Jack London: Der Seewolf (4)
UDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg
nd wem habe ich für all diese Herrlichkeit zu danken?“fragte ich, als ich voll ausstaffiert dastand, eine winzige Knabenmütze auf dem Kopf und als Rock eine schmutzige gestreifte Baumwolljacke, die mir gerade bis ans Kreuz ging, und deren Ärmel mir bis zu den Ellbogen reichten.
Der Koch richtete sich in seiner kriecherischen Art auf, und sein geziertes Lächeln schien um Entschuldigung zu bitten. Nach den Erfahrungen, die ich auf Ozeanschiffen gegen Ende der Reise mit Stewards gemacht hatte, hätte ich darauf schwören mögen, daß er auf Trinkgeld wartete. Aber ich erkannte später, daß seine Haltung ganz unbewußt war: zweifellos ererbte Unterwürfigkeit.
„Mugridge, Herr“, sagte er kriecherisch, und über sein weibisches Gesicht legte sich ein fettiges Lächeln.
„Thomas Mugridge, Herr, zu Diensten.“
„Schön, Thomas“, sagte ich. „Ich
werde dich nicht vergessen, wenn meine Kleider wieder trocken sind.“
Ein sanfter Schimmer überzog sein Gesicht, und seine Augen leuchteten, als wären in der Tiefe seines Wesens seine Vorfahren lebendig geworden mit der dunklen Erinnerung an die Trinkgelder im vergangenen Leben.
„Danke, Herr“, sagte er wirklich sehr dankbar und demütig.
Genau wie eine Schiebetür glitt er beiseite, und ich trat aufs Deck. Ich war noch schwach von dem langen Aufenthalt im Wasser. Ein Windstoß packte mich, und ich wankte über das schlingernde Deck, einer Ecke der Kajüte zu, an der ich mich festhielt. Der Schoner krengte stark, hob und senkte sich in der langen Dünung des Ozeans. Wenn der Schoner, wie Johnson gesagt hatte, nach Südwest segelte, mußte der Wind meiner Berechnung nach fast genau von Süden her kommen. Der Nebel hatte sich verzogen, und jetzt spielten die Sonnenstrahlen auf dem Meeresspiegel. Ich wandte mich nach Osten, wo, wie ich wußte, Kalifornien liegen mußte, konnte aber nichts sehen als niedrige Nebelbänke – zweifellos derselbe Nebel, der das Unglück der ,Martinez‘ und meine jetzige Lage verschuldet hatte. Nach Norden, nicht weit fort, war eine Gruppe nackter Felsen über die See gestreut, und auf einem davon sah ich einen Leuchtturm. Nach Südwesten, fast genau in unserm Kurs, erblickte ich den pyramidenförmigen, noch dunklen Umriß eines Segels. Als ich meine Umschau am Horizont beendet hatte, wandte ich mich meiner näheren Umgebung zu. Mein erster Gedanke war, daß ein Mensch, der einen Schiffbruch überlebt und Auge in Auge mit dem Tode gestanden hatte, eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als mir zuteil wurde. Außer einem Matrosen am Rad, der neugierig nach der Kajütenecke guckte, schenkte mir niemand irgendwelche Beachtung. Jedermann schien sich nur für das zu interessieren, was mittschiffs vorging. Dort lag ein großer Mann auf einem Lukendeckel. Er war ganz angekleidet, sein Hemd jedoch aufgerissen. Von seiner Brust war nichts zu sehen, denn sie war so von schwarzen Haaren bedeckt, daß es wie der Pelz eines Hundes aussah. Gesicht und Hals waren unter dem schwarzen, graumelierten Bart verborgen, der sonst struppig sein mochte, jetzt aber von Wasser troff; seine Augen waren geschlossen. Er schien bewußtlos zu sein, aber der Mund stand weit offen, und die Brust keuchte, als ob er am Ersticken war und heftig nach Atem rang. Ein Matrose, der daneben stand, hatte eine Segeltuchpütze an