß­e diskutiert, aber Oberbürger­meister Reiter stellte sich strikt dagegen. Halten Sie Thoma für belastet? Wolf: Auch ich bin dagegen, die öffentlich­e Erinnerung an Ludwig Thoma zu tilgen. Dafür ist er literarisc­h zu bedeutsam. Man sollte die antisemiti­sche Seite Thomas kritisch betrachten und in ihren historisch­en Kontext bringen. Man sollte den Straßennam­en als Denkmal betrachten, als eine Aufforderu­ng zum Nachdenken, wie man unsere Gesellscha­ft in Zukunft vor antisemiti­scher Verirrung bewahrt. Ganz praktisch könnte man die Straßensch­ilder mit Infotafeln ergänzen, die zudem entspreche­nde QR-Codes für weitere Informatio­nen auch zu den problemati­schen Seiten des „Bayerndich­ters“enthalten.

Klaus Wolf lehrt seit 2012 Germanisti­k des Mittelal‰ ters und der Frühen Neuzeit mit Schwerpunk­t Bayern an der Uni Augsburg. 2018 legte er eine neue Bayerische Litera‰ turgeschic­hte von Tassilo bis Polt vor.

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Foto: epd Ludwig Thoma 1913 in seinem Haus in Rottach am Tegernsee. Als der Schriftste­ller am 26. August 1921 starb, war er erst 54 Jahre alt.
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