einer Leine festgemacht, ließ sie von Zeit zu Zeit ganz gewohnheitsmäßig ins Meer hinab, holte sie wieder herauf und goß den Inhalt über den Liegenden. Auf und nieder an Deck schritt ein anderer Mann und kaute wütend auf seinem Zigarrenstummel. Es war der, dessen zufälliger Blick mich vor dem Ertrinken bewahrt hatte. Er mochte wohl fünf Fuß und zehn oder zehneinhalb Zoll messen, aber mein erster Eindruck von ihm, oder vielmehr mein Gefühl, war nicht das der Größe, sondern der Stärke. Dabei konnte ich ihn jedoch, obgleich er gedrungen und breitschultrig war und eine mächtige Brust hatte, nicht ungewöhnlich schwer nennen. Er hatte etwas von der sehnigen, knorrigen Kraft magerer starker Menschen, sein Körperbau aber ließ an einen Gorilla denken. Nicht daß er in seinem Aussehen etwas Gorillaartiges gehabt hätte. Was ich auszudrücken suche, ist die Stärke selbst als etwas für sich, ganz abgesehen von ihrer körperlichen Erscheinung. Es war eine Stärke, wie wir sie gewohnt sind, in Gedanken mit primitiven Dingen, mit wilden Tieren, mit Geschöpfen zu verbinden, die wir uns in der Phantasie als unsere baumbewohnenden Vorfahren denken – die wilde, reißende, lebendige Stärke an sich, die letzte Essenz des Lebens, die Potenz der Bewegung, der Grundstoff selbst, aus dem die wilden Lebensformen gestaltet wurden.
Das war mein Eindruck von der Stärke dieses Mannes, der an Deck auf und nieder schritt. Fest stand er auf den Beinen, jede Muskelbewegung, ob er die Schultern hob oder die Lippen um die Zigarre preßte, zeugte von Entschlossenheit und schien ihren Ursprung in einer riesenhaften und überwältigenden Kraft zu haben. In der Tat: Obwohl diese Stärke jede seiner Bewegungen durchdrang, schien es mir, als wäre sie nur der Ausdruck einer noch größeren Stärke, die in seinem Innern schlummerte, die aber jeden Augenblick erwachen konnte, schrecklich und unwiderstehlich wie das Wüten des Löwen oder der Zorn des Sturmes.
Der Koch steckte den Kopf zur Kombüsentür heraus und grinste mir ermutigend zu, gleichzeitig wies er mit dem Daumen nach dem Manne, der an der Luke auf und nieder schritt. So gab er mir zu verstehen, daß dies der Kapitän war, der ,Alte‘, wie der Koch sagte, die Persönlichkeit, die ich bemühen mußte, daß sie mich an Land setzte. Ich war gerade im Begriff, zu ihm zu gehen, um gleich die sicher unangenehme Geschichte überstanden zu haben, als der Unglückliche, der auf dem Lukendeckel lag, einen noch stärkeren Erstickungsanfall bekam. Krampfartig verrenkte er sich. Das Kinn mit dem nassen schwarzen Bart streckte sich in die Luft, während die Rückenmuskeln steif wurden und die Brust mit einer instinktiven, unbewußten Anstrengung nach Luft rang.
Der Kapitän oder Wolf Larsen, wie die Leute ihn nannten, hielt auf seinem Wege inne und blickte auf den Sterbenden hinab. So furchtbar war dieser letzte Kampf, daß der Matrose die Segeltuchpütze sinken ließ und den Inhalt auf das Deck verschüttete. Der Sterbende trommelte mit den Fersen auf dem Lukendeckel, streckte die Beine aus, erstarrte in einer einzigen mächtigen Anstrengung und rollte den Kopf von einer Seite zur andern. Dann wurden die Muskeln schlaff, der Kopf still, und ein Seufzer, ein Seufzer tiefster Erleichterung entfloh seinen Lippen. Das Kinn fiel herab, die Oberlippe hob sich, und zwei Reihen tabakgebräunter Zähne wurde sichtbar.
»5. Fortsetzung folgt